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Der Graf von Monte Christo

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In den sechs Jahren, die er ungefähr in diesem Kerker eingeschlossen war . . . welche Arbeit hätte er nicht, so langsam sie auch vor sich ging, vollendet!

Dieser Gedanke verlieh ihm neuen Eifer.

In drei Tagen gelang es ihm, mit unerhörter Vorsicht alles Cement wegzubringen und den Stein nackt zu legen. Die Wand war von Bruchsteinen gemacht, unter die man, um ihr mehr Festigkeit zu geben, von Zeit zu Zeit einen behauenen Stein eingefügt hatte. Es war gerade einer von den behauenen Steinen, woran er gearbeitet hatte, und es handelte sich nun darum, ihn in seinem Lager zu erschüttern.

Dantes versuchte es mit seinen Nägeln, aber seine Nägel waren hierfür ungenügend. Die Scherben von dem Kruge, wenn man sie in die Zwischenräume einschob, zerbrachen, sobald sich Dantes denselben als Hebel bedienen wollte.

Nach einer Stunde fruchtloser Versuche erhob sich Dantes, Angstschweiß auf der Stirne.

Sollte er schon am Anfange seiner Arbeit gehemmt werden und mußte er träge und unnütz warten, bis sein Nachbar, welcher ebenfalls müde werden konnte, Alles getan hatte?

Ein Gedanke durchzog seinen Geist. Er blieb lächelnd stille stehen, seine von Schweiß feuchte Stirne trocknete sich ganz allein.

Der Gefangenenwärter brachte die Suppe von Dantes jeden Tag in einer blechernen Casserole. Diese Casserole enthielt eine Suppe und die eines zweiten Gefangenen, denn Dantes hatte bemerkt, daß dieselbe entweder ganz voll oder halb leer war, je nachdem der Schließer die Verteilung der Lebensmittel bei ihm oder bei seinem Gefährten anfing.

Diese Casserole hatte einen eisernen Stiel. Nach diesem Stiele trachtete Dantes, er hätte ihn, wenn man es von ihm gefordert haben würde, mit zehn Jahren feines Lebens bezahlt.

Der Gefangenenwärter goß den Inhalt der Casserole auf den Teller von Dantes. Nachdem er seine Suppe mit einem hölzernen Löffel gegessen hatte, wusch Dantes den Teller, der ihm zu täglichem Gebrauche diente.

Um Abend stellte Dantes seinen Teller auf halbem Wege zwischen der Thüre und dem Tische auf den Boden. Als der Gefangenenwärter eintrat, setzte er den Fuß auf den Teller und zerbrach ihn in taufend Stücke.

Diesmal war nichts gegen Dantes zu sagen. Er hatte Unrecht, seinen Teller auf dem Boden zu lassen; aber von dem Gefangenenwärter war es unvorsichtig gewesen, nicht vor seine Füße zu schauen.

Der Gefangenenwärter begnügte sich zu brummen.

Dann schaute er um sich herum einen Gegenstand zu suchen, in welchen er die Suppe gießen könnte; das Mobiliar von Dantes beschränkte sich auf diesen einzigen Teller, und es gab keine Wahl.

»Laffen Sie die Casserole hier,« sagte Dantes, »Sie können sie wieder mitnehmen, wenn Sie mir morgen mein Frühstück bringen.«

Dieser Rath schmeichelte der Trägheit des Gefangenenwärters. Er hatte nicht nötig, hinaufzusteigen, wieder herabzusteigen und abermals hinaufzusteigen.

Er ließ die Casserole zurück.

Dantes bebte vor Freude.

Diesmal verschlang er rasch seine Suppe und das Fleisch, das nach der Gewohnheit der Gefängnisse in der Suppe lag. Nachdem er eine Stunde gewartet hatte, um sicher zu sein, der Gefangenenwärter würde nicht andern Sinnes werden, rückte er sein Bett auf die Seite, nahm seine Casserole, schob den Stiel zwischen den bloß gelegten behauenen Stein und die benachbarten Bruchsteine, und fing an sich desselben als eines Hebels zu bedienen.

Eine leichte Bewegung bewies Dantes! daß die Arbeit von Statten ging.

Nach Verlauf einer Stunde war wirklich der Stein aus der Mauer gezogen, in welcher er eine Aushöhlung von mehr als anderthalb Fuß im Durchmesser ließ.

Dantes sammelte sorgfältig allen Gyps, trug ihn in die Ecken seines Gefängnisses, kratzte die gräuliche Erde mit einem von den Bruchstücken seines Kruges auf und bedeckte den Gyps wieder mit Erde.

Da er diese Nacht benützen wollte, in der ihm der Zufall oder vielmehr die geistreiche Combination, die er ersonnen, ein so kostbares Werkzeug in die Hände gab, so fuhr er mit aller Anstrengung zu graben fort.

Bei Tagesanbruch setzte er den Stein wieder in sein Loch, stieß sein Bett an die Wand und legte sich nieder.

Sein Frühstück bestand aus einem Stücke Brot.

Der Gefangenenwärter trat ein, und legte das Stück Brot auf den Tisch.

»Wie, Sie bringen mir keinen andern Teller?« fragte Dantes.

»Nein,« sagte der Schließer. »bei Ihnen wird Alles zerbrochen. Sie haben den Krug zertrümmert, und sind Schuld, daß ich Ihren Teller in Stücke trat. Wenn alle Gefangenen so viel Schaden anrichten würden, so könnte es die Regierung nicht mehr bezahlen. Man läßt Ihnen Ihre Casserole, man gießt die Suppe hinein; auf diese Art werden Sie das Geschirr vielleicht nicht mehr zerbrechen.«

Dantes schlug die Augen zum Himmel auf und faltete feine Hände auf dem Bette.

Dieses Stück Eisen, welches ihm nun blieb, erzeugte in seinem Herzen einen Aufschwung von Dankbarkeit, wie ihn in seinem früheren Leben die größten Güter, welche ihm zugeflossen waren, nie veranlaßt hatten. Nur war es ihm nicht entgangen, daß, seitdem er zu arbeiten begonnen, der andere Gefangene nicht mehr arbeitete.

Gleichviel, das war kein Grund, zurückzuweichen. Kam sein Nachbar nicht zu ihm, so würde er zu seinem Nachbar gehen.

Er arbeitete den ganzen Tag ohne Unterlaß. Am Abend hatte er mit Hilfe seines neuen Werkzeuges mehr als zehn Hände voll Trümmer von Bruchsteinen, Gyps und Cement aus der Mauer gezogen.

Als die Stunde des Besuches kam. richtete er, so gut er konnte, den gebogenen Stiel der Casserole wieder auf und stellte das Gefäß an seinen gewöhnlichen Platz. Der Schließer schüttete die vorgeschriebene Ration Suppe und Fleisch, oder vielmehr Suppe und Fisch hinein; denn dieser Tag war ein Fasttag, und man ließ die Gefangenen dreimal in der Woche fasten. Dies war auch ein Mittel, die Zeit zu berechnen, wenn Dantes nicht längst diese Berechnung aufgegeben hätte.

Sobald die Suppe eingegossen war, entfernte sich der Schließer.

Diesmal wollte sich Dantes vergewissern, ob sein Nachbar wirklich seine Arbeit eingestellt hätte.

Er horchte.

Alles blieb still, wie während der drei Tage, wo die Arbeiten unterbrochen worden waren.

Dantes seufzte. Sein Nachbar mißtraute ihm offenbar.

Er ließ sich jedoch nicht entmutigen und setzte seine Arbeit die ganze Nacht fort; doch nach zwei bis drei Stunden stieß er auf ein Hinderniß.

Das Eisen faßte nicht mehr, sondern glitt auf einer Oberfläche hin.

Dantes berührte das Hemmnis mit seinen Händen und bemerkte, daß es ein Balken war.

Dieser Balken durchzog oder versperrte vielmehr gänzlich das Loch, welches Dantes angefangen hatte.

Nun mußte man darüber oder darunter graben.

Der unglückliche junge Mann hatte nicht an dieses Hinderniß gedacht.

»Oh! mein Gott, mein Gott! ich habe Dich doch so sehr gebeten, daß ich hoffte, Du würdest mich erhören! Mein Gott! nachdem Du mir die Freiheit des Lebens, nachdem Du mir die Ruhe des Todes genommen, mein Gott! der Du mich zum Dasein zurückgerufen hast, mein Gott! habe Mitleid mit mir und laß mich nicht in Verzweiflung sterben!«

»Wer spricht zugleich von Gott und von Verzweiflung,« ließ sich eine Stimme vernehmen, welche unter der Erde hervorzukommen schien und wie ein Gräberton zu dem jungen Mann gelangte.

Edmond fühlte, wie sich die Haare auf seinem Haupte sträubten; und wich auf den Knien zurück.

»Ah!« murmelte er, »ich höre einen Menschen sprechen.«

Seit vier oder fünf Jahren hatte Edmond nur die Stimme seines Kerkermeisters gehört, und für den Gefangenen ist der Kerkermeister kein Mensch. Es ist eine lebende Thüre seiner eichenen Thüre, ein Riegel von Fleisch seinen eisernen Riegeln beigefügt.

»Im Namen des Himmels!« rief Dantes, »Sie, der Sie gesprochen haben, sprechen Sie weiter, obgleich Ihre Stimme mich erschreckt hat. Wer sind Sie?«

»Wer sind Sie selbst?« fragte die Stimme.

»Ein unglücklicher Gefangener,« versetzte Dantes, der, ohne Schwierigkeiten zu machen, antwortete.

»Aus welchem Lande?«

»Franzose.«

»Ihr Name?«

»Edmond Dantes.«

»Ihr Stand?«

»Seemann.«

»Wie lange sind Sie hier?«

»Seit dem 28. Februar 1815.«

»Ihr Verbrechen?«

»Ich bin unschuldig.«

»Wessen klagt man Sie an?«

»Für die Rückkehr des Kaisers konspiriert zu haben.«

»Wie! für die Rückkehr des Kaiser! Der Kaiser ist also nicht mehr auf dem Throne?«

»Er hat in Fontainebleau im Jahre 1814 entsagt und ist auf die Insel Elba verbannt worden. Aber wie lange sind Sie denn hier, daß Sie alles Dies nicht wissen?«

»Seit 1811.«

Dantes bebte; dieser Mann war vier Jahre länger im Gefängnis. als er.«

»Es ist gut, graben Sie nicht mehr, versetzte die Stimme schnell sprechend; »sagen Sie mir nur, auf welcher Höhe sich die Aushöhlung befindet, die Sie gemacht haben?«

»Dem Boden gleich.«

»Wie ist sie verborgen?«

»Hinter meinem Bette.«

»Hat man Ihr Bett von der Stelle gerückt, seitdem Sie im Gefängnis sind?«

»Nie?«

»Wohin geht Ihr Zimmer?«

»Nach einem Gange.«

»Und der Gang?«

»Mündet nach dem Hofe aus.«

»Ach!« murmelte die Stimme.

»Oh! mein Gott, was gibt es denn?« rief Dantes.

»Ich habe mich getäuscht, die Unvolkommenheit meiner Zeichnungen hat mich betrogen, der Mangel eines Compasses hat mich zu Grunde gerichtet; eine Linie des Irrtums auf meinem Plane kommt fünfzehn Fuß in der Wirklichkeit gleich, und ich hielt die Mauer, welche Sie durchhöhlen, für die der Citadelle.«

»Aber dann wären Sie an das Meer gekommen?«

»Das wollte ich gerade.«

»Und wenn Sie Ihren Zweck erreicht hätten?«

»So warf ich mich in die See, ich erreichte schwimmend eine von den Inseln, welche das Castell If umgeben, die Insel Daume, die Insel Tiboulen, oder auch die Küste, und ich war gerettet.«

 

»Hätten Sie so weit schwimmen können?«

»Gott wurde mit die Kraft verliehen haben; doch nun ist Alles verloren.«

»Alles?«

»Ja, Stopfen Sie Ihr Loch wieder vorsichtig zu, arbeiten Sie nicht mehr, bekümmern Sie sich um nichts mehr, und erwarten Sie Kunde von mir.«

»Sagen Sie mir doch wenigstens, wer Sie sind.«

»Ich bin . . . ich bin der Numero 27.«

»Sie mißtrauen mir also?« fragte Dantes.

Edmond glaubte ein bitteres Lachen zu hören, welches das Gewölbe durchdrang und bis zu ihm gelangte.

»Oh! ich bin ein guter Christ!« rief er, denn er fühlte instinktartig, daß dieser Mensch ihn zu verlassen gedachte; »ich schwöre Ihnen, daß ich mich eher töten lasse, als daß Ihre Henker und die meinigen durch mich einen Schatten der Wahrheit zu sehen bekommen. Doch im Namen des Himmels! berauben Sie mich nicht Ihrer Gegenwart! berauben Sie mich nicht Ihrer Stimme, oder ich schwöre Ihnen, denn meine Kräfte gehen zu Ende, ich zerschmettere mir den Schädel an der Wand, und Sie haben sich meinen Tod vorzuwerfen.«

»Wie alt sind Sie? Ihre Stimme scheint die eines jungen Mannes zu sein.«

»Ich weiß mein Alter nicht, denn ich habe die Zeit, seitdem ich hier bin, nicht gemessen. Ich weiß nur, daß ich neunzehn Jahre alt war, als ich am 28. Februar 1815 verhaftet wurde.«

»Noch nicht ganz fünf und zwanzig Jahre; in diesem Alter ist man noch kein Verräter,« murmelte die Stimme.

»Oh! Nein, nein, ich schwöre es Ihnen, wiederholte Dantes. »Ich habe Ihnen schon einmal gesagt und wiederhole es, ich lasse mich eher in Stücke zerhauen, als daß ich Sie verrate.«

»Sie haben wohl daran getan, mit mir zu sprechen, Sie haben wohl daran getan, mich zu bitten; denn ich war im Begriff, einen andern Plan zu entwerfen und mich von Ihnen zu entfernen. Aber Ihr Alter beruhigt mich: ich werde wieder zu Ihnen kommen, warten Sie auf mich.«

»Wann?«

»Ich muß unsere Chancen berechnen und werde Ihnen das Zeichen geben.«

»Doch Sie verlassen mich nicht? ich muß nicht allein bleiben? Sie kommen zu mir, oder Sie erlauben mir, zu Ihnen zu gehen? Wir fliehen mit einander, und wenn wir nicht fliehen können, so sprechen wir, Sie von Menschen, die Sie lieben, und ich von Menschen, welche ich liebe. Sie müssen irgend Jemand lieben«

»Ich bin allein auf der Welt.«

»Dann lieben Sie mich: sind Sie jung, so werde ich Ihr Kamerad; sind Sie alt, so bin ich Ihr Sohn. Ich habe einen Vater, welcher siebzig Jahre alt sein muß, wenn er noch lebt. Ich liebte nur ihn und ein junges Mädchen Namens Mercedes. Mein Vater hat mich nicht vergessen, dessen bin ich sicher; aber sie, Gott weiß, ob sie noch an mich denkt. Ich werde Sie lieben wie ich meinen Vater liebte.«

»Es ist gut,« erwiderte der Gefangen« »morgen!«

Diese Worte wurden mit einem Tone ausgesprochen, der Dantes überzeugte. Er verlangte nicht mehr, stand auf, nahm dieselben Vorsichtsmaßregeln in Beziehung auf die aus der Mauer gezogenen Trümmer, welche er genommen hatte, und stieß sein Bett wieder an die Wand.

Von diesem Augenblick an überließ sich Dantes ganz und gar seinem Glücke. Er sollte sicherlich nicht mehr allein sein, er sollte vielleicht sogar frei werden. Im schlimmsten Falle hatte er, wenn er Gefangener blieb, einen Gefährten. Geteilte Gefangenschaft aber ist nur eine halbe Gefangenschaft. Die Klagen. die man gemeinschaftlich ausspricht, sind beinahe Gebete; Gebete, die man zu zwei verrichtet, sind beinahe Gnadenhandlungen.

Den ganzen Tag ging Dantes, das Herz vor Freude hüpfend, in seinem Kerker auf und ab. Von Zeit zu Zeit erstickte ihn diese Freude beinahe. Er setzte sich auf sein Bett und preßte seine Brust mit der Hand. Bei dem geringsten Geräusche, das er in der Hausflur vernahm, sprang er nach der Thüre. Ein paar Male stieg ihm die Furcht, man könnte ihn von diesem Manne trennen, den er nicht kannte und dennoch wie einen Freund liebte, zu Gehirn. Dann war er entschlossen: in dem Augenblick, wo der Kerkermeister sein Bett wegrücken und sich bücken würde, um die Öffnung zu untersuchen, wollte er ihm mit dem Boden seines Kruges den Schädel einschlagen.

Man würde ihn zum Tode verurteilen, das wußte er wohl; sollte er aber nicht vor Zorn und Verzweiflung in dem Augenblick sterben, wo ihn dieses wunderbare Geräusch dem Leben zurückgegeben hatte?

Am Abend kam der Gefangenenwärter. Dantes lag auf seinem Bette; es kam ihm vor, als bewachte er von da aus die unvollendete Öffnung besser. Ohne Zweifel betrachtete er den ungelegenen Besuch mit einem sonderbaren Auge, denn dieser sagte zu ihm:

»Wie, sollten Sie wieder ein Narr werden?«

Dantes antwortete nicht, er befürchtete, die Aufregung seiner Stimme könnte ihn verraten.

Der Gefangenenwärter entfernte sich den Kopf schüttelnd.

Als die Nacht eingetreten war, glaubte Dantes, sein Nachbar würde die Stille und Dunkelheit benützen, um das Gespräch wieder mit ihm anzuknüpfen. Aber er täuschte sich, die Nacht verlief, ohne daß irgend ein Geräusch seiner fieberhaften Erwartung entsprach. Am andern Tage aber, nach dem Morgenbesuche und nachdem er sein Bett von der Wand entfernt hatte, hörte er drei Schläge in gleichen Zwischenräumen. Er stürzte auf die Knie.

»Sind Sie es?« sprach er; »ich bin hier.«

»Ist Ihr Kerkermeister weggegangen?« fragte die Stimme,

»Ja.« antwortete Dantes, und er wird erst am Abend wieder kommen. Wir haben zehn Stunden Freiheit.«

»Ich kann also handeln.« sprach die Stimme.

»Oh! Ja, ja, ohne Zögern. auf der Stelle. ich bitte. Sie!«

Sogleich schien der Teil der Erde, auf welchen Dantes, halb in der Öffnung verborgen, seine Hände stützte, unter ihm zu weichen. Er warf sich zurück, während eine Masse von Erde und abgelösten Steinen in ein Loch stürzte, das sich unter der von ihm bewerkstelligten Öffnung ausgehöhlt hatte. Dann sah er im Hintergrunde dieses düstern Loches, dessen Tiefe er nicht ermessen konnte, einen Kopf, Schultern. und endlich einen ganzen Menschen erscheinen, welcher mit ziemlich viel Behendigkeit aus der Höhlung hervorkam.

Sechzehntes Kapitel.
Ein gelehrter Italiener

Dantes schloß diesen neuen, so lange und so ungeduldig erwarteten Freund in seine Arme, und zog ihn nach seinem Fenster, damit ihn das wenige Licht, welches in seinen Kerker drang, völlig beleuchtete.

Es war ein Mann von mittlerem Wuchse, mit Haaren. mehr durch Leiden, als durch das Alter gebleicht, mit einem unter dichtem grau werdenden Brauen verborgenen, durchdringenden Auge und einem noch schwarzen Barte, welcher auf seine Brust herabfiel. Die Magerkeit seines durch tiefe Runzeln ausgehöhlten Gesichtes, die kühne Linie seiner charakteristischen Züge verkündigten einen Mann, der mehr gewohnt war, seine moralischen Fähigkeiten, als seine körperlichen Kräfte zu üben. Die Stirne des Unbekannten war mit Schweiß bedeckt.

Was seine Kleidung betrifft, so ließ sich ihre ursprüngliche Form nicht unterscheiden, denn sie zerfiel in Lumpen.

Er schien wenigstens fünf und sechzig Jahre alt zu sein, obgleich eine gewisse Stärke in seinen Bewegungen andeutete, er zähle vielleicht weniger Jahre als seine lange Gefangenschaft seinem Äußeren verliehen hatte.

Er nahm mit einem gewissen Vergnügen die enthusiastischen Betheurungen des jungen Mannes auf. Seine vereiste Seele schien einen Augenblick bei der Berührung mit dieser glühenden Seele sich zu erwärmen und zu schmelzen. Er dankte ihm für seine Herzlichkeit mit einem gewissen Feuer, obgleich seine Enttäuschung groß gewesen war, als er einen zweiten Kerker da fand, wo er die Freiheit zu finden gehofft hatte.

»Wir wollen zuerst sehen,« sprach er, »ob wir ein Mittel haben, vor den Augen Ihrer Gefangenenwärter die Spuren meines Durchbruches verschwinden zu machen. Unsere ganze zukünftige Ruhe hängt davon ab, daß nicht bekannt wird. was vorgefallen ist.«

Dann bückte er sich nach der Öffnung, nahm den Stein, hob ihn trotz seines Gewichtes leicht auf und schob ihn in das Loch.

»Dieser Stein wurde auf eine sehr nachlässige Weise ausgebrochen,« sprach er den Kopf schüttelnd; »Sie haben also keine Werkzeuge?«

»Und Sie,« fragte Edmond erstaunt. »haben Sie?«

»Ich habe mir einige gemacht: außer einer Feile besitze ich Alles, was man braucht, Meißel, Beißzange, Hebel.«

»Oh, ich wäre sehr neugierig. diese Erzeugnisse Ihrer Geduld und Ihrer Geschicklichkeit zu sehen.« sprach Dantes.

»Sehen Sie, hier ist vor Allem ein Meißel.«

Und er zeigte ihm eine starke, scharfe Klinge, mit einem Hefte aus einem Stücke Buchenholz bestehend.

»Aus was haben Sie dies gemacht?«

»Aus einem von den Fischbändern meines Bettes. Mit diesem Werkzeug habe ich mir den ganzen Weg ausgehöhlt, der mich bis hierher führte, ungefähr fünfzig Fuß.«

»Fünfzig Fuß!« rief Dantes mit einer Art von Schrecken.

»Sprechen Sie leiser, junger Mann, sprechen Sie leiser; es geschieht oft, daß man an den Thüren der Gefangenen horcht.«

»Man weißt daß ich allein bin.«

»Gleichviel!«

»Und Sie sagen, Sie haben fünfzig Fuß durchhöhlt, um hierher zu gelangen?«

»Ja, dies ist ungefähr die Entfernung, welche mein Zimmer von dem Ihrigen trennt; nur habe ich in Ermangelung von geometrischen Instrumenten meine krumme Linie schlecht berechnet; statt vierzig Fuß Ellipse fanden sich fünfzig. Ich hoffte, wie ich Ihnen gesagt habe, bis zur äußeren Mauer zu gelangen, diese Mauer zu durchhöhlen und mich in das Meer zu werfen. Ich habe längs der Flur hin, an welche Ihr Zimmer stößt, gearbeitet, statt unter derselben durchzudringen. Meine ganze Arbeit ist verloren, denn diese Flur geht auf einen Hof, welcher voll von Wachen ist.«

»Das ist wahr,« sprach Dantes, »aber die Flur läuft nur an einer Seite meines Zimmers hin, und mein Zimmer hat vier.«

»Ja, richtig, aber hier ist vor Allem eine, deren Mauer der Felsen bildet. Es bedürfte einer zehnjährigen Arbeit von zehn mit allen ihren Werkzeugen versehenen Gräbern, um den Felsen zu durchdringen. Die andere muß sich an den Grund der Wohnung des Gouverneurs lehnen; wir würden in den Keller fallen, welcher offenbar mit dem Schlüssel verschlossen wird, und man wurde uns wieder gefangen nehmen. Die dritte Seite, warten Sie, wohin geht die dritte Seite?«

Diese Seite war diejenige, in der man das Luftloch angebracht hattet durch welches das Tageslicht eindrang. Dieses Luftloch, das sich immer mehr verengtet bis zu der Stelle, wo es dem Tageslichte Eingang gewährte, und wo ein Kind nicht hatte durchkommen können, war überdies mit drei Reihen von eisernen Stangen versehen, welche auch den argwöhnischsten Kerkermeister über die Furcht einer Entweichung beruhigen konnten.

Der Unbekannte aber zog, während er diese Frage machte, den Tisch unter das Fenster und sagte zu Dantes:

»Steigen Sie auf diesen Tisch.«

Dantes gehorchte, stieg auf den Tisch, lehnte, die Absicht seines Gefährten erratend, seinen Rücken an die Mauer und bot ihm seine zwei Hände.

Derjenige, welcher sich den Namen seines Zimmers gegeben hatte und Dantes noch nicht unter seinem wahren Namen bekannt war, stieg nun behender, als sein Alter vorhersehen ließ, und mit der Gewandheit der Katze oder der Eidechse zuerst auf den Tisch, dann auf die Hände von Dantes und von seinen Händen auf seine Schultern. Halb gebückt, denn das Gewölbe des Kerkers hinderte ihn, sich aufzurichten, streckte er den Kopf hiernach zwischen die erste Reihe der Stangen, und er konnte von da hinabschauen.

Einen Augenblick nachher zog er rasch den.Kopf zurück.

»Oh, oh!« sagte er. »ich hatte es vermutet.«

Und er ließ sich an dem Körper von Dantes auf den Tisch herabgleiten und sprang von da auf die Erde.

»Was hatten Sie vermutet?« fragte der junge Mann ängstlich, und sprang ebenfalls herab.

Der alte Gefangene überlegte.

»Ja,« sagte er. »so ist es, Die vierte Seite Ihres Kerkers geht auf die äußere Galerie, auf eine Art von Rundgang, über welchen die Patrouillen kommen und wo vier Schildwachen stehen.«

»Sind Sie dessen gewiss?«

»Ich habe den Tschako des Soldaten und das Ende seiner Flinte gesehen, und zog mich nur aus Furcht, er könnte mich wahrnehmen, so schnell zurück.«

»Nun?« sagte Dantes.

»Sie sehen. daß es unmöglich ist. durch Ihren Kerker zu entfliehen.«

»Hernach?« fuhr der junge Mann in seinem fragenden Tone fort.

»Hernach.« sprach der alte Gefangene; »es geschehe der Wille Gottes!«

Und ein Ausdruck tiefer Resignation verbreitete sich über die Gesichtszüge des Greises.

Dantes schaute diesen Mann, welcher mit so viel Philosophie auf eine seit langer Zeit genährte Hoffnung Verzicht leistete, mit einem mit Bewunderung gemischtem Erstaunen an.

 

»Wollen Sie mir nun sagen. wer Sie sind?« fragte Dantes.

»Oh! mein Gott, ja, wenn es Sie noch interessieren kann, jetzt, da ich zu nichts mehr für Sie gut bin.«

»Sie können mir dazu gut sein, daß Sie mich trösten und aufrecht erhalten, denn Sie scheinen mir ein Starker unter den Starken zu sein.«

Der Abbé lächelte traurig und sprach:

»Ich bin der Abbé Faria. Gefangener seit 1811, wie Sie wissen, im Castell If, war jedoch drei Jahre lang in der Festung Fenestrelle eingesperrt. Im Jahre 1808 brachte man mich von Piemont nach Frankreich. Damals erfuhr ich, daß das Schicksal, welches ihm zu jener Zeit unterthan zu sein schien, Napoleon einen Sohn gegeben hatte, und daß dieser Sohn in der Wiege zum König von Rom ernannt worden war. Ich war weit entfernt, zu vermuten, was Sie mir vorhin sagten, nämlich, daß vier Jahre später der Koloß eingestürzt wäre. Wer regiert denn in Frankreich? Napoleon II.?«

»Nein. Ludwig XVIII.«

»Ludwig XVIII. der Bruder Ludwig XIV. Die Beschlüsse des Himmels sind seltsam und geheimnisvoll. Was war die Absicht der Vorsehung, als sie den Mann erniedrigte, den sie erhoben hatte, und denjenigen erhob, den sie erniedrigt hatte?«

Dantes folgte mit den Augen diesem Manne, welcher einen Moment sein eigenes Schicksal vergaß, um sich mit dem Geschicke der Welt zu beschäftigen.

»Ja,« fuhr er fort, »es ist wie in England: nach Karl I. Cromwell, nach Cromwell Karl II. und vielleicht nach Jacob II. irgend ein Schwiegersohn, ein Verwandter, ein Prinz von Oranien, ein Stathouder, der sich zum König machen wird und dann neue Einräumungen für das Volk, dann eine Constiution, dann die Freiheit! Sie werden dies sehen, junger Mann,« sprach er, wandte sich gegen Dantes und schaute ihn mit glänzenden, tiefen Augen an, t wie sie die Propheten haben mußten. »Sie sind noch in einem Alter, um zu sehen, und werden es sehen.«

»Ja, wenn ich von hier wegkomme.«

»Ah! das ist richtig,« sprach der Abbé Faria, »wir sind Gefangene; es gibt Momente, wo ich es vergesse, und wo ich mich in Freiheit glaube, weil meine Augen die Wände durchdringen, die mich umschließen.«

»Aber warum sind Sie eingesperrt?«

»Ich? weil ich im Jahre1807, von dem Plane träumte, den Napoleon im Jahre 1811 verwirklichen wollte, weil ich, wie Macchiavell mitten unter diesen Fürstlein, welche aus Italien ein Nest tyrannischer, schwacher Königreiche machten, ein einziges und großes, compaktes und festes Reich wollte, weil ich meinen Cesare Borgia in einem einfältigen gekrönten Haupte zu finden glaubte, das sich den Anschein gabt als verstünde es mich, um mich besser erraten zu können. Es war der Plan von Alexander VI. und von Clemens VII.; er wird ewig scheitern, da sie diese Suche vergeblich unternommen haben und Napoleon dieselbe nicht zum Ende fuhren konnte; Italien ist offenbar verflucht.«

Und der Greis neigte sein Haupt.

Dantes begriff nicht, wie ein Mensch sein Leben für solche Interessen wagen konnte. War ihm Napoleon bekannt, weil er ihn gesehen und mit ihm gesprochen hatte, so wußte er dagegen allerdings nichts von Clemens VII. und Alexander VI.

»Sind Sie nicht,« sprach Dantes, der die Meinung seines Gefangenenwärters, welche die allgemeine im Castell If war, zu teilen anfing, »sind Sie nicht der Priester, den man für . . . krank hält?«

»Den man für verrückt hält, wollen Sie sagen, nicht wahr?«

»Ich wagte es nicht,« versetzte Dantes lächelnd.

»Ja, ja,« fuhr Faria mit einem bittern Lachen fort, »ja, ich gelte für einen Narren. Ich belustige seit geraumer Zeit die Gäste dieses Gefängnisses, und würde die kleinen Kinder belustigen, wenn es Kinder an diesem Wohnorte des trostlosen Schmerzes gäbe.«

Dantes blieb einen Augenblick unbeweglich und stumm vor Erstaunen.

»Sie leisten also Verzicht auf die Flucht?« fragte er.

»Ich sehe, daß die Flucht unmöglich ist. Das versuchen, was nach Gottes Willen nicht geschehen soll, hieße Gott versuchen.«

»Warum lassen Sie sich entmutigen? Mit dem ersten Schlage siegen zu wollen, wäre zu viel von der Vorsehung verlangt. Können Sie nicht in einer andern Richtung wieder anfangen, was Sie in dieser getan haben?«

»Wissen Sie, was ich getan habe, daß Sie von Wiederanfangen sprechen? Wissen sie daß ich vier Jahre brauchte, um die Werkzeuge zu verfertigen, welche ich besitze? wissen Sie, daß ich seit zwei Jahren eine Erde auskratze und aushöhle, die so hart ist wie Granit? Wissen Sie, daß ich Steine lösen mußte, welche ich früher nicht bewegen zu können glaubte, daß ganze Tage in dieser Titanenarbeit vergingen, und daß ich zuweilen am Abend glücklich war, wenn ich einen Quadratzoll von diesem alten Cement weggebrochen hatte, das so hart geworden war, wie der Stein selbst? Wissen Sie, daß ich um alle diese Erde und alle diese Steine unterzubringen, das Gewölbe einer Treppe durchbrechen mußte, unter welchem nach und nach alle diese Trümmer begraben wurden, so daß der früher leere Raum gänzlich voll ist, und daß ich nicht wußte, wohin ich nur noch eine Handvoll Staub legen sollte? Wissen Sie endlich, daß ich das Ziel aller meiner Arbeiten zu berühren glaubte, daß ich gerade nur die Kraft in mit fühlte, dieser Aufgabe zu entsprechen, und daß Gott dieses Ziel nicht nur zurück rückt, sondern es, ich weiß nicht wohin versetzte? Ah! ich wiederhole Ihnen, ich werde fortan nichts mehr versuchen, um meine Freiheit zu erringen, da sie nach dem Willen Gottes auf immer verloren sein soll.«

Edmond senkte den Kopf, um nicht diesem Manne zu gestehen, daß die Freude, einen Gefährten zu haben, ihn verhinderte, Mitleid mit dem Schmerze zu fühlen, den der Gefangene darüber empfand, daß er sich nicht hatte flüchten können.

Der Abbé Faria ließ sich auf das Bett von Edmond nieder, Edmond aber blieb stehen.

Der junge Mann hatte nie an die Flucht gedacht. Es gibt Dinge, welche so unmöglich erscheinen, daß man nicht einmal den Gedanken hat, sie zu versuchen, und daß man sie instinktartig vermeidet. Fünfzig Fuß unter der Erde graben, dieser Operation eine Arbeit von drei Jahren widmen, um, wenn sie gelingt, an einen senkrecht nach dem Meere laufenden Absturz zu gelangen: sich fünfzig, sechzig, hundert Fuß vielleicht hinabwerfen, um sich beim Fallen den Schädel auf irgend einem Felsen zu zerschmettern, wenn man nicht bereits von der Kugel der Schildwache getötet worden ist; entgeht man allen diesen Gefahren, schwimmend eine Meile zurücklegen müssen, das war zu viel, um nicht darauf Verzicht zu leisten, und wir haben gesehen, daß Dantes seine Resignation beinahe bis zum Tode trieb.

Jetzt aber, da der junge Mann einen Greis erblickte, der sich so mächtig an das Leben anklammerte und ihm ein Beispiel verzweiflungsvoller Entschlüsse gab, fing er an nachzudenken und seinen Mut zu messen. Ein Anderer hatte versucht, was zu tun ihm nicht einmal in den Sinn kam; ein Anderer, minder jung, minder stark, minder gewandt als er, hatte sich durch Geschicklichkeit und Geduld alle die Werkzeuge verschafft, deren er für seine unglaubliche Arbeit bedurfte, die nur eine schlecht getroffene Maßregel scheitern machen konnte; ein Anderer hatte alles dies getan, es war also Dantes nichts unmöglich: Faria hatte fünfzig Fuß durchgraben, er würde hundert durchgraben, Faria hatte in einem Alter von fünfzig Jahren drei Jahre zu seinem Werke verwendet, er war nur halb so alt als Faria und wurde sechs dazu verwenden. Faria, ein Abbé, ein Gelehrter, ein Mann der Kirche, hatte sich nicht vor dem Wagniß gefürchtet, schwimmend vom Castell If die Insel Daume, Ratonneau oder Lemaire zu erreichen; er, Edmond, der Seemann, der kühne Taucher, der so oft einen Korallenzweig auf dem Grunde des Meeres gesucht, sollte zögern, eine Meile schwimmend zurückzulegen? Wie viel bedurfte man, um eine Meile weit zu schwimmen? eine Stunde. War er nicht oft ganze Stunden im Meer geblieben, ohne am Ufer Fuß zu fassen! Nein, nein, Dantes bedurfte nur der Ermutigung durch ein Beispiel. Alles, was ein Anderer getan hat, oder hätte tun können, wird auch Dantes tun . . .

Der junge Mann überlegte einen Augenblick.

»Ich habe gefunden, was Sie suchten,« sagte er zu dem Greise.

Farin bebte.

»Sie?« sprach er, indem er den.Kopf mit einer Miene empor richtete, welche andeutetet daß, wenn Dantes die Wahrheit sprach, die Entmutigung seines Gefährten nicht von langer Dauer sein sollte; »lassen Sie hören, was haben Sie gefunden?«