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Der Chevalier von Maison-Rouge

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XXXVII.
Der Bürger Gracchus

Einen Augenblick blieb die Gruppe der drei Männer unbeweglich an der Mündung des unterirdischen Ganges, während der Schließer in die Öffnung seine Laterne steckte, welche die Tiefe nicht zu erleuchten vermochte.

Der triumphirende Baumeister beherrschte seine drei Gefährten mit der ganzen Höhe seines Genies.

»Nun?« sagte er nach einigen Secunden.

»Meiner Treue, ja,« antwortete Santerre, »hier ist der unterirdische Gang, daran läßt sich nicht zweifeln. Man muß nur noch wissen, wohin er führt.«

»Ja,« wiederholte Richard, »man muß wissen, wohin er führt.«

»Nun wohl, steige hinab, Bürger Richard, und Du wirst selbst sehen, ob ich die Wahrheit gesprochen habe.«

»Es läßt sich etwas Besseres thun, als hier hinab, zusteigen,« entgegnete der Concierge. »Wir kehren mit Dir und dem General in die Conciergerie zurück. Dort hebst Du die Platte vom Ofen auf und wir werden sehen.«

»Sehr gut, wir wollen gehen,« sagte Santerre.

»Doch nimm Dich in Acht,« versetzte der Baumeister, »die offen gebliebene Platte kann irgend Jemand Gedanken geben.«

»Wer Teufels soll zu dieser Stunde hierher kommen?« »versetzte Santerre.

»Übrigens ist der Saal öde, und wenn wir Gracchus hier lassen, so wird das genügen,« sprach Richard. »Bleibe hin, Bürger Gracchus, und wir holen Dich von der der anderen Seite des unterirdischen Ganges wieder ab.«

»Gut,« sagte Gracchus.

»Bist Du bewaffnet?« fragte Santerre.

«Ich habe meinen Säbel und diese eiserne Stange, Bürger General.«

»Vortrefflich! halte gut Wache. In zehn Minuten wir wir bei Dir.«

Und alle Drei begaben sich, nachdem sie das Gitter geschlossen, durch die Gallerie des Merciers nach dem besondern Eingange der Conciergerie.

Der Schließer sah sie weggehen; er folgte ihnen mit Augen, so lange er sie sehen konnte, er horchte, so lange er sie hören konnte; als aber Alles wieder still und einsam geworden zu sein schien, stellte er seine Laterne auf den Boden, setzte sich nieder, ließ seine Beine in die Tiefe des unterirdischen Ganges hängen und fing an zu träumen.

Die Schließer träumen auch zuweilen; nur gibt man ich in der Regel nicht die Mühe, zu untersuchen, was sie träumen.

Plötzlich und als er gerade in die tiefste Tiefe seiner Träumerei versunken war, fühlte er, wie eine Hand sich auf seine Schulter legte.

Er wandte sich um, sah eine unbekannte Gestalt und wollte schreien, doch in demselben Augenblick wurde ihm eine eiskalte Pistole vor die Stirne gesetzt.

Seine Stimme blieb in seiner Kehle stecken, sein Arme fielen träge an seinem Leibe herab, seine Augen nahmen den flehendsten Ausdruck an, den sie finden konnten.

»Kein Wort, oder Du bist todt,« sprach die Erscheinung.

»Was wollen Sie, mein Herr?« stammelte Schließer.

Selbst im Jahre 93 gab es, wie man sieht, Augenblicke, wo man sich nicht duzte, und wo man sich Bürger zu nennen aufhörte.

»Ich will, daß Du mich hier hineinlässest,« antwortete der Bürger Theodor.

»Warum dies?«

»Was geht es Dich an.«

Der Schließer schaute denjenigen, welcher diese Frage an ihn richtete, mit dem tiefsten Erstaunen an.

Der Bürger Theodor glaubte aber in der Tiefe dieses Blickes einen Blitz des Verstandes zu erkennen. Er senkte sein Gewehr und sprach:

«Würdest Du Dich weigern, Dein Glück zu machen?«

»Ich weiß es nicht, es hat mir noch Niemand Vorschläge in dieser Hinsicht gemacht.«

»Nun wohl, ich werde anfangen.«

»Sie bieten nur an, mein Glück zu machen?^

»Ja.«

«Was verstehen Sie unter einem Glück?«

»Fünfzig tausend Livres in Gold zum Beispiel: Gold ist selten, und fünfzig tausend Livres in Gold sind heut zu Tage eine Million werth.«

»Wenn ich Sie da hineinlasse?«

»Ja; doch unter der Bedingung, daß Du mit kommst und mir bei dem, was ich thun will,, hilfst.«

»Aber was werden Sie denn thun? In fünf Minuten ist dieser unterirdische Gang voll von Soldaten, welche Sie verhaften.«

Der Bürger Theodor war betroffen von dem Gewichte dieser Worte.

»Kannst Du verhindern, daß die Soldaten hinabsteigen?«

»Ich habe kein Mittel, ich kenne keines und suche vergebens.«

Man sah wirklich, daß der Schließer den ganzen Scharfsinn seines Geistes zusammenraffte, um das Mittel zu finden, das ihm fünfzig tausend Franken eintragen sollte.

»Doch morgen können wir hinein?« fragte der Bürger Theodor.

»Ja, ohne Zweifel; aber zwischen heute und morgen soll in diesem unterirdischen Gang ein Gitter angebracht werden, das seine ganze Breite einnehmen wird, und es ist geschlossen, daß dieses Gitter zu größerer Sicherheit voll, solid, und ohne Thüre sein soll.«

»Dann muß man etwas Anderes finden,« sagte der Bürger Theodor.

»Ja, man muß etwas Anderes finden,« versetzte der Schließer, »suchen wir.«

Aus der collectiven Art, in der sich der Bürger Gracchus ausdrückte, ersieht man, daß bereits ein Bündniß zwischen ihm und dem Bürger Theodor stattfand.

»Das ist meine Sache,« sagte Theodor. »Was machst Du in der Conciergerie?«

»Ich bin Schließer.«

»Das heißt?«

»Ich öffne die Thüren und schließe sie.«

»Du schläfst darin?«

»Ja, mein Herr.«

»Du issest darin?«

»Nicht immer. Ich habe meine Erholungsstunden.«

»Und dann?«

»Ich benütze sie.«

»Wozu?«

»Um der Herrin der Schenke zum Brunnen Noä den Hof zu machen; sie hat mir versprochen, mich zu heirathen, wenn ich zwölf hundert Franken besitzen würde,«

»Wo liegt die Schenke zum Brunnen Noä?«

»Bei der Rue de la Vieille-Draperie.«

»Sehr gut.«

»Stille, Herr.«

Der Patriot horchte.

»Ah! ah!« sagte er.

»Ja … Stimmen, Tritte.«

»Sie kommen zurück. Sie sehen wohl, daß wir nicht Zeit gehabt hätten.«

Dieses wir wurde immer bündiger.

»Das ist wahr. Du bist ein braver Junge, und Du kommst mir vor, als wärest Du vorherbestimmt. . .«

»Wozu?«

»Eines Tages reich zu werden.«

»Gott höre Sie!«

»Du glaubst noch an Gott?«

»Zuweilen, stellenweise. Heute zum Beispiel…«

»Nun?«

»Heute würde ich gern an ihn glauben.«

»So glaube an ihn,« sprach der Bürger Theodor und drückte dem Schließer zehn Louis dor in die Hand.

»Teufel!« sagte dieser, indem er das Gold bei dem Scheine seiner Laterne anschaute, »das ist also Ernst?«

»Es kann nichts ernster sein.«

»Was muß ich thun?«

»Finde Dich morgen im Brunnen Noä ein, ich werde Dir dann sagen, was ich von Dir will. Wie heißest Du?«

»Gracchus.«

»Nun wohl, Bürger Gracchus, laß Dich zwischen, jetzt und morgen von dem Concierge Richard wegjagen.«

»Wegjagen! und mein Platz?«

»Gedenkst Du etwa, mit fünfzig tausend Franken Eigenthum Schließer zu bleiben?«

»Nein, doch so lange ich Schließer und arm bin, habe ich die Sicherheit, nicht guillotiniert zu werden.«

»Sicherheit?«

»Oder wenigstens ungefähr. Während ich frei und reich. . .«

»Du verbirgst Dein Geld und machst einer Strickerin den Hof, statt der Wirthin zum Brunnen Noä.«

»Nun wohl, es ist abgemacht.«

»Morgen in der Schenke.«

»Um welche Stunde?«

»Um sechs Uhr Abends.«

»Fliegen Sie rasch davon, sie kommen. . . ich sage: fliegen Sie davon, weil ich annehme, daß Sie durch die Gewölbe hinabsteigen,«

»Morgen!« wiederholte Theodor und entfloh.

Es war in der That Zeit, das Geräusch der Tritte und Stimmen näherte sich. Man sah schon in dem dunklen Gange den Schein der Lichter.

Theodor erreichte die Thüre, die ihm der Schreiber, dessen Hütte er genommen, bezeichnet hatte; er sprengte das Schloß mit seinem Hebeeisen, eilte auf das angegebene Fenster zu, öffnete es, ließ sich auf die Straße hinabgleiten, und befand sich wieder aus dem Pflaster der Republik.

Doch ehe er die Salle des Pas-Perdus verlassen hatte, konnte er noch den Bürger Gracchus Richard fragen und diesen antworten hören:

»Der Bürger Baumeister hatte vollkommen Recht; der unterirdische Gang läuft unter dem Zimmer der Witwe Capet hin. Das war gefährlich.«

»Ich glaube es wohl,« sagte Gracchus, der das Bewustsein hatte, daß er eine große Wahrheit sprach.

Santerre erschien wieder an der Mündung der Treppe.

»Und Deine Arbeiter, Bürger Baumeister?« fragte er Giraud.

»Sie sind vor Tag hier und man wird dann auf der Stelle das Gitter anbringen,« antwortete eine Stimme, welche aus der Tiefe der Erde hervorzukommen schien.

»Und Du wirst das Vaterland gerettet haben l« sagte Santerre halb spöttisch, halb ernsthaft.

»Du glaubst nicht, wie sehr Du Recht hast, Bürger General,« murmelte Gracchus.

XXXVIII.
Das königliche Kind

Der Proceß der Königin hatte indessen begonnen, wie man im vorhergehenden Kapitel sehen konnte.

Bereits ließ man durchschauen, durch das Opfer dieses erhabenen Hauptes würde der seit langer Zeit murrende Volkshaß endlich gestillt werden.

Es fehlte nicht an Mitteln, um diesen Kopf fallen zu machen, und dennoch hatte Fouquier-Tinville, der öffentliche Ankläger, beschlossen, die neuen Anklagemittel, welche Simon zu seiner Verfügung zu stellen versprochen, nicht zu vernachlässigen.

Am Tage, nachdem Simon und er sich in der Salle des Pas-Perdus begegnet hatten, machte das Geräusch der Waffen im Temple die Gefangenen, welche denselben noch bewohnten, abermals beben.

Diese Gefangenen waren Madame Elisabeth, Madame Royale und das Kind, das, nachdem man es in Wiege Majestät genannt hatte, nur noch der kleine Luis Capet hieß.

Der General Santerre kam mit seinem dreifarbigen Federbusch, seinem dicken Rosse und seinem großen Säbel, gefolgt von mehreren Nationalgarden, in den Thurm, worin das königliche Kind schmachtete.

 

An der Seite des Generals ging ein Schreiber von schlimmem Aussehen, der ein Schreibzeug und eine Rolle Papier trug und mit einer übermäßig langen Feder focht.

Hinter dem Schreiber kam der öffentliche Ankläger. Wir haben ihn gesehen, wir kennen ihn und werden ihn später wiederfinden, diesen trockenen, gelben, kalten Mann, dessen blutiges Auge selbst den wilden Santerre in seinen: Kriegsharnisch schauern machte.

Einige Nationalgarden und ein Lieutenant folgten ihnen.

Mit einem falschen Gesichte lächelnd und in einer Hand seine Mütze von Bärenfell, in der andern seinen Knieriemen haltend, schritt ihnen Simon voran, um der Commission den Weg zu zeigen,

Sie kamen an ein ziemlich dunkles, geräumiges, kahles Zimmer, in dessen Hintergrund auf seinem Bett der junge Ludwig in einem Zustande völliger Unbeweglichkeit saß.

Als wir das arme Kind vor dem viehischen Zorne Simons fliehen sahen, war in ihm noch eine Art von Lebensthätigkeit, welche gegen die unwürdige Behandlung des Schusters vom Temple sich sträubte: es floh, es schrie, es Weinte; es hatte also Furcht, es litt, es hoffte.

Heute waren Furcht und Hoffnung verschwunden; ohne Zweifel bestand sein Leiden noch, doch wenn es bestand, so verbarg das Märtyrerkind, das man die Fehler seiner Eltern auf eine so grausame Weise bezahlen ließ, sein Leiden in der Tiefe seines Herzens und verschleierte es unter dem Anscheine völliger Unempfindlichkeit.

Das Kind schaute nicht einmal empor, als die Commissäre auf sein Bett zugingen.

Diese nahmen ohne Umstände Sitze und ließen sich nieder: der öffentliche Ankläger oben am Bett, Simon unten, der Schreiber beim Fenster, die Nationalgarden und ihr Lieutenant auf der Seite und ein wenig im Schatten.

Diejenigen unter den Anwesenden, welche den kleinen Gefangenen mit einiger Theilnahme oder mit einiger Neugierde anschauten, bemerkten die Blässe des Kindes, der seltsamen Umfang seines Leibes, was nichts Anderes als Aufgedunsenheit war, und die Biegung seiner Beine, an den Gelenken aufzuschwellen begannen.

»Dieses Kind ist sehr krank,« sagte der Lieutenant mit einer Bestimmtheit, welche Fouqnier-Tinville, der bereits saß und zu fragen im Begriff war, sich umzuwenden veranlaßte.

Der kleine Capet schlug die Augen aus, suchte im Halbschatten denjenigen, welcher diese Worte gesprochen und erkannte denselben jungen Mann, welcher schon einmal im Hofe des Temple Simon ihn zu schlagen verhindert hatte. Eine sanfte, verständige Strahlung kreiste in seinen dunkelblauen Augensternen, doch dies war Alles.

»Ah! ah! Du bist es, Bürger Lorin,« sprach Simon der auf diese Art die Aufmerksamkeit von Fouquier-Tinville auf den Freund von Maurice lenkte.

»Ich selbst, Bürger Simon,« erwiderte Lorin mit seiner unstörbaren Festigkeit.

Und da Lorin, obgleich stets bereit, der Gefahr ins Auge zu schauen, nicht der Mann war, der sie unnöthig suchte, so benutzte er diesen Umstand, um Fouquier-Tinville zu grüßen, welcher ihm seinen Gruß höflich erwiderte.

»Du bemerkst, glaube ich, Bürger, das Kind sei krank,« sagte der öffentliche Ankläger; »bist Du ein Arzt?

»Ich habe wenigstens die Arzneiwissenschaft studiert, wenn ich auch kein Doctor bin.«

»Nun, was findest Du an ihm?«

»Als Symptom von Krankheit?« fragte Lorin.

»Ja.«

»Ich finde die Backen und die Augen aufgedunsen, die Hände bleich und mager, die Kniee geschwollen, und wenn ich ihm den Puls fühlen würde, so fände ich sicherlich eine Bewegung von fünf und achtzig bis neunzig Schlügen in der Minute.«

Das Kind schien unempfindlich für die Auszählung seiner Leiden.

»Und welchem Umstande kann die Wissenschaft den Zustand des Gefangenen zuschreiben?« fragte der öffentliche Ankläger.

Lorin kratzte sich an der Nasenspitze und murmelte:

 
»Philis will mich sprechen machen,
Doch mir fehlt die Lust dazu.«
 

»Meiner Treue, Bürger,« erwiderte er, »ich kenne die Lebensordnung des kleinen Capet nicht genug, um Dir zu antworten, aber . . .«

Simon horchte aufmerksam und lachte in die Faust, als er seinen Feind sich zu compromittiren im Begriff sah.

»Aber ich glaube,« fuhr Lorin fort, »er macht sich nicht genug Bewegung.«

»Ich glaube es selbst, der kleine Schelm will nicht gehen,« sagte Simon.

Das Kind blieb unempfindlich für die Rede des Schusters.

Fouquier-Tinville stand auf, ging auf Lorin zu und sprach ganz leise mit ihm.

Niemand hörte die Worte des öffentlichen Anklägers, doch diese Worte hatten offenbar die Form der Frage.

»Oh! oh! glaubst Du das, Bürger? Das ist sehr ernst für eine Mutter.«

»In jedem Fall werden wir es erfahren,« sprach Fouquier; »Simon behauptet, er habe es selbst den Knaben sagen hören, und macht sich anheischig, es ihn zugestehen zu lassen.«

»Das wäre abscheulich,« versetzte Lorin; »doch es ist um Ende möglich; die Oesterreicherin ist nicht frei von Sünden und man hat, mit Recht oder mit Unrecht, das geht mich nichts an, eine Messalina aus ihr gemacht; doch daß man sich nicht hiermit begnügt und auch noch eine Agrippina aus ihr machen will, das kommt mir, ich muß es gestehen, ein wenig stark vor.«

»Es ist dies von Simon berichtet worden,« sprach Fouquier unempfindlich.

»Ich zweifle nicht daran, daß Simon dies gesagt hat . . . es gibt Menschen, welche vor keiner Anklage zurückschrecken . . . Doch findest Du nicht,« fuhr Lorin fort, indem er Fouquier fest anschaute, »findest Du nicht, Du, der Du ein verständiger und rechtschaffener Mann bist, Du, der Du ein starker Mann bist, daß von einem Kinde solche Einzelheiten über diejenigen fordern, welche zu verehren ihm durch die heiligsten Gesetze der Natur geboten ist, beinahe das ganze Menschengeschlecht in der Person dieses Kindes verletzen heißt?«

Der öffentliche Ankläger veränderte keine Miene; er zog eine Note aus seiner Tasche und zeigte sie Lorin.

»Der Convent befiehlt mir, eine Untersuchung anzustellen,« sagte er, »das Uebrige geht mich nichts an, und ich untersuche.«

»Das ist richtig,« sprach Lorin, »und ich gestehe, wenn dieses Kind bekennen würde . . .«

Hier unterbrach sich der junge Mann und schüttelte den Kopf voll Abscheu.

»Übrigens verfahren wir nicht allein aus die Dennunciation von Simon,« fuhr Fouquier fort; »sieh, die Anklage ist öffentlich.«

Und er zog ein zweites Papier aus seiner Tasche.

Dies war eine Nummer von einem Blatt, das le Vère Duchesne hieß und bekanntlich von Hebert redigiert wurde.

Die Anklage war wirklich ganz scharf und mit allen Buchstaben hierin gestellt.

»Es ist geschrieben, es ist sogar gedruckt,« sagte Lorin; »doch gleichviel, bis ich eine solche Anklage aus dem Munde des Kindes, wohl verstanden, freiwillig, ohne Zwang, ohne Drohungen habe kommen hören . . . nun! . . .«

»Nun?«

»Werde ich trotz Simon und Hebert zweifeln, wie Du selbst zweifelst.«

Simon beobachtete ungeduldig den Ausgang dieses Gespräches; der Elende wußte nichts von der Gewalt, den auf den verständigen Menschen der Blick ausübt, welchem er in der Menge begegnet; es ist ein Anziehungsmittel voll Sympathie, oder ein Eindruck voll scharfen Hasses. Zuweilen ist es eine Macht, welche zurückstoßt, zuweilen eine Kraft, welche anzieht, welche den Geist und die Persönlichkeit des einen Menschen bis zu dem andern Menschen von gleicher Kraft oder von überlegener Kraft, den er in der Menge erkennt, überfließen macht.

Doch Fouquier hatte das Gewicht dieses Blickes von Lorin gefühlt und wollte von diesem Beobachter begriffen sein.

»Das Verhör beginnt,« sprach der öffentliche Ankläger; »Schreiber, nimm die Feder.«

Dieser hatte den Eingang eines Protokolls geschrieben und wartete, wie Simon, wie Santerre, kurz, wie Alle, bis das Gespräch von Fouquier-Tinville und Lorin beendigt wäre.

Das Kind allein schien völlig der Szene fremd, dessen Hauptperson es war, und hatte wieder den abgespannten Blick angenommen, der einen Moment von dem Blitze einer höheren Intelligenz erleuchtet worden war.

»Stille!« sagte Santerre; »der Bürger Fouqnier-Tinville wird das Kind verhören.«

»Capet,« sprach der öffentliche Ankläger, »weißt Du, was aus Deiner Mutter geworden ist?«

Der kleine Louis ging von einer Marmorblässe zu einer brennenden Röthe über, doch er antwortete nicht.

»Hast Du nicht gehört, Capet?« fragte der Ankläger.

Dasselbe Stillschweigen.

»Oh! er hört wohl,« sagte Simon, »doch er ist wie die Affen, er will nicht antworten, aus Furcht, man könnte ihn für einen Menschen halten und arbeiten lassen,«

»Antworte, Capet,« sprach Santerre; »die Commission des Convents befragt Dich und Du bist den Gesetzen Gehorsam schuldig.«

Das Kind erbleichte, antwortete aber nicht.

Simon machte eine Gebärde der Wuth; bei solchen viehischen, albernen Naturen ist die Wuth eine Trunkenheit, begleitet von den häßlichen Symptomen des Weinrausches.

»Willst Du antworten, kleiner Wolf?« rief er, indem er ihm die Faust wies.

»Schweige, Simon,« sprach Fouquier-Tinville, »Du, hast nicht das Wort.«

Diese Rede, welche er sich bei dem Revolutionstribunal angewöhnt hatte, entschlüpfte ihm,

»Hörst Du, Simon?« sagte Lorin, »Du hast nicht das Wort; es ist das zweite Mal, daß man es Dir in meiner Gegenwart sagt; das erste Mal geschah es, als Du die Tochter der Tison anklagtest, welcher Du den Kopf abschlagen zu lassen das Vergnügen hattest.«

Simon schwieg.

»Liebte Dich Deine Mutter, Capet?« fragte Fouquier.

Dasselbe Stillschweigen.

»Man sagt, nein,« fuhr der Ankläger fort.

Etwas wie ein bleiches Lächeln zog über die Lippen des Kindes hin.

»Aber wenn ich Euch sage,« brüllte Simon, »daß er mir selbst gesagt hat, sie habe ihn nur zu sehr geliebt.«

»Schau, Simon, wie ärgerlich es ist, daß der kleine Capet, unter vier Augen so schwatzhaft, vor den Leuten stumm wird,« versetzte Lorin.

«Oh! wenn wir allein wären! rief Simon.

»Ja, wenn Ihr allein wäret, doch Ihr seid leider nicht allein. Oh! wenn Ihr allein wäret, braver Simon, vortrefflicher Patriot, wie würdest Du das arme Kind durchprügeln, nicht so? Doch Du bist nicht allein, und Du wagst es nicht, schändlich zu sein, vor uns ehrlichen Leuten, Die wir wissen, daß die Alten, nach denen wir uns zu formen suchen, Alles respectirten, was schwach war; Du wagst es nicht, denn Du bist nicht allein und nicht muthig, mein würdiger Mann, wenn Du Kinder von fünf Fuß sechs Zoll zu bekämpfen hast.«

»Oh!. . . murmelte Simon mit den Zähnen knirschend.

»Capet,« fuhr Fouquier fort, »hast Du Simon ein Geständniß gemacht?«

Der Blick des Kindes nahm, ohne sich abzuwenden, einen nicht zu beschreibenden Ausdruck von Ironie an.

»Über Deine Mutter,« sagte der Ankläger.

Ein Blitz der Verachtung zuckte in dem Blicke.

»Antworte, ja oder nein!« rief Santerre,

»Antworte ja!« brüllte Simon, seinen Knieriemen über dem Kinde schwingend.

Das Kind bebte, machte aber keine Bewegung, um den Schlag zu vermeiden.

Die Anwesenden stießen einen Schrei des Widerwillens aus.

Lorin that mehr, er stürzte vor und packte Simon, ehe sich sein Arm gesenkt hatte, beim Faustgelenk.

»Willst Du mich loslassen?« schrie Simon, purpurroth m Wuth.

»Laß hören,« sagte Fouquier, »es ist nichts Schlimmes daran, daß eine Mutter ihr Kind liebt; sage uns, auf welche Weise Deine Mutter Dich liebte, Capet. Das kann ihr nützlich sein.«

Der junge Gefangene bebte bei dem Gedanken, er könnte seiner Mutter nützlich sein, und antwortete:

»Sie liebte mich wie eine Mutter ihren Sohn liebt, min Herr; es gibt nicht zwei Weisen für die Mütter, ihre Kinder zu lieben, und eben so wenig für die Kinder, ihre Mutter zu lieben.«

»Und ich, kleine Schlange, behaupte, daß Du mir gesagt hast. Deine Mutter . . .«

»Du wirst Das geträumt haben,« unterbrach ihn Lorin ruhig, »Du mußt oft den Alp haben, Simon.«

»Lorin! Lorin!« knirschte Simon.

»Nun wohl, ja, Lorin, und was hernach? Es ist nicht möglich, ihn zu schlagen, diesen Lorin, er schlägt die anderen, wenn sie boshaft sind; es ist nicht möglich, ihn zu denunciren, denn das, was er getan, indem er Deinen Arm zurückgehalten, hat er vor dem General Santerre, und dem Bürger Fouquier-Tineille, die es billigen, getan, und diese sind keine Laue! Es ist also nicht möglich, ihn ein wenig guillotinieren zu lassen, wie Heloise Tison; das ist ärgerlich, das ist sogar zum Rasend werden, doch es ist nun einmal so, mein armer Simon!«

»Später! später!« erwiderte der Schuster mit seinem hyänenartigen Grinsen.

»Ja, lieber Freund,« sagte Lorin, »doch mit der Hilfe des höchsten Wesens! . . . ah! Du erwartetest, ich würde sagen mit der Hilfe Gottes. . .? Mit der Hilfe des höchsten Wesens und meines Säbels hoffe ich Dir zuvor den Bauch aufgeschlitzt zu haben; doch tritt nun aus die Seite, Simon, Du hinderst mich, zu sehen . . .«

 

»Schurke!«

»Schweig! Du hinderst, mich zu hören.«

Lorin schmetterte Simon gleichsam mit seinem Blicke nieder.

Simon ballte seine Fäuste, auf deren schwarze Flecken er stolz war; doch er mußte sich, wie Lorin gesagt hatte, hierauf beschränken.

»Nun, da er zu sprechen begonnen hat, wird er wohl auch fortfahren,« sagte Santerre; »fahre fort, Bürger Fouquier.«

»Willst Du nun antworten?« fragte Fouquier.

Das Kind schwieg wieder.

»Du siehst, Bürger, Du siehst!« rief Simon.

»Die Hartnäckigkeit dieses Kindes ist seltsam,« sagte Santerre, unwillkührlich bewegt durch diese ganz königliche Festigkeit,

»Es ist schlecht berathen,« bemerkte Lorin.

»Durch wen?« fragte Santerre.

»Verdammt! durch seinen Patron.«

»Du klagst mich an?« rief Simon, »Du denuncirst mich! Ah! das ist sonderbar.«

»Wir wollen das Kind durch sanfte Worte zu gewinnen suchen,« sagte Fouquier und wandte sich gegen dm Knaben um, den man hätte für gänzlich unempfindlich halten sollen.

»Lassen Sie hören, mein Kind,« sprach er, »antworten Sie der Nationalcommission; erschweren Sie nicht Ihre Lage dadurch, daß Sie uns nützliche Aufklärungen verweigern; Sie haben dem Bürger Simon von Liebkosungen erzählt, die Ihnen Ihre Mutter machte, Sie haben ihm von der Weise, wie sie Ihnen diese Liebkosungen machte, von ihrer Weise, Sie zu lieben, gesprochen.«

Ludwig ließ aus der Versammlung einen Blick umhergehen, der von Haß entbrannte, als er zu Simon gelangte.

»Sie finden sich unglücklich?« fragte der öffentliche Ankläger; »Sie finden Ihre Wohnung schlecht, Sie sind den Ihre Kost schlecht, Sie finden sich schlecht behandelt; wollen Sie mehr Freiheit, einen andern Tisch, ein anderes Gefängniß, einen andern Wächter? Wollen Sie ein Pferd, um spazieren zu reiten? Wollen Sie, daß man Ihnen die Gesellschaft von Kindern Ihres Alters bewilligt?«

Ludwig verharrte in seinem tiefen Stillschweigen, von dem er nur abgewichen war, um seine Mutter zu vertheidigen.

Die Commission blieb verblüfft vor Erstaunen; so viel Festigkeit, so viel Verstand waren unglaublich.

»Oh! diese Könige,« sagte Santerre mit leiser Stimme, »welch eine Race! es ist wie bei den Tigern, noch ganz klein sind sie voll Bosheit.«

»Wie soll ich das Protokoll abfassen?« fragte der Schreiber ganz verlegen.

»Damit kann man nur Simon beauftragen,« versetzte Lorin, »es ist nichts zu schreiben, und das wird am Besten in seinen Kram taugen.«

»Simon wies seinem unversöhnlichen Feinde die Faust. Lorin lachte.

»Du wirst nicht so lachen an dem Tag, wo Du in den Sack nießen mußt,« rief Simon trunken vor Wuth.«

»Ich weiß nicht, ob ich bei der kleinen Ceremonie, mit der Du mich bedrohst, vorangehen oder folgen werde.« sprach Lorin; »aber ich weiß, daß Viele an dem Tage, wo die Reihe an Dich kommt, lachen werden. Götter. . . ich habe gesagt Götter in der Mehrzahl . . . Götter! wie häßlich wirst Du an diesem Tage sein, Simon, Du wirst abscheulich aussehen!« rief Lorin und zog sich mit einem treuherzigen Gelächter hinter die Commission zurück.

Die Commission hatte nichts mehr zu thun; sie entfernte sich.

Als das Kind sich von seinen Fragern befreit sah, fing es an auf seinem Bett ein schwermüthiges, kleines Lied zu singen, welches das Lieblingslied seines Vaters gewesen war.