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3. Niedergang im Nationalsozialismus

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Trotz seiner Technizität und Fachlichkeit war das Verwaltungsrecht samt seiner Wissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus einem beispiellosen Niedergang ausgesetzt. Nach einzelnen „Rettungsversuchen“ rechtsstaatlicher Elemente durch Anpassung an die neue Lage in der Anfangsphase dominierte bald eine nicht nur antipositivistische, antiformalistische und selbstredend antiparlamentarische, sondern geradezu gegen das rechtliche Element gerichtete Tendenz, wie sie in der Umstellung von Verwaltungsrecht auf „Verwaltung“ in Lehrbuchtiteln und Vorlesungsbezeichnungen zum Ausdruck kam.[41] Gesetzmäßigkeit sollte lediglich den „Vorrang des Führerwillens“ garantieren und „Rechtmäßigkeit“ aus einer konkreten gemeinschaftsgeprägten Ordnung resultieren, die subjektive öffentliche Rechte unter Entwertung verwaltungsgerichtlicher Kontrolle durch eine „volksgenössische Rechtsstellung“ und Gewaltenteilung durch das Führerprinzip ersetzt hatte.[42] Eher etatistische Konzeptionen von sachtreuer Verwaltung im „totalen Staat“[43] konkurrierten mit einer Degradierung der Administration zum Apparat in den Händen von Führung und Bewegung.[44]

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Mit der Auflösung der Rechtsformen ging die programmatische Forderung nach einer Orientierung an der veränderten Verwaltungswirklichkeit und den Verwaltungszwecken einher, die politisch funktionalisierte Begriffe wie „Planung“ und „Raumordnung“ akzentuierte und der Verwaltungswissenschaft einen Bedeutungszuwachs bescherte.[45] Als innovativer „Brückenbegriff“ lässt sich Ernst Forsthoffs im Rückgriff auf Hegel wie Heidegger und Jaspers entwickelte und als Entsprechung zum französischen Institut der services publics gedachte „Daseinsvorsorge“ verstehen. Diese gilt einer sozialen Bedürftigkeit, in die der moderne Mensch auf Grund einer permanenten Verengung des vom Einzelnen selbst beherrschten Lebensraumes geraten sein soll.[46] Existenzielle Lebensgüter wie Wasser, Gas und Elektrizität bedürften solidarischer Veranstaltungen, an deren „Teilhabe“ ein elementares Interesse, aber auch Recht des Einzelnen bestehe, und zwar von vergleichbar höherem Stellenwert als die Garantien individueller Freiheit. Forsthoffs „glücklicher Griff“ steht im Kontext jener „Langzeitentwicklungen“ der Industriegesellschaften, die „durch den Nationalsozialismus hindurch“ gingen.[47]

4. Neubeginn unter dem Bonner Grundgesetz

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Nach der „deutschen Katastrophe“ stand der Nachdruck des Lehrbuches von Walter Jellinek (1948) für ein Wiederanknüpfen an die Bestände vor 1933. Hingegen reklamierten die zu wesentlichen Teilen schon während des Krieges verfassten Lehrbücher des unbelasteten Hans Peters und von Forsthoff einen Selbststand, der sich aus einer kaum rezipierten methodischen Verbindung von Verwaltungsrecht mit Verwaltungslehre und -politik[48] bzw. einem reichlich eigenwilligen Konzept rechtsstaatlicher Durchdringung einer veränderten Verwaltungswirklichkeit ergeben[49] sollte. Forsthoffs Lehrbuch blieb mit zehn Auflagen bis Anfang der siebziger Jahre die „erste Autorität im Verwaltungsrecht“,[50] wenn auch eine gewisse „rechtsdogmatische Unterbilanz“ bei dem mehr auf Leitideen als auf klassische Rechtsbegriffe ausgehenden Werk zu vermerken ist.[51] Auf Grund ihrer daseinsvorsorgenden und sozialgestaltenden Funktion, aber auch ihrer Bedeutsamkeit angesichts der Gefahren des technisch-industriellen Fortschritts führt die Verwaltung bei Forsthoff ein Eigenleben gegenüber der bürgerlich-rechtsstaatlichen Verfassung, das von eigenen Rechtsprinzipien geprägt ist.[52] Als literarisches Pendant in der frühen Bundesrepublik fungierte das dreibändige „Verwaltungsrecht“ von Hans Julius Wolff, das im Rechtsquellenkapitel in einer Nachwehe der Naturrechtsrenaissance[53] den „verfassungsgestaltenden Grundentscheidungen“ immerhin noch die „Rechtsgrundsätze“ voranstellte, die zwar nur „subsidiär“ zur Anwendung kämen, aber als „unabdingbares Fundament der Gesamt- und der Teilrechtsordnungen stets höchstrangig“ seien.[54] Die Lesbarkeit des seit 1974 von Otto Bachof fortgeführten Werkes leidet unter einer Gliederungsmanie, die wohl einer systematischen Bändigung und terminologisch prägnanten Verarbeitung der wachsenden Stoffmenge dienen sollte.[55] Zu den wichtigsten Begriffsprägungen Wolffs zählt das „Verwaltungsprivatrecht“,[56] um die Verfolgung öffentlicher Zwecke in privatrechtlichen Formen zu bezeichnen und öffentlich-rechtlichen Bindungen zu unterstellen, die eine „Flucht ins Privatrecht“ partiell neutralisieren.

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Schrittweise hat sich, ähnlich wie im Italien der Nachkriegszeit, aber im Gegensatz etwa zum vergleichsweise offeneren französischen Verwaltungsrechtssystem, im bundesrepublikanischen Verwaltungsrecht und seiner Wissenschaft die „durchgängige Verfassungsabhängigkeit des Verwaltungsrechts“ durchgesetzt,[57] Ende der fünfziger Jahre überspitzt formuliert in der These vom „Verwaltungsrecht als konkretisiertem Verfassungsrecht“.[58] Impulsgebend wirkte die Anordnung unmittelbarer Grundrechtsbindung jedweder öffentlichen Gewalt in Art. 1 Abs. 3 Grundgesetz, verbunden mit einer allmählichen Entfaltung von Grundrechtsfunktionen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die über die reine Eingriffsabwehr hinaus die auf die gesamte Rechtsordnung ausstrahlende objektive Wertentscheidung sowie die Teilhabe-, Schutz- und Verfahrensdimension herausstellte.[59] Hinzu trat das „formelle Hauptgrundrecht“ des Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz, das gegenüber der parlamentarisch gesteuerten und kontrollierten Exekutive, wiederum angeleitet durch das Bundesverfassungsgericht, jenen effektiven Rechtsschutz eröffnete, der gegenüber der monarchischen Exekutive so nie bestanden hatte.[60] In der Folge verloren nicht nur die „besonderen Gewaltverhältnisse“ namentlich in Schule, Militär und Gefängnis ihre verfassungsrechtliche Exemtionswirkung, sondern der Vorbehalt des Gesetzes erfuhr gemäß einer aus den Grundrechten, dem Rechtsstaats- und dem Demokratieprinzip hergeleiteten Doktrin eine Ausdehnung über den klassischen Eingriffsbereich hinaus auf alle „wesentlichen Entscheidungen“ im Staat, wohingegen sich ein „Totalvorbehalt“ auch im Bereich der Leistungsverwaltung[61] nicht durchsetzen konnte.[62] Die durchschlagende Verrechtlichung ging auf der Ebene des einfachen Rechts mit einer umfassenden „Subjektivierung des Staat-Bürger-Verhältnisses“ einher,[63] die im Rahmen einer „geradezu kopernikanischen Wende“ insbesondere für drittbetroffene Nachbarn und Konkurrenten im polygonalen Verwaltungsrechtsverhältnis „unter dem Gestrüpp objektiver Normen“ und vormals reiner Rechtsreflexe zunehmend subjektiv-öffentliche Rechte entdecken ließ.[64] Administrative Entscheidungsspielräume in Form von Ermessen aber auch von Beurteilungsspielräumen in bestimmten Konstellationen der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe, insbesondere im Prüfungs- und teilweise im Technikrecht, unterlagen rechtlicher Disziplinierung und einer wachsenden Kontrolldichte seitens der Verwaltungsgerichte,[65] dabei immer auch einer Verhältnismäßigkeitsprüfung der Rechtsanwendung im Einzelfall. Über den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz entfalteten schließlich auch die binnenrechtlich angelegten ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften eine die Verwaltung selbst bindende Außenwirkung.[66] Motor dieser Entwicklung waren in einem beträchtlichen Ausmaß die Verwaltungsgerichte, nicht jedoch ohne Vor- und Nacharbeit der nicht ohne weiteres zur „Verwaltungsgerichtswissenschaft“[67] abstufbaren Verwaltungsrechtswissenschaft. Zusammengenommen hat die beschriebene Verbindung von materieller Verrechtlichung, Subjektivierung und Judizialisierung rückblickend im europäischen Vergleich von einem neuen deutschen Sonderweg sprechen lassen.[68]

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Im Bereich der Handlungsformenlehre hat die Zentrierung auf den Verwaltungsakt mit den Jahren abgenommen, zumal das durch eine Generalklausel weit gestellte Verwaltungsprozessrecht ihm nicht erst seit Einführung der bundesgesetzlichen Verwaltungsgerichtsordnung (1960) seine rechtsschutzeröffnende Bedeutung genommen hatte.[69] Wissenschaftlichen Auftrieb erhielt Ende der fünfziger Jahre der verwaltungsrechtliche Vertrag durch das fast zeitgleiche Erscheinen einer Serie seine rechtliche Zulässigkeit attestierender Abhandlungen.[70] Geblieben ist jedoch eine weitgehende Fokussierung auf einen nach außen gerichteten abschließenden Entscheidungsakt, wenn auch die Betonung des „Rechtsverhältnisses“ als „viel umfassenderes Institut“[71], gerade in den leistungsverwaltungsrechtlichen Dauerbeziehungen, wie des Verfahrensgedankens,[72] noch über die Vorgaben des 1976 kodifizierten Verwaltungsverfahrensgesetzes hinaus, hier relativierend gewirkt hat. Einen teils euphorischen Aufschwung erlebten seit den sechziger Jahren das Instrument der Planung[73] und in der Folge das Planungsrecht mit einer ausziselierten Sonderdogmatik. Damit ging eine partielle Umstellung von der klassischen Konditional- hin zur vergleichsweise offenen und abwägungsabhängigen Finalprogrammierung einher, wie die in den siebziger Jahren zeitweilig wieder ambitionierte Verwaltungswissenschaft vermerkte.[74]

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 58 Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Deutschland › II. Die gegenwärtige Wissenschaft vom Verwaltungsrecht

II. Die gegenwärtige Wissenschaft vom Verwaltungsrecht
1. Schulenbildung und Richtungsstreit

a) Konsolidierung der rechtsakt- und rechtsschutzbezogenen Dogmatik

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Mit den Mitteln einer im Wesentlichen normativ orientierten Rechtsdogmatik erfolgte der Ausbau der „alten“ Bundesrepublik zum teilweise schon als hypertroph kritisierten Rechtsschutzstaat.[75] Die Perspektive von Verwaltungsgerichten und Verwaltungsrechtswissenschaft richtete sich vornehmlich auf isolierbare Rechtsakte,[76] die nach Maßgabe subjektiv-öffentlicher Rechte einer justiziellen Kontrolle zugeführt und hierbei der Maßstäblichkeit der Verwaltungsrechtsordnung unterworfen wurden. Eine solchermaßen rechtsschutzzentrierte Betrachtung legte den Akzent auf das in den Rechtskreis des Bürgers hineinwirkende staatliche Entscheidungsergebnis, weniger hingegen auf das vorgängige Verfahren und die interne Organisation des Entscheidungsträgers. Im Mittelpunkt standen die materiellen Gesetzesprogramme in Form von Eingriffsermächtigungen und Anspruchsnormen,[77] die Rechts- und Handlungsformen der Verwaltung, punktuelle Regelungen des Verwaltungsverfahrens sowie das Verwaltungsprozessrecht. Das einschlägige positive Recht wurde im Wege juristischer Interpretation und Begriffsbildung strukturiert und erschlossen, durch Ausbildung dogmatischer Figuren, Institute und Grundsätze[78] aufbereitet, gelehrt und angewandt. Schwierigkeiten bereitete der formgebundenen Denk- und Arbeitsweise die Verarbeitung von Innovationen, etwa des Phänomens der Planung, das sich nicht ohne weiteres in die überkommenen Kategorien fügte und zur Ausbildung eines eigenen Planungsrechts führte.[79] Anpassungsleistungen erforderte auch das Zusammentreffen öffentlich-rechtlicher und privatrechtlicher Gestaltungselemente, zuvörderst im Subventionsrecht, die Expansion der gesetzlich unterbestimmten Leistungsverwaltung,[80] das weite Spektrum administrativer Rechtsetzung,[81] die polygonale Struktur von Verwaltungsrechtsverhältnissen, die Bewältigung technischer und ökologischer Risiken mit hoher Prognoseunsicherheit,[82] das verstärkte Aufkommen informalen Verwaltungshandelns in Form von Warnungen, Empfehlungen und Absprachen[83] sowie die zahlreichen Erscheinungsformen von Privatisierung und schließlich Europäisierung im Bereich der Verwaltung. Summa summarum ließen sich die neu auftretenden Problemstellungen mit einer offen gehandhabten juristischen Methode kleinarbeiten, zumindest aber lokalisieren und illustrieren, indem der normative Bezugsrahmen durchaus kreativ, sei es in Form der Zweistufentheorie,[84] der Rechtsverhältnislehre,[85] des Verwaltungsakts mit Drittwirkung,[86] der Scheidung von Innen- und Außenrecht, Verfahrensfehlerfolgenlehre[87] oder Privatisierungstypologien[88] den Veränderungen in der Verwaltungswirklichkeit anverwandelt wurde. Größere Krisen wollen Vertreter der „alten“ Verwaltungsrechtswissenschaft rückblickend weder erkennen, noch erscheint ihnen die erreichte Gestalt ihrer Wissenschaft „grundsätzlich oder umfassend defizitär“.[89] Das seit 1980 wohl erfolgreichste Lehrbuch des Fachs bildet von einem entsprechenden Verständnis des Verwaltungsrechts als dem „Inbegriff der [...] Rechtssätze, die in spezifischer Weise für die Verwaltung [...] gelten“,[90] seinen Gegenstand rechtsdogmatisch ab, nicht ohne eine „gewisse Zurückhaltung gegenüber neuen Entwicklungen“ attestiert zu bekommen.[91] An der Vorgabe „Rechtswissenschaft ist zumindest systematisch oder sie ist nicht“ (Hans Julius Wolff) wird ausdrücklich festgehalten.[92]

b) Kritik der „Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“

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Die „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“ sieht sich als Ergebnis einer Krise, die gegen Ende der achtziger Jahre eine „tief greifende Umbruchphase“ im deutschen Verwaltungsrecht eingeleitet habe.[93] Vollzugsdefizite, belegt durch empirische Implementationsforschung namentlich im Umweltrecht, sowie verbreitete Kooperations- einschließlich paralegaler Duldungspraktiken, Informationsdefizite und -dilemmata, ungeheure Aufgaben- und Komplexitätszuwächse, schließlich der untergründige „Wandel des bürgerlichen Rechtsstaats zum intervenierenden Wohlfahrts- und Präventionsstaat“ erforderten einen „grundsätzlichen Umbau des Verwaltungsrechts und seiner Dogmatik“.[94] Der doppelspurige Ansatz umschließt ein über das herkömmliche normverwertende Wissenschaftsverständnis hinausgehendes, auf Dauer gestelltes rechts- und verwaltungspolitisches Reformanliegen, um dem „komplexen Zusammenhang zwischen Rechtsetzung, konkreter Entscheidung und Vollzug“ gerecht werden zu können.[95] Damit verbunden ist die Ergänzung der rechtsakt- um eine wirkungsbezogene Sicht auf das nunmehr primär als Verhaltens- und nur sekundär als Kontrollprogramm verstandene Verwaltungsrecht.[96] Die explizite Einbeziehung der Frage nach der „Zweckmäßigkeit einer Lösung“ samt der Erklärungskraft entsprechender wissenschaftlicher Argumente bedingt eine Schwerpunktverlagerung von der rechtsaktfixierten Dogmatik auf eine „problemorientierte Handlungsperspektive“.[97]

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Proklamiert im Einleitungsaufsatz eines dreibändig angelegten Handbuchs des Verwaltungsrechts, das die Erkenntnisse von zehn Tagungsbänden zur „Reform des Verwaltungsrechts“[98] systematisieren und fortschreiben will,[99] bezeichnet „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“ kein fertiges und homogenes Programm, sondern zeigt eine Richtungsänderung mit im Einzelnen noch unklarem Bewegungsverlauf an. Konzeptionell offen erscheint noch die Frage der Anlehnung entweder an den verwaltungswissenschaftlichen Steuerungsbegriff,[100] der eine Unterscheidbarkeit von Steuerungssubjekt und -objekt voraussetzt, oder den sozialwissenschaftlichen Leitbegriff „Governance“.[101] Letzterer eröffnet eine institutionalistische Perspektive auf Regelungsstrukturen, toleriert Grenzverwischungen aller Arten, legt den Anschluss an Netzwerkmodelle nahe und kann hybride Phänomene gegenwärtiger Verwaltung beschreiben, sperrt sich allerdings gegen klare normative Kompetenz- und Verantwortungszuschreibungen. Auch das mit dem Begriff des „Gewährleistungsstaates“ verbundene Konzept der „Regulierungsverwaltung“ sowie der „hoheitlich regulierten gesellschaftlichen Selbstregulierung“[102] bietet lediglich einen begrenzten, zudem „ungefilterten“[103] Zugriff auf die Verwaltungswirklichkeit, da sich dem modalen Ansatz keine Regulierungstatbestände und -maßstäbe entnehmen lassen. Greifbar ist das Anliegen einer problem- und wirkungs-, d.h. auch effizienzorientierten Handlungs- und Entscheidungswissenschaft, die die Bereitstellungs- und Bewirkungsfunktion von Recht ebenso berücksichtigt wie die „Qualität staatlich verantworteter Aufgabenerfüllung“ und die „Pluralität von normativen Legitimationsbausteinen“.[104] Nicht in der Sache, aber in der Konzentration und Verdichtung neu ist die Herausstellung des „Verfahrens-, Organisations- und Haushaltsrechts als wichtige Steuerungsressourcen“, die Betonung konsensualer, informaler und auch privatrechtlicher Techniken der Normumsetzung.[105] Neu vermessen werden unter Einbeziehung unter anderem der „Gewährleistungsverwaltung“ und des unübersehbaren Trends der „Ökonomisierung“ des Verwaltungshandelns die Typen hoheitlicher, kooperativer und privater Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben sowie Formen staatlicher Marktteilnahme.[106]

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Die „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“ übt nicht nur, sondern erntet auch massive Kritik, insbesondere ihre „Selbstausrufung“, die durch „Großschreibung den Anspruch auf die Verkörperung einer Epoche“ ankündige,[107] teils schon assoziiert mit „Neuer Republik“.[108] In der Tat stellt sich, wie vormals schon bei der Diskussion über das „Neue Verwaltungsrecht“, die Frage, inwieweit die „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“ mehr ist als eine „rein verbale Innovation“.[109] Ob sie am Ende einen „Quantensprung“ und „Traditionsbruch“ auslösen wird, bleibt abzuwarten.[110] Nüchterne Betrachtung anerkennt bereits jetzt die Bereicherung um „zusätzliche Themen und Perspektiven“ sowie die „sorgfältige Erweiterung und Ergänzung der Problemtafel“.[111]

c) Theorie und Methodik der Verwaltungsrechtswissenschaft

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Welche Methoden als Mittel und Wege der Problemlösung und Zielerreichung in der Verwaltungsrechtswissenschaft zur Anwendung kommen, hängt davon ab, was deren Aufgaben, Probleme und Ziele sind. Ihr liegt kein natürlich gegebener Gegenstand „Verwaltungsrecht“ zugrunde, der sich schlicht aus der Summe aller Rechtssätze einer festumrissenen und wissenschaftlich wohldefinierten Entität „Verwaltung“ ergeben würde. Vielmehr bedarf es zunächst einer Theorie dessen, was Verwaltungsrecht ausmacht und umfasst, die auch an einer Beschäftigung damit, wie der Bereich der „Verwaltung“ für ihre Zwecke sinnvoll aufgefasst werden kann, nicht vorbeikommt. Bereits dieser Bezugsrahmen, zu dem die Bestimmung der Ziele rechtswissenschaftlicher Forschung hinzutritt, sorgt für eine gehörige Komplexität des Methoden- und Theorieproblems und gestaltet sowohl die hiermit zumindest implizit belastete Wissenschaftstradition als auch die dies offen reflektierende gegenwärtige Diskussion zu einem „unübersichtlichen Terrain“.[112] Eine Reduktion der Verwaltungsrechtswissenschaft auf Normauslegung verfehlte folglich sowohl ihre historische als auch gegenwärtige Gestalt. Gewiss gehört auch die Interpretation verwaltungsrechtlicher Normen zum Beritt der Verwaltungsrechtswissenschaft, aber sie ist theoretisch voraussetzungsvoll jenseits der Fragen eines auf Textverständnis ausgehenden Methodenkanons. Auch und gerade das Wissenschaftsprogramm eines Otto Mayer zielte nicht primär auf gesetzespositivistische Erfassung und Auslegung eines gegebenen Normenbestandes. Im Sinne eines wissenschaftlichen Positivismus mit theoretischen wie politischen Hintergrundannahmen über das, was etwa Staatsgewalt und Rechtsstaatlichkeit bedeuten, ging es ihm vorrangig um eine Begriffs- und Typenbildung, die erst später, wenn auch nur teilweise, gesetzlich rezipiert wurde. Hieraus ergibt sich schon in den Anfängen eine Vielgestaltigkeit der juristischen Methode in der Verwaltungsrechtswissenschaft, die nicht klischeehaft verengt werden kann. Entsprechend voraussetzungsreich fällt der allgemeine Anspruch aus, in der Verwaltungsrechtswissenschaft „juristisch“ zu arbeiten. Was immer das im Einzelnen bedeuten mag, letztlich wird sich niemand von diesem Etikett verabschieden. In dieser unspezifischen Fassung kann die juristische Methode durchaus zur „Sinnmitte“ der (Verwaltungs-)Rechtswissenschaft erhoben werden[113] und lassen sich die ihr zugeordneten Funktionen unter anderem von Rationalitätsgewähr, Orientierungssicherheit, Entlastung und Kontrolle[114] als Funktionen modernen Rechts und seiner wissenschaftlichen Abbildung verstehen.

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Einen zentralen methodologischen Ausgangspunkt bildet die Normativität des Verwaltungsrechts, was auf der einen Seite die Eigentümlichkeiten und den Eigensinn von Recht markiert und eine Konzentration auf die Aufbereitung „normativen Wissens“ verlangt,[115] auf der anderen Seite die Bewirkungsfunktion von Rechtstexten unterstreicht, die es durch die Rechtsarbeit wirksam zu entfalten gilt.[116] In einem starken Sinne wird Normativität als „Wirklichkeitsphänomen“, als „fester Bestandteil“ der gesellschaftlichen Realität begriffen[117] und dem disziplinären Diskurs sogar anempfohlen, einmal die „Perspektive umzudrehen“ und die „juristische Rekonstruktion der Verwaltung den Sozialwissenschaften als ein Beschreibungsangebot zu unterbreiten“, zumal es in der Tat „keine Verwaltung ohne Verwaltungsrecht“ gibt.[118] Da Normen nicht nur im strikten Sollensmodus nach ihrem Geltungssinn mit spezifisch normativen Methoden bearbeitet werden können, sondern auch einer deskriptiven Erfassung zugänglich sind, erscheinen damit Brückenschläge zu empirisch verfahrenden Wissenschaften keineswegs ausgeschlossen.[119] Die hochgradig normative Verfassung der Verwaltung nicht nur, aber ganz wesentlich durch positives Verwaltungsrecht sichert spezifisch juristischen Methoden in der Verwaltungsrechtswissenschaft wie auch in der Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtspraxis einen hohen Stellenwert und stellt Rechtsdogmatik „als ein innersystematisch erarbeitetes Gefüge juristischer Begriffe, Institutionen, Grundsätze und Regeln“[120] unabkömmlich, ohne eine Abkapselung von nicht-dogmatischen Zugangsweisen zu erzwingen. In der modernen Forschung stehen von daher Aufgaben kontinuierlicher Systembildung und stabilisierender Systemnutzung neben einem steuerungswissenschaftlich begründeten Interesse an der Wirkungsdimension des Rechts,[121] einschließlich der nicht-normativen Bedingungen jener Praxis, die das Verwaltungsrecht verfasst und seine Wissenschaft folglich mitreflektiert. Überscharfe Kontrastierungen von einerseits normativ-dogmatischer und andererseits interdisziplinärer Verwaltungsrechtswissenschaft[122] verkennen die gegenwärtigen Entwicklungstendenzen und verschenken fruchtbare Verknüpfungsmöglichkeiten.

 

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Das Verwaltungsrecht als normativer Gegenstandsbereich der Verwaltungsrechtswissenschaft bildet eine ausgesprochen heterogene Materie mit unscharfen Rändern, die sich zudem im Umbruch befindet. Haben sich traditionell etwa Theorien daran abgearbeitet, öffentliches Recht, einschließlich des Verwaltungsrechts, vom Privatrecht abzugrenzen,[123] so gilt ein rein öffentlich-rechtliches Verständnis des Verwaltungsrechts inzwischen als „verkürzend“[124] und findet das „Verwaltungsprivatrecht“ sein Pendant in einem „Privatverwaltungsrecht“.[125] Schon angesichts der Vernetzung der Rechtsschichten im Europäischen Verwaltungsverbund zu einem „polykratischen Rechtsgefüge“[126] steht der Bedarf einer theoretischen „Neukonzeption“ der Rechtsquellenlehre „außer Frage“, wobei das Recht der Europäischen Union in Lehrbuchdarstellungen an die „Spitze“ gehören soll.[127] Hinzu treten die verstärkten Einwirkungen des internationalen Rechts, die Regelungen transnationaler Kooperation, aber auch die zunehmende Bedeutung von sog. Soft Law.[128] Die Arbeitsweise schwankt zwischen einer deskriptiven Erfassung von Neuerungen und einer normativ-präskriptiven Verarbeitung und Zensur nach Maßgabe der jeweiligen als „höherrangig“ insinuierten, die Rechtserzeugung steuernden Normen. Die hierbei zugrundegelegten Theoriemodelle müssen nicht zwangsläufig durchgängig hierarchisch aufgebaut sein.[129] In das Gravitationsfeld des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts geraten ist beispielsweise die klassische deutsche Diskussion um die Rechtssatzqualität des sog. Innenrechts, insbesondere der unterschiedlichen Arten von Verwaltungsvorschriften, die auch nach Überwindung der „Impermeabilitätsdoktrin“ von verfassungspolitisch motivierten theoretischen Prämissen getragen wird.[130] Systemprägend wirkt schließlich das Verfassungsrecht, das mit unterschiedlichen verfassungstheoretischen Akzentuierungen, sei es der demokratischen Steuerung, sei es der rechtsstaatlichen Rechtsschutzperspektive,[131] über sektorale Einwirkungen hinausgeht.[132]

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Methodisch zu bewältigen sind die vielfältigen, mehr oder minder verwaltungsrechtlich determinierten Erscheinungsformen der modernen Verwaltung. Mal tritt sie als Adressat von Rechtsnormen, mal als rechtlich ermächtigter und partiell gebundener Rechtsetzer, mal als Partner kooperativer Regelung, ggf. auf privatrechtlichem Territorium mit der Folge von Regimekollisionen, dann als rechts- und regelungsscheuer Akteur in informalen Beziehungsgeflechten auf. Selbstredend gehen die Methoden von Rechtsetzung und Rechtsanwendung nicht ineinander auf, auch wenn in beiden Idealtypen, zwischen denen sich ein Kontinuum aufspannt, Rechtsbindung und -konkretisierung Thema sind.[133] Unterschiedlich stellen sich auch die sich nur teilweise überlappenden Dimensionen von einerseits Handlungs- und andererseits Kontrollnorm dar. Diese verweisen auf „Grundtypen von Entscheidungssituationen“, etwa in Form eines „Fehlervermeidung plus zweckgerichtete Gestaltung“ intendierenden Verhaltensauftrags oder eines Kontrollprogramms „zur Überprüfung eines schon erlassenen Rechtsakts“.[134] In die Theoriebildung einzustellen sind zudem verschiedene Stärken der rechtlichen Programmierung, die zum Teil explizit Freiräume und Optionen eröffnen, klassisch durch Ermessenseinräumung, aber auch durch Beurteilungsspielräume und planerische Gestaltungsfreiheiten bei konfligierender Zwecksetzung, mit der Konsequenz einer abgesenkten Kontrolldichte und maßstabsrestringierenden Abwägungsfehlerlehre.[135] Gerade bei materiellen Programmierungs- und Kontrolldefiziten gewinnt die generell bedeutsame Entscheidungssteuerung durch Organisation und Verfahren besondere Brisanz nicht zuletzt für die Kontrollinstanz.[136] Zunehmend finden sich im Rahmen der Richtigkeitsmaßstäbe neben der formellen und materiellen Legalität auch Kriterien der Interessenoptimierung, Effektivität und Akzeptanz herausgestellt.[137]

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Die Methodendebatte im Bereich der Rechtsanwendung hat die Horizonte von Subsumtionsmodell und Justizsyllogismus hinter sich gelassen. Diskutiert wird, ob eine Entscheidung im Sinne des kritischen Rationalismus nur der methodischen Rechtfertigung und Darstellung bedarf[138] oder ob in den Bahnen klassischer Hermeneutik auch eine methodische Durchdringung des Herstellungszusammenhangs geboten ist.[139] Jenseits des wissenschaftstheoretischen Credos und der notwendigen Kontextuierung auch der Entscheidungsrechtfertigung geht es um die Selektivität des rechtlichen Zugriffs, die zumindest in der Kontrollperspektive eine sinnvolle Entlastung unter anderem von subjektiven Motivationen verschafft. Rechtlich statuierte Verfahrensanforderungen werden damit nicht aus der Steuerungs- und Kontrollfunktion entlassen, jedenfalls sofern ihre Verletzung nicht normativ unbeachtlich gestellt ist.[140] Zudem steht eine steuerungswissenschaftlich angelegte und informierte Verwaltungsrechtswissenschaft permanent vor der Frage, welche Aspekte und Bereiche der Entscheidungsverfertigung normativer Ausgestaltung und Strukturierung bedürfen. Die methodische Reflexion des Rechtsanwendungsprozesses gilt zunächst der Erfassung des „Problem(lösungs)bereichs“, dessen Zurichtung im Zentrum alternativer Konfliktentscheidungsverfahren wie der Mediation steht.[141] Die unweigerlich mit Vorverständnissen belastete Normenauswahl und -konkretisierung erfolgt im Hinblick auf einen Realbereich, auf den hin die Sprachdaten des Normtextes entfaltet werden müssen, der sich jedoch ein Stück weit erst im Wege einer ihrerseits normativ gesteuerten Sachverhaltsverfertigung ergibt. Neben dem in den Rechtsstoff-, Real-, Folgeneröffnungs- und Optionenwahlbereich zergliederten Normprogrammbereich sind inzwischen auch ein Entscheidungs-, Folgenbewirkungs-, Kontroll- sowie Lernbereich in das „Aufmerksamkeitsfeld einer Neuen Verwaltungsrechtswis- senschaft“ getreten.[142] „Entscheidung als Informationsverarbeitung“[143] erzwingt schließlich die Umstellung auf eine informations- und wissenstheoretische Perspektive,[144] die in ein „Informationsverwaltungsrecht“[145] mündet, das neben Fragen von Informationsbeschaffung, -management und -rechten unter anderem der Entscheidungsrationalität unter Ungewissheitsbedingungen sowie den neuen Kommunikationsmedien einer teils virtuellen Verwaltung gilt.

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Die Verwaltungsrechtswissenschaft ist zu neuen Ufern aufgebrochen. Das Beispiel der Verwaltungsrechtsvergleichung zeigt, wie überkommene Arbeitsweisen in der angebrochenen zweiten Phase des öffentlichen Rechts[146] einen grundlegend veränderten Stellenwert erhalten, wenn sowohl die Europäisierung als auch Internationalisierung des Verwaltungsrechts mit enormer Folgewirkung für die nationalen Verwaltungssysteme vergleichend aus den Traditionen eben dieser unterschiedlich gewachsenen (Verwaltungs-)Rechtsordnungen erarbeitet werden müssen.[147] Dies bedeutet anderes und mehr als eine fünfte, rechtsvergleichende Auslegungsmethode.[148] Zugleich sind überkommene deutsche Doktrinen wie die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft angesichts neuer Handlungs-, Organisations- und Verantwortungsformen stumpf geworden.[149] Aber auch neue Leitbilder und interdisziplinär angelegte Verbund- oder Brückenbegriffe stehen in der Gefahr, etwa durch die Rezeption sozialwissenschaftlicher Großtheorien die rechtsdogmatische Anschlussfähigkeit zu verfehlen.[150] Die Ausziselierung der dogmatischen Feinstruktur erfordert eine ausdifferenzierte Terminologie, die sich in gewisser Weise einer unterbestimmten, großflächigen Verschlagwortung entzieht.[151] Schon die Verknüpfung der rechtsakt- und verhaltensbezogenen Perspektive steht vor dem grundlegenden Problem der Übersetzung einer zwei- in eine dreiwertige Begriffslogik, in der die binären Unterscheidungen von rechtmäßig/rechtswidrig, Innen-/Außenrecht zugunsten fließender Skalenbildungen aufgebrochen werden müssen, die auch Momente der Unbestimmtheit und Unsicherheit einbeziehen.[152] Grad und Tiefe der Methodenreflexion sind dabei in der deutschen Verwaltungsrechtsgeschichte ohne Vorbild.