Ius Publicum Europaeum

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bb) Zum Sonderrechtscharakter des Unionsverwaltungsrechts

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Kann das Verständnis des Verwaltungsrechts als Sonderrecht heute für das Unionsverwaltungsrecht als Teil des Rechts der Europäischen Union erkenntnisträchtig und identitätsprägend sein? In jüngerer Zeit haben sich insbesondere Giacinto della Cananea,[71] aber auch Ute Mager und Eberhard Schmidt-Aßmann in diesem Sinne geäußert.[72] Die nachfolgenden Überlegungen knüpfen daran an, konturieren jedoch stärker den Herrschaftsaspekt im Verwaltungsrecht.

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Das Unionsverwaltungsrecht kann als ein Sonderrecht begriffen werden, da es seine prägende Mitte darin findet, Bürokratien mit spezifischen Herrschaftsinstrumenten zur Regelung und sogar Steuerung individueller Freiheit auszustatten. Die entsprechenden Instrumente bürokratischer Regelung und Steuerung, also Herrschaft, sind als solche bekannt. Sie können, dies ist eine der zentralen Lehren des 20. Jahrhunderts, demokratischer Selbstbestimmung und individueller Entfaltung ebenso dienen wie autoritärer Fremdbestimmung und paternalistischer Gängelung. Genau dies beschreibt die wesentliche Herausforderung des Verwaltungsrechts als Disziplin und enthält damit einen Identitätsentwurf.

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Ein einfacherer Weg zur Bestimmung des Unionsverwaltungsrechts als Sonderrecht wäre es, an der Kontrollzuständigkeit einer besonderen Gerichtsbarkeit anzuknüpfen. Dieses Kriterium funktioniert ausgezeichnet, soweit das Unionsrecht einer mitgliedstaatlichen Durchführung bedarf,[73] und zwar sogar mit Blick auf das Vereinigte Königreich.[74] Für die Eigenverwaltung der Union ist es jedoch wenig leistungsfähig. Dass allein der EuGH als Organ kompetent ist, über die Rechtmäßigkeit von Maßnahmen europäischer Organe zu entscheiden, trägt nicht die Qualifizierung eines Teilbereichs des Unionsrechts als Verwaltungsrecht, da er für das gesamte Unionsrecht zuständig ist.[75]

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Das Kriterium gerichtlicher Zuständigkeit ist vor allem wenig hilfreich, um „Wesen“ oder „Identität“ des Verwaltungsrechts zu identifizieren. Sucht man dafür nach Ansatzpunkten im positiven Recht, so stößt man auf Art. 41 GRC, der ein Recht auf eine gute Verwaltung niederlegt. Nach dieser Norm steht das individualisierende, insbesondere belastende einseitige Handeln von Hoheitsträgern gegenüber privaten Personen im Mittelpunkt des Verwaltungshandelns und damit des Verwaltungsrechts; dies bestätigt Art. 47 GRC aus einer Rechtsschutzperspektive. Damit kommt es auf rechtliche Über- und Unterordnung an, also Herrschaft. Dieses Verständnis dürfte entscheidend für die Etablierung des Begriffs europäisches Verwaltungsrecht in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts gewesen sein: Zum einen entfaltete die Kommission selbst zunehmend bürokratische Macht gegenüber privaten Rechtssubjekten, etwa im Wettbewerbsrecht, zum anderen determinierte das Gemeinschaftsrecht, insbesondere das Agrarmarktrecht, mitgliedstaatliches Verwaltungshandeln in so dichter Weise, dass die verbleibenden Gestaltungsspielräume der mitgliedstaatlichen Verwaltungen zu gering waren, als dass mit deren Nutzung legitimatorische Erwartungen erfüllt werden konnten, die sich aus den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen speisten.[76] Zugleich stellte sich gerade mit Blick auf das Agrarmarktrecht die Frage, ob dieses bürokratische Steuerungsrecht effizient und effektiv war, alles Fragestellungen, die traditionell aus einer verwaltungsrechtlichen Perspektive zu bearbeiten sind. Dies bestätigt ein entschieden öffentlich-rechtliches Verständnis dieses Rechtsgebiets, das seine Mitte (wohlgemerkt: nicht seine Definition!) in der Frage findet, ob eine Norm zu einseitigen Akten ermächtigt, welche die Autonomie eines außerhalb der Verwaltung stehenden Rechtssubjekts beschränken.[77] Selbst wenn die Verwaltung zunehmend auch als Dienstleister und nicht allein als Herrschaftsträger begriffen wird,[78] bleibt danach der identitätsprägende Kern die Befugnis von Bürokratien zu einseitiger Regelung von Freiheitssphären.[79] Dem steht nicht entgegen, dass das Agrarmarktrecht in wesentlichen Teilen ein Subventionsrecht ist: Angesichts der Situation der Märkte können viele Erzeuger ihm kaum ausweichen, und in Rückforderungs- und Sanktionsfällen wird die herrschaftliche Dimension auch der europäischen Leistungsverwaltung vollends deutlich.

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Im Mittelpunkt dieses Zugangs steht stets der Begriff der öffentlichen Gewalt, dessen Funktion es ist, diejenigen Akte zu identifizieren, die Rechtssubjekte außerhalb der Verwaltung determinieren, d.h. ihre Freiheit in einer Weise beschränken, die legitimationsbedürftig ist und so nach einem öffentlich-rechtlichen Rahmen verlangt.[80] Dieser Ansatz findet im modernen politischen Denken, das ganz überwiegend die Freiheit zum Mittelpunkt erklärt, emphatische Bestätigung. Gestützt wird dieses Verständnis des Verwaltungsrechts positivrechtlich durch grund- und menschenrechtliche Verbürgungen sowie weitere Freiheitsrechte verfassungsrechtlicher Natur, so die Marktfreiheiten des AEU-Vertrags, die, wenngleich mit Unschärfen, zwischen dem hoheitlichen, insbesondere administrativen Bereich und dem Bereich privater Aktivität unterscheiden.

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Entsprechende Sonderrechtsregime von Kompetenzen, Verfahren, aber natürlich auch Pflichten gegenüber privaten Rechtssubjekten gibt es im Recht der Europäischen Union ebenso wie in allen Mitgliedstaaten, einschließlich des Vereinigten Königreichs.[81] Insofern haftet diesem „Sonderrecht“ der öffentlichen Gewalt gegenüber dem Einzelnen auch nicht automatisch das Odium des bürokratischen Bonapartismus an. Das Unionsrecht verpflichtet die Mitgliedstaaten, ihre verwaltungsrechtlichen Sonderrechtsregime für die Durchführung unionalen Rechts zu nutzen.[82] Die mitgliedstaatlichen Organe sind bei dieser Umsetzung funktional Organe der unionalen Rechtsordnung, also bei Erlass unionsrechtlich gebotener Rechtsakte, bei der Durchsetzung von Unionsrecht im Einzelfall, bei der gerichtlichen Kontrolle. Deshalb stellt das Fehlen von unionseigenen Zwangsmitteln den Sonderrechtscharakter des unionalen Verwaltungsrechts mit Blick auf private Rechtssubjekte nicht in Frage. Anders formuliert: So dialogisch der europäische Verwaltungsverbund unter den beteiligten Hoheitsträgern auch verfahren mag (dazu sogleich), gegenüber privaten Rechtsträgern agiert er primär als Herrschaftverbund. Der Sonderrechtscharakter des Unionsverwaltungsrechts beruht somit darauf, dass es bürokratische Apparate begründet oder aber mit Instrumenten ausstattet, die sie zu Institutionen der Herrschaft werden lassen. Wenngleich das Unionsverwaltungsrecht die Grundlage für zahlreiche Dienstleistungen, Informationsangebote und andere Wohltaten ist, so kann doch mittels der Kategorie des Sonderrechts ein Kern identifiziert werden, der sich in der Tradition öffentlich-rechtlichen Denkens als identitätsprägend für die Disziplin anbietet.

cc) Herausforderungen dieses Sonderrechtsverständnisses

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Das traditionelle Sonderrechtsverständnis des Verwaltungsrechts geht oft Hand in Hand mit einem Fokus auf die individualisierende Tätigkeit gegenüber privaten Rechtssubjekten. Dies hat natürlich immer weite Bereiche der Verwaltungstätigkeit ausgeblendet. Unter dem Unionsrecht wäre es nun aber geradezu abwegig, das Unionsverwaltungsrecht allein mit diesem Fokus auf verwaltungsrechtlichen „Endprodukten“ gegenüber privaten Rechtssubjekten zu bearbeiten, denn dies würde wesentliche Herausforderungen des europäischen Rechtsraums verkennen.

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Bereits die Begrifflichkeit des Primärrechts legt nahe, ein deutlich weiteres disziplinäres Aufmerksamkeitsspektrum zu wählen. Art. 197 und 291 AEUV verwenden zur Bezeichnung von Verwaltungsaufgaben nicht den Begriff Anwendung, sondern den weiteren Begriff der Durchführung (englisch: implementation). Dieser Begriff erfasst neben dem konkreten Vollzug zahlreiche weitere bürokratische Tätigkeiten: implementierende Rechtsetzung, die Erbringung von Leistungen sowie andere Maßnahmen als Rechtshandlungen, etwa die Verbreitung von Informationen wie Rankings oder best practices.[83] Der Begriff des Durchführens korrespondiert, wie Art. 17 Abs. 1 Satz 4 und 41 Abs. 1 EUV zeigen, mit dem Begriff des Verwaltens: Es geht um die Implementation politischer Entscheidungen.[84] Die damit regelmäßig einhergehende intensive Regelung bürokratischer Aktivitäten zeigt entsprechenden Forschungsbedarf an. Die administrative Vorbereitung politischer Entscheidungen fällt hingegen aus diesem Begriff heraus.[85]

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Die Fokussierung allein auf verwaltungsrechtliche „Endprodukte“ würde zudem eine weitere große Herausforderung des europäischen Rechtsraums verkennen: die rechtliche Organisation des oft schwierigen und konfliktträchtigen Zusammenwirkens der Verwaltungen unterschiedlicher Verbände im europäischen Rechtsraum. Die kooperative Durchführung, das gesamte Recht der horizontalen und vertikalen Zusammenarbeit von Verwaltungen, kann kaum sinnvoll als „Sonderrecht“ bonapartistischer Provenienz begriffen werden. Dies zeigen anschaulich Art. 258 und 260 AEUV: Die europäischen Verwaltungsorgane verfügen nach den Verträgen über kein Sonderregime der Durchsetzung mitgliedstaatlicher Pflichten, sondern müssen diese grundsätzlich vor dem EuGH einklagen.[86] Wenn man diese Zuständigkeit als eine besondere Gerichtsbarkeit deuten will, so kaum in der Tradition der Verwaltungsgerichtsbarkeit, sondern eher in der einer Verfassungsgerichtsbarkeit, die wesentlich zur Schlichtung föderaler Streitigkeiten entstand.[87] Ebensowenig lässt sich dieses Verwaltungsrecht als ein Sonderrecht der einseitigen Durchsetzung begreifen. Selbst unter Berücksichtigung einiger bemerkenswerter administrativer Sanktionsmöglichkeiten von mitgliedstaatlichem Ungehorsam[88] treten doch die Verwaltungsorgane der Union, im Ganzen betrachtet, gegenüber den Mitgliedstaaten nicht als überlegener Hoheitsträger auf, der einseitig Rechtsgehorsam durchsetzt. Das europäische Recht an die Adresse der mitgliedstaatlichen Verwaltungen erscheint eher als ein Kooperations- und Koordinationsrecht, kaum als ein Sonderrecht im Sinne einer Überordnung. Der reformierte EU-Vertrag bringt dies nunmehr im Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) zum Ausdruck.[89]

 

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Art. 4 Abs. 3 EUV bildet die vertrags- und damit verfassungsrechtliche Grundlage der Zusammenarbeit unionaler und mitgliedstaatlicher Organe im Sinne eines kooperativen Föderalismus. Viele Entscheidungen im europäischen Rechtsraum werden durch eine Vielzahl von interagierenden Organen unterschiedlicher Hoheitsträger in aufwändigen Verfahren erarbeitet und umgesetzt. Das europäische Verbundsystem ist von hoher Komplexität, und die Mechanismen zur Komplexitätsbewältigung sind zumeist kooperativ, was die Gestalt der Union in dieser Hinsicht als einen dialogischen Hoheitsträger konturiert. All dies würde aus dem Fokus der Verwaltungsrechtswissenschaft weitgehend ausgeschlossen, ginge es allein um die individualisierende Tätigkeit gegenüber privaten Rechtssubjekten. Das Recht der administrativen Kommunikation und Koordination ist für das Gelingen des europäischen Rechtsraums von entscheidender Bedeutung und verdient deshalb intensive verwaltungsrechtswissenschaftliche Aufmerksamkeit.

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Eine Wissenschaft des Unionsverwaltungsrechts, die sich allein um rechtsgestaltende, insbesondere belastende Maßnahmen gegenüber privaten Rechtssubjekten kümmert, kann heute kaum überzeugen. Doch auch in einem breiten Zuschnitt, der sich mit der ganzen Vielfalt bürokratischer Implementationsinstrumente befasst und die komplexen rechtlichen Mechanismen administrativer Kooperation im Verwaltungsverbund in den Blick nimmt, bleibt das Verständnis des Unionsverwaltungsrechts als Sonderrecht leistungsfähig, da es den verfassungsrechtlich problematischen Kern auch der diversen Implementationsinstrumente und der Verwaltungskoordination bezeichnet. Denn diese administrativen Instrumente und die interadministrative Kooperation dienen regelmäßig der Effektivierung und Verstärkung eines bürokratischen Zugriffs auf die administrés, so ein aussagekräftiger französischer Begriff.[90] Vielen Bürgern erscheint der Gesamtkomplex aus europäischen und staatlichen Bürokratien als nahezu kafkaesker Apparat.[91] Bei manchen überstaatlichen Politiken erscheinen ihnen die steuernden und damit verantwortlichen Subjekte nicht nur unverletzlich wie einstmals der Landesherr des Policeyrechts, sondern sogar oft unsichtbar und unfassbar.[92] Mit einer Konzeption des Unionsverwaltungsrechts als Sonderrecht kann die Disziplin dieses fundamentale Problem in die Mitte ihres Wirkens stellen und zugleich einen Impetus zu dessen Bearbeitung gewinnen. Dies führt zum nächsten Punkt.

2. Verwaltungsrechtswissenschaft ex parte civium

a) Rückblick

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Einige Darstellungen begreifen bereits das Sonderrecht des 17. und 18. Jahrhunderts als Verwaltungsrecht.[93] Die meisten lassen das Verwaltungsrecht und seine Wissenschaft jedoch erst im 19. Jahrhundert anfangen; der Übergang ins 19. Jahrhundert markiert danach einen Epochenwechsel. Das vorherrschende Selbstverständnis der heutigen Verwaltungsrechtswissenschaft behandelt die Periode vor 1800 als eine überwundene Epoche.[94]

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Dies wird zum einen durch die sich erst im 19. Jahrhundert formende moderne Staatsverwaltung erklärt. Das Verwaltungsrecht erscheint danach in erster Linie als das Recht moderner Bürokratien, mit dem dieser staatliche Apparat politische Entscheidungen umsetzt,[95] als eine „Maschine der Macht“.[96] Verwaltungsrecht, das Recht der Verwaltung, ist so tendenziell als ein genitivus subiectivus zu verstehen: als ein Instrument der Bürokratie, vor allem ihrer politischen Spitze.

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So unzweifelhaft dies ist, so gibt es doch ein gegenläufiges Verständnis. Diese Lesart versteht die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert als Ausgangspunkt einer Bewegung, die das Sonderrecht des 18. Jahrhunderts in eine Struktur der rechtlichen Anerkennung des Untertans überführt,[97] es also weniger aus der Perspektive der Monarchen (ex parte principis), sondern primär aus derjenigen der Bürger (ex parte civium) konstruiert. In diesem Sinne wird der Begriff Verwaltungsrecht, Recht der Verwaltung, als ein genitivus obiectivus gelesen. Dies bildet eine Ausrichtung, die sich als Identitätskern der Disziplin gerade angesichts der strukturellen Legitimationskrise der Europäischen Union anbietet.

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Die Wissenschaft des Sonderrechts im 18. Jahrhunderts ist zwar oft der Aufklärung verpflichtet, allerdings zumeist einer obrigkeitlichen und paternalistischen Aufklärung; sie ist keineswegs liberal.[98] Die neue Bezeichnung des Gegenstands als Verwaltungsrecht im 19. Jahrhundert signalisiert das Bemühen von Wissenschaftlern, ihren Gegenstand in das Ringen um die Durchsetzung des liberalen Rechtsstaates einzubringen.[99] Entsprechende Schriften, die nunmehr ein Verwaltungsrecht statt eines Policeyrechts konzipieren, sind Zeugen und einige sogar Motoren einer progressiven Entwicklung: der Transformation eines Machtverhältnisses, beruhend auf dem Sonderrecht, zu einem Rechtsverhältnis. Das Erscheinen von Büchern mit dem Begriff „Verwaltungsrecht“ im Titel ist ein gemeineuropäisches Phänomen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Jedenfalls in der verwaltungsrechtlichen Literatur mutiert das Gegenüber der Verwaltung vom Untertan zum Rechtssubjekt, was einen kategorialen Schritt impliziert. Man kann die Entstehung der Disziplin Verwaltungsrecht als Projekt deuten, das Sonderrecht in einen Rahmen der Anerkennung zu überführen. Patrice Chrétien lässt aus diesem Grund sogar sein Kapitel über das zeitgenössische französische Verwaltungsrecht erst 1873 beginnen. Im Hintergrund steht die Revolution von 1871, die zur liberalen Verfassung der Dritten Republik führt. Der Conseil d’État, Ratgeber von Napoleon Bonaparte wie von Louis Napoleon, sieht sich in einer erheblichen Legitimitätskrise, der er mit einer deutlich liberaleren Rechtsprechung unter Edouard Laferrière zu begegnen sucht.[100] Die Neuorientierung erfolgt maßgeblich mittels der Entwicklung allgemeiner Prinzipien, ähnlich wie es 100 Jahre später der EuGH tun wird.[101]

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Die berühmteste Lesart des Verwaltungsrechts, die diesem Verständnis entgegensteht, ist diejenige von Albert Venn Dicey,[102] der das Projekt eines Verwaltungsrechts, einem droit administratif, als mit der rule of law und einem freiheitlichen Gemeinwesen unvereinbar ablehnt. Dicey steht diametral zum kontinentalen Deutungsmuster, welches das aufkommende Verwaltungsrecht als Ausdruck des liberalen Rechtsstaates feiert. Als Grund für Diceys Ablehnung eines droit administratif wird allerdings nicht nur traditioneller Freiheitssinn, sondern auch eine konservative Skepsis gegenüber zeitgenössischen Reformen vermutet, die dem Prinzip gleicher Freiheit verpflichtet waren.[103] Diese Lesart findet einen weiteren Höhepunkt 1929 in dem Buch The New Despotism, in dem der höchst konservative Lord Chief Justice Gordon Hewart das aufkommende sozialstaatlich orientierte Verwaltungsrecht als „organised“ oder „administrative lawlessness“ brandmarkt.[104] Diceys konservativ inspirierte Kritik bestätigt also das emanzipatorische Potenzial.

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Gewiss steht die Verwaltungsrechtswissenschaft keineswegs allein auf der Seite bürgerschaftlicher Emanzipation, weder im 19. Jahrhundert noch heute. Das Werk Otto Mayers etwa weist autoritäre Züge auf.[105] Die prinzipielle Ambivalenz hält Patrice Chrétien, Prosper Weil zitierend, treffend fest: Sie ist eine Disziplin, „die gleichzeitig Dienerin individueller Freiheit und Garant effektiver Verwaltung, Beschützerin des Bürgers gegen die Exekutive und Mittel zur Durchsetzung des Regierungswillens sein will“.[106] Das Verwaltungsrecht bleibt, so auch die Kernaussage des vorherigen Abschnitts, in wesentlichen Hinsichten ein Herrschaftsinstrument.

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Insbesondere in Konstellationen, in denen die Hoheitsgewalt nur schwach ausgeprägt ist, wird die herrschaftliche Komponente durch die Wissenschaft profiliert und unterstützt. So begleitet sie in Italien im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert ein Verwaltungsrecht, das den Untertan als Rechtssubjekt zwar anerkennt, das Pendel zwischen dem liberalen und dem autoritativen Moment aber weit auf die autoritative Seite schwingen lässt.[107] Diese Wissenschaft korrespondiert mit einem neu geformten Staat, der sich nur mit Mühe auf dem ganzen Territorium etabliert. Dies schlägt sich in den wissenschaftlichen Aufbereitungen wichtiger verwaltungsrechtlicher Institute durch unitarisch gesinnte Professoren nieder: Fehlen von Verfahrensrechten, allgemeine Zulässigkeit von Rücknahme und Widerruf von Akten, kompromisslose Verwaltungsvollstreckung, eine nur beschränkte Haftung des Staates. Hier zeigen sich Parallelen mit der Entwicklung des Verwaltungsrechts der Europäischen Gemeinschaften. Im Konflikt von Interessen des betroffenen Bürgers mit solchen der europäischen Institutionen hat der EuGH über lange Zeit nicht selten den Letzteren den Vorzug gegeben. Deutlich wird dies etwa in den unterschiedlichen Haftungsregimen für mitgliedstaatliches Unrecht einerseits, gemeinschaftliches Unrecht andererseits.[108]

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Die Verwaltungsrechtswissenschaft operiert als Kollektiv gewiss nicht revolutionär. Der emanzipatorische verwaltungsrechtswissenschaftliche Beitrag im 19. Jahrhundert besteht vor allem in der Entwicklung und Ausbuchstabierung von Rechtsinstituten, in denen die politischen und staatsrechtlichen Kompromisse zwischen freiheitlichen und obrigkeitlichen Kräften operativ werden können.[109] Diese Gründungskonstellation findet sich nicht allein im 19. Jahrhundert. So entwickelt sich in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts im frankistischen Spanien eine glänzende Verwaltungsrechtswissenschaft, welche die wenigen Freiheitsräume, die das Franco-Regime einzuräumen bereit ist, dogmatisch durchformt und in einem progressiven Sinne stabilisiert.[110] Ähnlich blüht in der Volksrepublik Polen in Epochen zaghafter Liberalisierungen die dogmatische Verwaltungsrechtswissenschaft auf.[111]

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Als Verwaltungsrecht prägt sich zumeist derjenige Teil des öffentlichen Rechts aus, zu dem sich ein normativer Diskurs etablieren kann, der sich vom politischen Diskurs unterscheidet, wo also die Rechtsnorm einen, auch institutionell gesicherten, Selbststand gegenüber Trägern öffentlicher Macht aufweist. Nur dann entsteht ein allgemeiner Bedarf nach argumentativen Kenntnissen, welche in der spezifischen Kompetenz von Juristen liegen. Regelmäßig grundlegend für eine solche Normativität ist eine Gerichtsbarkeit, die hoheitliches Handeln auf ihre Rechtmäßigkeit prüfen kann.[112] Entsprechend bildet sich die Verwaltungsrechtswissenschaft im 19. Jahrhundert als jener Teil der Wissenschaft des öffentlichen Rechts aus, der auf eine solche Gerichtsbarkeit bezogen ist, auf ihre Organisation, ihr Verfahren und das von ihr anzuwendende Recht. Eingebunden wird zunächst der nachgeordnete Verwaltungsapparat. Die Regierung wird durch dieses Verwaltungsrecht in ihren strategischen Handlungen kaum behindert. Ihr kann somit die gerichtliche Kontrolle als ein Instrument dezentraler Kontrolle des Verwaltungsapparats dienen, eine Konstellation, die sich im europäischen Rechtsraum mit Blick auf den Vollzug durch mitgliedstaatliche Behörden wiederholt.[113] Die Anerkennung des Bürgers, so wie sie sich letztlich verwirklicht, erfolgt nicht uneigennützig. In den Mitgliedstaaten werden es erst die liberaldemokratischen Verfassungen sein, welche den Umbau des Verwaltungsrechts ex parte civium wirklich voranbringen.[114]