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3. Das Aufkommen der Lehrbuchtradition

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Die Verwaltungsrechtswissenschaft der Nachkriegszeit wurde vom Lehrbuch dominiert. Das erste umfassende Lehrbuch des Verwaltungsrechts, das von Stanley A. de Smith geschrieben wurde, erschien 1959.[47] Das späte Erscheinungsdatum ist ein Indiz für die komplizierten Reaktionen der Common Law-Juristen auf die Evolution der Disziplin. Einflussreicher war letztendlich das 1961 in erster Auflage erschienene Lehrbuch Administrative Law, das von Sir William Wade, „dem bedeutendsten unserer gegenwärtigen Jünger Diceys“, veröffentlicht wurde.[48] Für Wade war Verwaltungsrecht „der lebendigste Frontabschnitt im ewigen Krieg zwischen der Regierung und den Regierten“.[49] Wades Hauptanliegen war die gerichtliche Kontrolle potenziell willkürlicher Ausübung ermessensgestützter Hoheitsgewalt. „Riesige neue Bereiche exekutiver Gewalt wurden geschaffen“, so schrieb er in der Einleitung. „Um zu verhindern, dass diese neuen ‚mächtigen Maschinerien der Hoheitsgewalt‘ ‚Amok laufen‘, bedarf es einer konstanten Kontrolle: politische Kontrolle durch das Parlament sowie rechtliche Kontrolle durch die Gerichte. Diese rechtliche Kontrolle stellt den Großteil des materiellen Verwaltungsrechts dar.“ Da „die traditionelle Kontrolle des Parlaments über die Exekutive zusehends geschwächt wurde, […] wuchs die Bedeutung des Verwaltungsrechts“.[50]

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Wades Lehrbuch ist beseelt von dem Glauben, dass das Recht einen positiven Beitrag zu der Arbeitsweise der öffentlichen Verwaltung leisten kann. „Juristen sind in großem Maße damit befasst, Fairness im Verwaltungsverfahren zu fördern […]. Rechtsprinzipien können viel dazu beitragen, dass es im Verwaltungswesen gerecht und effizient vonstatten geht.“[51] In der Praxis entwickelten die Gerichte einen „Korpus stichhaltiger und wertvoller Regeln“ zur Prüfung administrativer Entscheidungstätigkeit. Durch die Vernachlässigung der Verwaltungsrechtswissenschaft und der Beharrlichkeit des „modischen Irrglaubens, dass Verwaltungsrecht im Widerspruch zur britischen Verfassung stehe“, versäumten die Gerichte es jedoch zum Teil „ab und an, ihre eigenen Errungenschaften anzuerkennen“.[52] Hier scheint eine implizite Kritik an Dicey durch, dennoch bleibt das Buch im Kern Dicey verpflichtet. Wades genereller Ansatz war es, „den Geist der Theorie Diceys im Lichte zeitgenössischer Herausforderungen zu bewahren“.[53] Wie Wade selbst an anderer Stelle schrieb: „Ich gebe niemandem gegenüber nach, was die Bewunderung für Diceys geniale Zusammenfassung der Verfassung im neunzehnten Jahrhundert angeht“; obwohl „viele seiner Ideen bestritten werden können, ist der Geist seines Werks von dauerhaftem Bestand“.[54] Nach Wades Vorstellung ist das Verwaltungsrecht fest in der Dogmatik und den Prinzipien der Common Law-Gerichte verankert. Es beschäftigt sich somit für ihn hauptsächlich mit der richterlichen Überprüfung von Verwaltungshandeln, deren Parole die Kontrolle des (möglicherweise willkürlichen) Ermessens des Staates ist. Rechtsstaatlichkeit, die in der Diceyschen rule of law-Begrifflichkeit als ein „juridisches Prinzip“[55] verstanden wird, nimmt die Zentralstellung ein und stellt das maßgebliche theoretische Fundament der Disziplin dar. „Im Grunde ist es [scil.: das Verwaltungsrecht] die praktische Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit.“ All dies wird, wie schon bei Dicey, von einem Misstrauen gegenüber politischer Gewalt untermauert und von einer im Wesentlichen konservativen Gesinnung inspiriert. Wades Einstellung war sowohl in der Verwaltungsrechtswissenschaft einflussreich, vor allem in Oxford und Cambridge, als auch bei der Entwicklung des gerichtlichen Rechtsschutzes.

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Zwei andere Persönlichkeiten der Nachkriegszeit verdienen in diesem Zusammenhang erwähnt zu werden, zum einen wegen ihrer Bedeutung für die Gestaltung des Fachs, zum anderen aber auch, weil ihr Schaffen etwas über die sich verändernde Art des wissenschaftlichen Diskurses preisgibt. John D. B. Mitchell, der die meiste Zeit seiner Karriere an der Universität Edinburgh verbrachte, entwickelte eine Konzeption des öffentlichen Rechts, welche vielleicht am besten als eine Art „evolutionärer Rationalismus“ zu bezeichnen ist.[56] Sein Ausgangspunkt war, dass die britische Verfassung durch politische Entwicklungen überholt worden war, insbesondere durch das Wachstum des Verwaltungsstaates. Die Struktur der britischen Verfassung, so schrieb er, „wurde gegen 1911 vervollkommnet, just zu dem Zeitpunkt, zu dem der Staat, für den sie erschaffen wurde, vor dem Absterben stand“.[57] Da die verfassungsgemäße Ordnung überholt war, bedürfe es nun einer Reform des Rechts. Das Problem werde aber durch die Praxis der Gerichte erschwert: „Die Gerichte haben sich dermaßen geistig vom Verwaltungsvorgang abgekoppelt, dass ihre Methoden in vielerlei Hinsicht unpassend geworden sind. Die Kontrollinstrumente, die ihnen zur Verfügung stehen, sind oft zu stumpf, um von Nutzen zu sein, ihre Techniken sind derart, dass die Kontrolle häufig eher eine Überprüfung der Form als des Inhalts ist.“[58] Dieses Dilemma rührte größtenteils von einer unangebrachten Übernahme der Rechtsstaatskonzeption der rule of law Diceys, und ganz besonders von dem Beharren darauf, dass Amtsträger dem gemeinen Recht unterworfen sein sollten. Da dem so war, schrieb er, „wäre es wahrscheinlich notwendig, ein neues Gerichtssystem einzuführen, damit es die Fesseln, die den derzeit existierenden Gerichten auferlegt sind, bricht“, um eine effektive Ordnung der Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts zu schaffen.[59] Mitchell weigerte sich, eine strenge Grenze zwischen Recht und Politik zu ziehen, und argumentierte, dass jedes Gericht mit Zuständigkeit für das öffentliche Recht Grundkenntnisse der Verwaltung haben müsse: „[D]ie gemischte Zusammensetzung aus Juristen, Verwaltungsfunktionären und anderen […] ist essenziell.“[60]

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Mitchell ist nicht allein wegen seiner Vision eines Verwaltungsrechts der Zukunft interessant – eine Vision, die nie völlig realisiert wurde –, sondern auch weil er das europäische Ideal begrüßte. Mitchell war höchstwahrscheinlich der erste britische Öffentlichrechtler von Rang, der die Auswirkungen, welche die Injektion einer Rechtsmaterie kontinentaleuropäischer Tradition in die Rechtsordnung im Vereinigten Königreich haben würde, begrüßte. Bereits 1968 schrieb er, „eine neue europäische Ordnung des öffentlichen Rechts ist im Entstehen“, welche schlussendlich zur Neukonzipierung des nationalen Verwaltungsrechts führen werde.[61] Mitchells Bereitschaft, europäische Rechtsquellen heranzuziehen, unterschied ihn von früheren Generationen von Verwaltungsrechtlern, die meist zu einer Kirchturmpolitik neigten, eine unrühmliche Tradition, deren Inbegriff Diceys negative und verschrobene Abhandlung über das französische droit administratif war.[62] Auf eine weitaus „Europa-bewusstere“ rechtliche Zukunft vorgreifend, studierte Mitchell eingehend andere europäische Ordnungen des öffentlichen Rechts, und er war zudem optimistisch, was die Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Gemeinschaft anging, wobei er die konstitutionellen Verwerfungen, die ein Beitritt nach sich ziehen würde, als Gelegenheit begriff, bestehende Strukturen grundlegend neu zu gestalten.

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Die andere Person der damaligen Zeit, die in dieser Bestandsaufnahme nicht unerwähnt bleiben kann, ist John A. G. Griffith. Griffith, der fast seine gesamte Karriere an der LSE verbrachte, ist gewissermaßen das Bindeglied zwischen dem Funktionalismus der Vorkriegszeit seiner Vorgänger Jennings und Robson und den jüngeren kritischen Strömungen. Griffith war ein soziologischer Positivist, der das Praktische dem Theoretischen vorzog: „Ich misstraue Formulierungen, die zu Beginn so etwas wie eine ‚Theorie der Verfassung‘ entwickeln, und danach fortfahren ‚das, was tatsächlich geschieht‘, zu beschreiben. Was auch immer schriftliche Dokumente sagen mögen, die Verfassung ist das, was passiert.“[63] Griffiths Positivismus wurzelte in seinem grundlegenden Argwohn gegenüber denen, die Hoheitsgewalt innehaben. Seine Einstellung war „aufgrund von Instinkt, Erziehung und Erfahrung“[64] antiautoritär, sein Hauptanliegen die Kritik und Entzauberung der Vorstellung, dass öffentliches Recht auf irgendeine Art jenseits oder frei von Politik sei. Ganz besonders kritisierte er diejenigen, die (seiner Ansicht nach) versuchten, den politischen Einfluss der Gerichte unter dem theoretischen Deckmantel des Naturrechts zu steigern. Eine „solide, positivistische, unmetaphysische, nicht-naturrechtliche Grundlage für die analytische Rechtsphilosophie“ sei, darauf bestand er, essenziell, um hinter die „kunstvollen Fassaden“ und „altmodischen Bühnenrequisiten“ zu blicken und so die Hebel der Macht und die Identität derer, die sie bedienen, auszumachen.[65] Die Seelenverwandtschaft mit den amerikanischen Realisten wird in Passagen wie diesen deutlich.[66] Griffiths Werke waren oft polemisch, gar streitsüchtig. Richter waren in keiner Weise vor seiner Feder gefeit: „Die Richterbank abzuklopfen“, schrieb er, „ist eine ebenso angebrachte politische Tätigkeit wie die prominenten Volksvertreter abzuklopfen; beide sind mächtig und können unser Leben beeinflussen.“[67] In The Politics of the Judiciary, einem Buch, das auch außerhalb des Kreises der Rechtsgelehrten eine beachtliche Schockwirkung hatte, führte Griffith eine schlichte soziologische Studie durch, die zu dem Ergebnis kam, dass britische Richter seiner Zeit dazu neigten, die Werte der Konservativen Partei durch ihre Entscheidungsfindung zu unterstützen.[68] Griffiths kritisches und politikbewusstes Wissenschaftsverständnis, obgleich heutzutage in mancher Hinsicht aus der Mode gekommen, beeinflusst weiterhin viele, die sich mit dem Gebiet beschäftigen.[69]

 

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 60 Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Großbritannien (England und Wales) › III. Die Gegenwart: Alte Tendenzen und neue Richtungen

III. Die Gegenwart: Alte Tendenzen und neue Richtungen

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In der Zeit seit 1980 kam es zur Weiterentwicklung bereits vorhandener wissenschaftlicher Tendenzen und zur Erschließung einer Anzahl neuer Untersuchungsrichtungen.

1. Das Fortführen der Lehrbuchtradition

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Die Tradition des Verwaltungsrechtslehrbuchs hat einen neuen Anstoß erfahren, trotz Kritik aus einigen Reihen.[70] Wades und de Smiths Lehrbücher erscheinen nach wie vor in neuen Auflagen, wenn auch beide inzwischen unter veränderter Autorenschaft.[71] Aus dem üppigen neuen Bestand[72] sind zwei Bücher besonders hervorzuheben: Paul Craigs Lehrbuch Administrative Law war bahnbrechend in seinem Versuch, das Fach mit der Politik- und Rechtstheorie zu verquicken. Craig bezog sich hierbei auf Ronald Dworkins Rechtstheorie,[73] um eine Anschauung zu etablieren, nach der Verwaltungsrecht letztendlich eine „Frage der Prinzipien“ ist, deren Hauptanliegen die Zusicherung und Wahrung individueller Rechte ist, vornehmlich durch die Gerichte.[74] Diese Ansicht reflektiert die mittlerweile herrschende theoretische Position in der Verwaltungsrechtswissenschaft, welche wahlweise als „rechtlicher Konstitutionalismus“ oder „liberaler Normativismus“ bezeichnet wird.[75] Das Buch Law and Administration (Erstauflage 1984), das gemeinsam von Carol Harlow und Richard Rawlings verfasst wurde, ist ein Werk, das tief in einer unverwechselbar funktionalistischen oder „Recht im Kontext“-Perspektive wurzelt. Indem sie sich gegen den gerichtszentrierten Blickpunkt anderer Texte aussprechen, entwickeln die Autoren eine ausgefeilte und rigoros recherchierte Fallstudienmethode, in der das Recht fest im Kontext der Verwaltungspraxis situiert ist.[76] Law and Administration – dessen dritte Auflage 2009 erschienen ist – hat einen großen Einfluss auf Generationen von Studenten und Wissenschaftlern ausgeübt.

2. Die Ausweitung des richterlichen Rechtsschutzes

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Der wissenschaftliche Diskurs bezüglich des richterlichen Rechtsschutzes in unserer Zeit ist lebendig, und eine Reihe neuer Vorstöße sind ausgelotet worden.[77] Die wissenschaftliche Aufmerksamkeit, die dem richterlichen Rechtsschutz zukommt, kann zum Teil durch das exponenzielle Wachstum der Anzahl der Rechtsschutzverfahren, die jedes Jahr verhandelt werden, erklärt werden – ei- ne Entwicklung, die von einer Anzahl empirischer Studien festgehalten wurde –, wie auch vor dem Hintergrund von dessen gesteigerter politischer Bedeutung.[78] Die Ausweitung des richterlichen Rechtsschutzes ist dabei wesentlich den prozeduralen Reformen der späten 1970er Jahre geschuldet. Außerdem gab es eine Reihe bedeutender dogmatischer Entwicklungen in dieser Zeit, welche eine genauere Betrachtung verdienten. Die „Fairness Revolution“[79] der 1960er Jahre – in der die Gerichte die alten Regeln der „natürlichen Gerechtigkeit“, welche gewisse Kategorien der Entscheidungsfindung praktisch immunisierten, zugunsten eines weiterreichenden und flexibleren Standards der „prozeduralen Fairness“ verwarfen – veranlasste einige interessante wissenschaftliche Beiträge.[80] Diese Arbeit war zum großen Teil von der nordamerikanischen Forschung[81] beeinflusst, ein generelles Kennzeichen der britischen Verwaltungsrechtswissenschaft der Gegenwart.[82] Einige der dogmatischen Entwicklungen, die durch diesen Paradigmenwechsel gefördert wurden, insbesondere das strittige und potenziell uferlose Prinzip des Vertrauensschutzes, sind ausgiebig analysiert worden.[83] Der Fokus der Wissenschaft liegt nun auf richterlichem Rechtsschutz und Rechten (insbesondere Menschenrechten), eine Entwicklung, die unten gesondert aufgearbeitet wird.

3. Die empirische Wissenschaft

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Das verstärkte Hervortreten des richterlichen Rechtsschutzes gab auch den Antrieb für Untersuchungen in Bezug auf dessen Auswirkungen. Ein wichtiger neuer Wissenschaftszweig ist dabei empirischer Natur. Funktionalistisch in ihrer grundlegenden Orientierung, aber unter Zuhilfenahme gesellschaftswissenschaftlicher Methoden, rücken diese rechtssoziologischen Studien unter anderem die Zahl und Art der angestrengten Verfahren,[84] der Voraussetzungen, die im Rahmen der Zulässigkeit vor dem sachlichen Begehren zu erfüllen sind,[85] sowie Fragen der Zugänglichkeit des Rechtswegs[86] in das Rampenlicht. Hinzu kommt empirisch unterlegte Forschung bezüglich Verfahren im „öffentlichen Interesse“,[87] besonders im Hinblick auf die Rolle von Interessenvertretungen, die mittlerweile bedeutende Akteure im Gefüge des richterlichen Rechtsschutzes sind,[88] zum Teil aufgrund der Lockerung der Voraussetzungen für die Klagebefugnis durch die Gerichte.[89] Andere Wissenschaftler haben die Bedeutung des richterlichen Rechtsschutzes in bestimmten Bereichen der öffentlichen Verwaltung untersucht, z.B. im Strafvollzugswesen,[90] im Wohnungswesen und bei Obdachlosigkeit,[91] in der lokalen Verwaltung[92] sowie bei Asyl und Einwanderung.[93] Der rote Faden, der sich durch diese Auswirkungsstudien zieht, ist, dass richterlicher Rechtsschutz häufig nicht vollends im Rechtsalltag ankommt.[94]

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Obgleich sich ein signifikanter Anteil der empirisch fundierten Literatur vornehmlich mit richterlichem Rechtsschutz befasst, sind auch andere Aspekte des Verwaltungsrechts rechtssoziologisch betrachtet worden. Das System der Entscheidungsfindung der Tribunale, wie erwähnt von zentraler Bedeutung für die Arbeit William A. Robsons, war Gegenstand systematischer empirischer Forschung. Hazel Genn beobachtete in ihrer Untersuchung von vier unterschiedlichen Tribunalen, dass entgegen „der gebräuchlichen Charakterisierung als informell, leicht zugänglich und untechnisch“, Tribunale häufig „nicht besonders schnell“ sind und, was ihre Informalität betrifft, große Unterschiede aufweisen. Sie schlussfolgerte, dass es „beträchtliche Einschränkungen bezüglich der Effektivität von Tribunalen als Instanz zur Kontrolle der Beschlussfassung der Verwaltung gibt und dass diese Einschränkungen zumindest teilweise auf die Ausgestaltung der Tribunale und den geringen Grad der Vertretung vor Tribunalen zurückzuführen sind“.[95] Andere Verwaltungseinheiten, wie die Ombudspersonen der zentralen und lokalen Regierung (insbesondere der Parliamentary Commissioner for Administration[96]) und die Citizen’s Charter, ein 1991 ins Leben gerufenes Programm, welches von allen betroffenen Verwaltungsstellen verlangt, dass sie Richtlinien entwickeln, in denen sie zu erwartende Dienstleistungsstandards und Mechanismen zum Umgang mit Beschwerden angeben, falls jene nicht eingehalten werden,[97] sind systematisch beleuchtet worden.

4. Die Kritiker

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Eine weitere Strömung empirisch-orientierter Wissenschaft betreibt eine Kritik des gesamten Unterfangens des richterlichen Rechtsschutzes und, im weiteren Sinne, der gegenwärtigen Agenda des Verwaltungsrechts. In einem Kapitel eines einflussreichen, 1994 veröffentlichten Sammelbands kritisierte Ross Cranston die „moderne Orthodoxie“, die davon ausgeht, dass richterlicher Rechtsschutz „notwendig ist, um Regierungshandeln zu kontrollieren, sowie als Mittel zur Abhilfe gegen diesbezügliche Missstände in einem Zeitalter der starken Exekutive“. In Anbetracht der praktischen Auswirkung des richterlichen Rechtsschutzes argumentierte Cranston, dass die Gerichte in vielen Bereichen äußerst periphere Akteure seien und dass richterlicher Rechtsschutz selbst in Bereichen, in denen es relativ viele Verfahren gegeben hat, nur vereinzelte Auswirkungen habe. Die Gerichte sollten, so folgerte er, „in der Anwendung und Ausweitung der Gründe des richterlichen Rechtsschutzes vorsichtiger agieren, als sie es bisher zuweilen getan haben“.[98] Einige Kritiker spielten ausdrücklicher auf den Einfluss der critical legal studies-Bewegung an, welche ihre Glanzzeit in den (nordamerikanischen) juristischen Fakultäten in den 1980er Jahren hatte.[99] Der kanadische Rechtswissenschaftler Alan Hutchinson publizierte 1985 in der Modern Law Review einen ihm zufolge „bescheidenen Essay“ in der Tradition dieser kritischen Rechtswissenschaft.[100] Dieser für sein Genre typische Aufsatz argumentierte, dass die viel gepriesene „Zunahme des Verwaltungsrechts und seiner Wissenschaft“ in Wahrheit „ein Trick“ sei. Da Studien zeigten, dass das Recht trotz allen Aufhebens wenig Einfluss auf praktisches Verwaltungshandeln hat, könne die Bedeutung des Verwaltungsrechts nicht praktisch, sondern nur ideologisch sein, und genau in entgegensetzter Weise zu dem, was sich die meisten Verwaltungsrechtler vorstellen mögen. „Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtswissenschaft erleichtern und legitimieren administrative Gewalt, deren Ausübung und Missbrauch sie durch ihre Existenz einschränken und beseitigen sollten.“ Wenn wir Demokratie ernst nehmen, folgerte Hutchinson, sollten die gewaltigen institutionellen und intellektuellen Ressourcen, die in das Verwaltungsrecht und seine Wissenschaft gesteckt wurden, neu eingesetzt werden, da letzten Endes „ein Quentchen demokratischer Vorbeugung besser ist als ein Pfund gerichtlicher Abhilfe“.[101]

5. Regeln und Ermessen

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Die „Regeln versus Ermessen“-Debatte, seit Dicey ein bedeutendes Thema in der Literatur, ist nach wie vor ein Schauplatz der Diskussion. Der Anstoß für das wiederaufkommende Interesse entstammt zwei Quellen, einer allgemeinen und einer spezifischeren. Der allgemeine Grund betrifft die nahezu universelle Juridifizierung von Politik und Verwaltung,[102] ein Phänomen, welches an sich schon die Aufmerksamkeit einiger britischer Verwaltungsrechtler auf sich gezogen hat.[103] Der spezifischere Grund ist der Einfluss des amerikanischen Öffentlichrechtlers Kenneth Culp Davis. Davis verwarf das Diceysche rule of law-Paradigma als zu gerichtsfixiert und ermahnte die Verwaltungsrechtler, sich weniger mit den bereits relativ transparenten und gut überwachten Gebieten des Verwaltungshandeln zu befassen und sich mehr „den unangenehmen Bereichen der Ermessensentscheidungen der Polizei und Staatsanwälte und anderer Verwaltungseinheiten, wo häufige Ungerechtigkeit nach drastischen Reformen verlangt“, zu widmen.[104] Das Anliegen von Davis, das Licht des Rechts in dunkle Ecken zu leuchten, war ein dienlicher Ansporn für rechtswissenschaftliche Arbeit zu bisher vernachlässigten Aspekten des Verwaltungsrechts.[105] Sozialrecht, Strafvollzug, Einwanderung – alles bis dahin marginalisiert – erhielt nun mehr wissenschaftliche (und richterliche) Aufmerksamkeit.[106]

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Verwaltungsrechtler haben angefangen, tiefgründiger über das Wesen von und das Verhältnis zwischen Regeln und Ermessen nachzudenken. In vielen (wenn nicht gar allen) dieser Fälle wird der Einfluss von Davis ausdrücklich anerkannt. Jeffrey Jowell zum Beispiel baute in einem wichtigen frühen Beitrag zur rechtlichen Überwachung des Verwaltungsermessens auf die Arbeit von Davis (sowie das Schaffen zweier anderer amerikanischer Juristen, Roscoe Pound und Ronald Dworkin) auf.[107] Denis James Galligans ausführlichere Untersuchung einer ähnlichen Thematik ein Jahrzehnt später betonte die Entscheidungen und Handlungen von nicht-richterlichen Verwaltungsstellen und identifizierte Davis als fundamentalen Impulsgeber.[108] Andere Wissenschaftler konzentrierten sich auf die Natur und Funktion von Regeln. So analysiert zum Beispiel Robert Baldwin in seinem Buch Governing with Rules – ein weiteres Werk, das von Davis inspiriert wurde – den Gebrauch von Regeln durch Verwaltungsstellen.[109]