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I. Prolegomena

Der Beitrag wurde aus dem Englischen übersetzt von Marc Jacob.

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Dieser Aufsatz schildert eine Geschichte der Verwaltungsrechtswissenschaft in England und Wales. Nicht ohne Grund beziehe ich mich auf England und Wales und nicht auf das Vereinigte Königreich, da das Verwaltungsrecht in Schottland in mancherlei Hinsicht eine andere Entwicklung genommen hat als in den übrigen Teilen Großbritanniens. Ich spreche von einer Geschichte und nicht von der Geschichte der Verwaltungsrechtswissenschaft, weil ich in dem mir zur Verfügung stehenden Rahmen nur einige der wichtigsten Entwicklungen und Lehrmeinungen aufzeigen kann, die innerhalb der Disziplin entstanden sind. Was folgt, ist eine recht orthodoxe Beschreibung der Entwicklung der Verwaltungsrechtswissenschaft in England und Wales, obgleich ich mir sicher bin, dass andere Geschichten dieser Entwicklung, einige davon subversiver als die geläufigeren Darstellungen, erzählt werden könnten.

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Zwei Bemerkungen sind zu Beginn der Erzählung angezeigt. Die erste betrifft die prominente Rolle, welche die Richter bei der Entwicklung des Verwaltungsrechts und der Verwaltungsrechtswissenschaft in Großbritannien gespielt haben. Der vorliegende Aufsatz wird Positionen beleuchten, die sich gegen eine Konzeption des Verwaltungsrechts wenden, die sie für übertrieben gerichtsfixiert halten; gleichwohl ist es nach wie vor zutreffend, dass Richter nicht nur prägend darin sind, die Prinzipien des Verwaltungsrechts zu begründen und voneinander abzugrenzen, insbesondere im Zusammenhang mit ihrer Überprüfungskompetenz, sondern dass sie fast zu jedem Zeitpunkt der Geschichte auch unmittelbar zum wissenschaftlichen Diskurs beigetragen haben. Wie ein Kommentator anmerkte, „ist es im System des Common Law der Richter, der den Ehrenplatz einnimmt“.[1] Die herausragende Bedeutung des Richters ist ein Kennzeichen der Rechtsordnungen des Common Law und muss somit im Rahmen dieses internationalen und mit diversen Rechtssystemen befassten Bandes in Erinnerung gerufen werden. Ebenso ist bemerkenswert, dass Richter selbst dort Einfluss ausgeübt haben, wo beachtliche Barrieren zwischen Rechtswissenschaft und Rechtspraxis bestanden; dies ist ein für große Teile des zu behandelnden Zeitraums eigentümliches Phänomen, auch wenn es gegenwärtig viel schwächer ausgebildet ist, als dies früher der Fall war.[2]

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Die zweite einleitende Bemerkung betrifft den Einfluss, den nicht-britische Rechtsgelehrte und Richter auf die englische Verwaltungsrechtswissenschaft hatten und noch haben. Dieser Punkt hat ebenfalls mit dem Common Law zu tun. England und Wales bilden lediglich eine – wenn auch historisch gesehen zentrale – Jurisdiktion aus einer Vielzahl eng miteinander verwandter Rechtsordnungen. Gerichte in anderen Jurisdiktionen des Britischen Commonwealth, vor allem in Kanada, Australien, Neuseeland, aber in einem geringeren Maße auch in Indien, pflegen schon lange einen multilateralen Diskurs über verwaltungsrechtliche Angelegenheiten mit den englischen Gerichten. Es verwundert daher wenig, dass Wissenschaftler aus diesen Ländern – oft auf höchst einflussreiche Weise – zur englischen Verwaltungsrechtswissenschaft beigetragen haben. „Es hat einen enormen wechselseitigen Austausch von Ideen und Lehrmeinungen im Verwaltungsrecht des Anglo-Commonwealth gegeben […]. Einige Wissenschaftler und Juristen des Common Law agierten bereits ‚global‘, bevor es das Wort gab, um dieses Phänomen zu beschreiben.“[3] Diese Dynamiken, obschon für große Teile der relevanten Periode zu erkennen, sind gegenwärtig besonders wirkungsmächtig. Die Entwicklung des internationalen (und internationalisierenden) Menschenrechtsdiskurses ist dabei sicherlich ein wichtiger Faktor.[4]

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 60 Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Großbritannien (England und Wales) › II. Die Anfänge

II. Die Anfänge

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Verwaltungsrecht „beschäftigt sich mit dem Bereich der Rechtskontrolle, die durch nichtgerichtliche, das Recht administrierende Verwaltungseinheiten ausgeübt wird, und der Kontrolle dieser Verwaltungseinheiten durch die Gerichte“.[5] Seine Ursprünge liegen in der wachsenden Anzahl der „rechtsverwaltenden Agenturen“ im 19. Jahrhundert. Die Entwicklung des Verwaltungsrechts und seiner Wissenschaft in England wird durch zwei Aspekte verkompliziert. Einer davon geht auf Besonderheiten der konstitutionellen und administrativen Entwicklung in England zurück; der andere hängt mit der Zurückhaltung der Common Law-Juristen zusammen, die Existenz und Bedeutung wesentlicher Entwicklungen im aufkeimenden Verwaltungsstaat anzuerkennen. Diese Faktoren hallen noch heute nach und werden im Folgenden behandelt.

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Am Ende des 18. Jahrhunderts hatte der Zentralstaat in weiten Teilen Europas die Verantwortung für die Verwaltung des Landes übernommen. Er regulierte und kontrollierte die Aktivitäten der örtlichen Institutionen durch Verwaltungsrecht, das in der kontinentaleuropäischen Tradition als Rechtskorpus identifiziert wird, der in der Fähigkeit des Souveräns, Anordnungen zu erlassen, begründet ist. Zu diesem Zeitpunkt fand in England die Vorstellung, dass Verwaltung das besondere Vorrecht der Exekutive ist, noch keine Akzeptanz.[6] Obwohl England seit der Eroberung durch die Normannen zentral regiert wurde, versuchte der Zentralstaat nicht tatsächlich vom Zentrum aus zu lenken, sondern er verließ sich auf ein vergleichsweise zusammengeschustertes, aber nicht notwendigerweise ineffektives System des lokalen Regierens und Verwaltens. Als Ergebnis bildete sich weder ein hierarchisches Konzept einer „Verwaltung“ noch eine klare Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht aus. Des Weiteren bewirkte die anhaltende Strahlkraft der konstitutionellen Neuordnung des späten 17. Jahrhunderts, durch welche die Krone rechtlich dem Parlament untergeordnet wurde, dass die Verwaltung dem einfachen Recht, dem Common Law, untergeordnet blieb. Beziehungen zwischen dem Zentralstaat und den Ortschaften entwickelten sich somit durch netzwerkartige Verbindungen zwischen lokaler Regierung, Parlament und Gerichten.[7]

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Dieses dezentralisierte System war noch im frühen 19. Jahrhundert wirksam. Nach der industriellen Revolution machte das Muster des sozialen Wandels jedoch neue Ausgestaltungen erforderlich. Anfangs versuchte man, diese neuen Strukturen dadurch zu verwirklichen, dass man sie mit bereits bestehenden lokalen Systemen verknüpfte. Innerhalb dieser neuen Systeme behielten die Common Law-Gerichte allerdings ihre privilegierte Position, gerade weil viele der zunächst angestrebten Veränderungen auf der Gerichtsbarkeit aufbauten.[8] Erst als sich diese Lösungen als unzulänglich erwiesen, begannen aufeinander folgende Regierungen etwas zu errichten, das als integriertes System der landesweiten Verwaltung bezeichnet werden könnte und auf einer einigermaßen einheitlichen Ordnung der örtlichen Verwaltung basierte.[9] Doch auch danach neigte die Zentralregierung dazu, nicht unmittelbar selbst zu verwalten: Viele (teils wichtige) Aufgaben wurden weiterhin durch örtliche Verwaltungseinheiten wahrgenommen, die oft als „Boards“ bezeichnet wurden, welche selbständig neben der Zentralregierung bestanden (so z.B. das Board of Guardians, das die Anwendung des Poor Law Amendment Act von 1834 beaufsichtigte). Gleichwohl führte ein stetiger Prozess der Kommunalisierung dazu, dass die Gerichte durch die Zentralregierung als wichtigstem Mittler für die Regulierung des Verwaltungsgeschehens ersetzt wurden. „Seit den 1830er Jahren basiert das moderne Verwaltungsrecht fast ausschließlich auf Gesetzesrecht.“[10] Das Ergebnis war eine größtenteils nicht-juridifizierte öffentliche Verwaltung, welche möglicherweise das anti-rationalistische Gemüt des englischen Politikverständnisses widerspiegelt.[11] Selbstregulierung war das Markenzeichen der englischen öffentlichen Verwaltung und führte im Großen und Ganzen während der Entstehung des Verwaltungsstaates im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zum Rückzug der Gerichte aus der aktiven Überwachung vieler administrativer Bereiche.

1. Diceys Dementi

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Doch was taten die Common Law-Juristen zu jener Zeit? Die Gerichte waren durch die Maßnahmen von Exekutive und Legislative nicht einfach nur aus einer aktiven Rolle in der öffentlichen Verwaltung vertrieben worden. Die Common Law-Juristen an sich waren gegenüber der Entwicklung eines Verwaltungsstaates generell feindselig eingestellt und versäumten es, zum Teil gerade aufgrund dieses Widerstrebens, eine eigenständige Lehre des Verwaltungsrechts zu entwickeln. Die bei weitem einflussreichste Person war Albert Venn Dicey, Vinerian Professor an der Universität Oxford und bis heute Galionsfigur dieses Verständnisses.[12] Dicey verstarb 1922, „jedoch ist er der Geist, der wie ein Phantom im Hain des Verwaltungsrechts wandelt“[13]. In einem Kapitel seines maßgebenden und immer noch vielzitierten Werks Introduction to the Study of the Law of the Constitution (Erstveröffentlichung 1885) verglich Dicey die kontinentaleuropäische (insbesondere die französische) Ordnung des droit administratif wenig schmeichelhaft mit dem in England geltenden Common Law-System. „Verwaltungsrecht“, so schrieb er, „beruht auf Vorstellungen, die den grundlegenden Annahmen unseres englischen Common Law fremd sind, und vor allem dem, was wir als rule of law bezeichnen.“ Dicey konnte sich bis 1915 nicht einmal überwinden, den (englischen) Begriff administrative law zu verwenden. Dieser Ausdruck, so sagte er, sei „den englischen Richtern und Anwälten unbekannt“, und das aus gutem Grund, da, wie er argumentierte, droit administratif dazu diene, französische Funktionäre und Staatsdiener dem Zugriff des gemeinen Rechts zu entziehen, und somit „das stärkste Element der despotischen Tradition der Monarchie mit dem stärksten Element in der gleichermaßen despotischen Überzeugung des Jakobinismus“ vereine. Indem es „zwei führende Ideen, die dem Denken der modernen Engländer fremd sind“, enthält – Privilegien für Staatsbeamte und die Gewaltenteilung, die mit der Dynastie der Stuarts verworfen worden waren –, „fußt das Verwaltungsrecht auf Konzepten, die dem englischen Recht gänzlich unbekannt sind.“ Daher schlussfolgerte Dicey: „[E]s gibt in England kein echtes droit administratif.“[14]

 

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So seltsam es auch angesichts des Platzes, den Dicey im Pantheon der englischen Wissenschaft des öffentlichen Rechts sowohl zu seiner Zeit als auch seitdem eingenommen hat bzw. einnimmt, scheinen mag, irrte er dennoch gewaltig, was die Existenz und das Wesen des Verwaltungsrechts angeht. „Es ist schon lange anerkannt, dass sogar zu der Zeit, in der Dicey wirkte, britische Juristen tatsächlich Verwaltungsrecht praktizierten – gleichsam wie Monsieur Jourdain in Molières Le Bourgeois Gentilhomme (1670) eines Tages bemerkt, dass er, ohne es zu wissen, sein Leben lang bereits Prosa gesprochen hat“.[15] Dicey modifizierte seinen Standpunkt später.[16] In einem 1915 erschienenen Aufsatz, der nach der Einführung eines Sozialreformpakets veröffentlicht wurde, das in gewisser Hinsicht den modernen Wohlfahrtsstaat ankündigte, konstatierte Dicey, dass moderne Gesetzgebung, die Hoheitsträgern weite Befugnisse einräumt (vor allem streitschlichtender Art), „ein beachtlicher Schritt in Richtung einer hiesigen Einführung von etwas, das dem droit administratif Frankreichs ähnelt“, sei. Dicey selbst waren diesen Entwicklungen nicht geheuer, und er argumentierte, gestützt auf aktuelles Fallrecht,[17] dass die besondere Eigenschaft und die Rettung des englischen Systems der Tatsache geschuldet sei, dass die ordentliche (Common Law-)Gerichtsbarkeit sich mit Rechtsverletzungen durch Amtsträger befasse, wenngleich unter Bezugnahme auf spezifische Rechtsprinzipien.[18] Diese abgewandelte Sicht Diceys wurde im Laufe der Zeit zur herrschenden Meinung innerhalb der englischen Verwaltungsrechtswissenschaft. Ihre Hauptmerkmale waren (a) ein Misstrauen gegenüber dem Verwaltungsstaat und insbesondere dem Ermessen der Verwaltung, (b) eine Tendenz zur Vermeidung besonderer Regeln (des öffentlichen Rechts), Prinzipien und Tribunale zur Überwachung der Verwaltung sowie (c) eine zentrale Rolle für Gerichte und rechtliche Mechanismen zur Kontrolle öffentlichen Handelns.

2. Verwaltungsrecht: Das „illegitime Exotische“

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In den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen wurde das Verwaltungsrecht zusehends mit mehr Aufmerksamkeit bedacht, ungeachtet der Skepsis vieler Common Law-Juristen. So schrieb der US-amerikanische Rechtswissenschaftler (und spätere Richter am Obersten Gerichtshof) Felix Frankfurter in einem 1927 veröffentlichten Aufsatz: „[D]ie Entwicklung, auf die Dicey so eindringlich im April 1915 hingewiesen hat, hat sich seitdem reichlich entfaltet, und englische Autoren haben die grundlegenden Gewalten, die sie aufdeckt, intensiv analysiert […]. Und so überwältigte dieses illegitime Exotische, das Verwaltungsrecht, beinahe über Nacht den Berufsstand der Juristen, dessen Ankunft ihnen seit Jahren von den einsamen Wissenschaftlern im Elfenbeinturm prophezeit worden war.“[19] Zwei Lehrstränge stachen in den Jahren zwischen den Kriegen besonders hervor. Der erste basierte unmittelbar auf Diceys Arbeit, wenn auch die Gleichgültigkeit und Selbstgefälligkeit des Originals durch ein Gefühl des Unbehagens, das gelegentlich an Verzweiflung grenzte, ersetzt worden war. Die Zunahme progressiver Sozialgesetzgebung sowie die feministische[20] und sozialistische Bewegung (die Labour-Partei stellte 1924 erstmals die Regierung) trieb die Problematik auf die Spitze. Lord Gordon Hewart, seinerzeit Lord Chief Justice, veröffentlichte 1929 ein Buch mit dem Titel „The New Despotism“, das gewissermaßen zur cause célèbre avancierte. „So haben wir hier die Spitze der Common Law-Gerichte, ganz im Geiste Cokes, Hales und Mansfields und größtenteils in Diceys Bezugssystem verortet, welche die Besorgnis zum Ausdruck bringt, dass der Vorrang des ,gemeinen Rechts‘ durch gesetzesrechtliche Entwicklungen infrage gestellt wird.“[21] Hewart warnte vor der Gefahr einer „organisierten administrativen Rechtlosigkeit“, die aus den neuen gesetzlichen Ermächtigungen hervorgehe. Er beanstandete „ein beständiges und geschickt arrangiertes System, das vorsätzlich wie tatsächlich eine despotische Gewalt schafft, welche […] Regierungsbehörden über die Parlamentssuprematie und außerhalb der Zuständigkeit der Gerichte stellt“.[22]

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Hewarts Bedenken, dass sich verfassungsimmanente Schranken zusehends als unzureichend erweisen und die Hoheitsgewalt der Amtsträger auf Kosten der Bürger ausgedehnt wird, wurde von einer Reihe Rechtswissenschaftler geteilt,[23] allen voran von dem gebürtigen Australier Carleton K. Allen.[24] In Law and Orders stellte Allen die Behauptung auf, dass die Ausweitung der delegierten Rechtsetzung ein Problem ersten Ranges darstelle.[25] In einer Attacke gegen die damals bestehende Praxis der Gerichte bezüglich der richterlichen Überprüfung von Verwaltungshandeln, welche zwischen administrativen, justiziellen und quasi-justiziellen Angelegenheiten unterschied und rechtliche Beschränkungen nur für die letzten beiden Kategorien verordnete, stellte Allen fest, dass sich im zeitgenössischen Alltag „die administrativen, justiziellen und legislativen Funktionen häufig und notwendigerweise überlappen“.[26] Allen glaubte, wie schon Dicey, an das Potenzial der Gerichte, Verwaltungshandeln zu beaufsichtigen, und er argumentierte, dass „trotz des Anscheins ‚richterlicher Sabotage‘“ die Judikative „zunehmend dazu neigt, ihre Finger vom ‚rein Administrativen‘ zu lassen, und es unterlässt, sich in die Erledigung öffentlicher Angelegenheiten einzumischen“.[27] Dennoch war Allen auch eher ein Geschöpf des „Zeitalters der Gesetze“.[28] Die „traditionelle Methode des Fallrechts und Präjudizes“, meinte er, sei nicht in der Lage, sich an den veränderten Charakter des öffentlichen Rechts anzupassen, welcher aus dem politischen und sozialen Wandel entstanden sei. Er erkannte zudem, dass es in dieser schönen neuen Welt möglich war, dass Gerichte keine Lösung finden würden – eine Situation, die er wie folgt beschrieb: „Wir sollten uns besser mit dem Gedanken anfreunden, dass das Parlament als Gesetzgeber aufgehört hat, Autorität auszuüben.“[29]

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Hewart veranlasste die Regierung, eine Untersuchungskommission einzuberufen (das Committee on Ministers’ Powers, gemeinhin als Donoughmore-Komitee bekannt), um die delegierte Rechtsetzung und die „justiziellen und quasi-justiziellen“ Entscheidungen der Zentralregierung zu begutachten. Indem er Einfluss auf die Zusammensetzung der Kommission nahm, stellte Hewart zudem sicher, dass das Komitee – wie William A. Robson trefflich anmerkte – sein Dasein von Beginn an mit „der kalten Grabeshand Diceys an der Kehle“ fristete.[30] Gewiss, der Donoughmore-Bericht enthielt keine radikalen Lösungsansätze oder Vorschläge. Er lehnte z.B. Robsons weitreichenden Vorschlag ab, eine geregelte Gerichtsbarkeit bestehend aus Verwaltungsgerichten (tribunals), die von Ministern unabhängig sein sollte, einzurichten. Dennoch löste er sich von früheren Fehleinschätzungen und trug dazu bei, Überreaktionen bezüglich der Entwicklung des Verwaltungsstaates im Stile Hewarts zu entschärfen. Delegierte Rechtsetzung sei unvermeidbar geworden, stellte der Bericht fest, insbesondere um die Details eines parlamentarischen Gesetzes zu präzisieren. Solange es gewisse Vorsichtsmaßnahmen gebe, sei durch die Ausübung justizieller Gewalt seitens der Exekutive nichts zu befürchten. Dieser gemäßigte, pragmatische Tonfall veranlasste einen Kommentator dazu anzumerken, der Donoughmore-Bericht sei – sowohl wegen seiner Analyse als auch wegen seiner Empfehlungen – „eine Brücke zwischen Alt und Neu“.[31]

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Die andere bedeutende Strömung innerhalb der Wissenschaft dieser Zeit ging von einer Gruppe Gelehrter an der London School of Economics aus. Die „funktionalistische“ Schule der Wissenschaft des öffentlichen Rechts, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufkam und letztendlich zu einer Art traditioneller Mindermeinung der Verwaltungsrechtswissenschaft wurde, kann nicht als einheitliche Theorie dargestellt werden. Ihr treibendes Anliegen war, beeinflusst durch den französischen Rechtswissenschaftler Léon Duguit,[32] die Verbesserung der Lebensbedingungen; ihre Orientierung war realistisch, wissenschaftlich, soziologisch und skeptisch.[33] Harold Laski war eine Schlüsselfigur. Er beeinflusste seine jüngeren Kollegen an der LSE durch seine anti-metaphysische, pluralistische Theorie des Rechts und des Staates,[34] welche ihrerseits zu großen Teilen der pragmatischen Philosophie von William James und John Dewey geschuldet war.[35] Die Funktionalisten stellten die klassischen liberalen Annahmen der Diceyschen Orthodoxie in Frage. „Anders als die klassischen Liberalen, die dazu neigten, Freiheit und Gemeinschaft als gegensätzliche Konzepte aufzufassen, glaubten die Funktionalisten, dass diese eng verknüpft waren. Und ganz sicher setzten sie die ausgeweiteten Verantwortlichkeiten des Staates nicht damit gleich, den Wert der Freiheit zu unterminieren“, sondern „betrachteten die sich ausdehnende Rolle des Staates im Sozialleben als ein progressives Phänomen.“[36] Von einem unverhohlen funktionalistischen Standpunkt[37] aus kritisierte Sir Ivor Jennings Dicey wiederholt für die falsche Darstellung des Wesens und der Bedeutung des Verwaltungsrechts.[38] Jennings bedauerte die Tatsache, dass „sehr wenige derer, die ihr Verfassungsrecht bei Dicey gelernt haben, sich die Mühe gemacht haben nachzuschauen, ob Dicey Recht hatte“, und bot sich selbst an, um als neuer „Bentham den Ballon des Nachfolgers von Blackstone zum Platzen zu bringen“.[39] Im Widerspruch zu Diceys Vernachlässigung des Verwaltungsrechts, vertrat Jennings die Auffassung, dass, wenn „das Common Law kodifiziert werden würde, sich wahrscheinlich herausstellen würde, dass zwei Drittel des englischen Rechts – quantitativ, wenn auch nicht notwendigerweise bedeutungsmäßig – Verwaltungsrecht sind. Das Ergebnis der Verbreitung der Diceyschen Schule war also, dass der größte Teil des modernen Rechts von den Rechtswissenschaftlern ignoriert wurde.“[40] Wie er bemerkte, ist Verwaltungsrecht überall dort, wo die politische Organisation eines Staates weit entwickelt ist, wie es im damaligen England der Fall war, unweigerlich „ein großer und wichtiger Bereich des Rechts“.[41]

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Die Funktionalisten unter den Verwaltungsrechtlern stellten zudem die ihrer Ansicht nach nahezu obsessive Gerichtsfixierung der Diceyschen Schule in Frage. Jennings definierte Verwaltungsrecht in einer weiten Begrifflichkeit als „das Recht, welches sich mit der Verwaltung befasst“, und betonte das nicht-justizielle Wesen der Disziplin: „Verwaltungsrecht ist nicht gänzlich der Zuständigkeit der Gerichte entzogen.“[42] In seinem Werk Justice and Administrative Law begann William A. Robson mit der Einsicht: „Eine ungeheure Menge gerichtlicher Funktionen ist durch Sozialgesetzgebung den Zentralressorts der Regierung oder den Verwaltungstribunalen anvertraut worden“, ein Prozess, der zur Einführung eines „neuen Korpus des Verwaltungsrechts“ in der britischen Verfassung geführt habe.[43] Er kritisierte den Formalismus der britischen Rechtsordnung, der häufig den Effekt hatte, progressive Gesetzgebung zu drosseln: „Es war der Exekutive unmöglich, diese stark verbesserten und ausgeweiteten Regierungsfunktionen wahrzunehmen, solange ihre Aktivitäten durch die alten individualistischen Vorstellungen eingeschränkt wurden, die in einer extremen Fassung in den Gerichten vorherrschten. Der ausgeprägte Legalismus des englischen Rechtssystems […] führt zu der Tendenz, das Gemeinwohl auf dem Altar privater Interessen zu opfern in Fällen, in denen Letztere sich auf individuelle Rechte berufen können.“[44] In einem Vergleich zwischen altmodischem Verfassungsrecht mit seiner Betonung individueller Rechte und dem neuen Verwaltungsrecht, welches „öffentlichen Bedürfnissen gleiches Gewicht zukommen lässt“,[45] argumentierte Robson zugunsten von Verwaltungstribunalen gegenüber richterlicher Entscheidungsfindung im Kontext öffentlicher Verwaltung. Tribunale seien günstiger und schneller als Gerichte, führte er an, erleichterten die Einwirkungsmöglichkeit technischer oder spezialisierter Expertise und seien nicht durch konventionelle Regeln und Standards gegängelt.[46]