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AJDA L’Actualité Juridique – Droit Administratif
EDCE Études et Documents du Conseil d’État
GAJA Grands arrêts de la jurisprudence administrative
RDP Revue du Droit Public et de la science politique en France et à l’étranger
RFDA Revue Française de Droit Administratif

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 59 Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Frankreich › I. „Geburt einer Wissenschaft vom Verwaltungsrecht“

I. „Geburt einer Wissenschaft vom Verwaltungsrecht“[1]

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„Verwaltungsrechtswissenschaft“ wird als solche an den juristischen Fakultäten Frankreichs nur selten unterrichtet. Um auf den Begriff zu stoßen oder gar auf eine bestimmte Vorstellung, worum es sich dabei handeln könnte, muss man schon Literatur heranziehen, die sich mit der Geschichte der Verwaltung oder des Verwaltungsrechts befasst. Die verwaltungsrechtlichen Lehrbücher hingegen sind in der Hinsicht wenig aufschlussreich. Wahrscheinlich betreiben ihre Autoren Wissenschaft, ohne es zu wissen. Wie dem auch sei, als vermeintliches Produkt juristischen Denkens kann die Wissenschaft vom Verwaltungsrecht, so es sie denn gibt, als „Betätigung der Vorstellungskraft am Gegenstand des Rechts“ verstanden werden.[2] Das Ergebnis dieser Betätigung scheint heute ungewiss. Man kann zwar immer noch geneigt sein, an ein „Primat des Verwaltungsrechts“ und an eine Vorrangstellung seiner Wissenschaft zu glauben.[3] Keinesfalls aber kann man den „fundamentalen inneren Widerspruch einer Disziplin [ignorieren], die gleichzeitig Dienerin individueller Freiheit und Garant effektiver Verwaltung, Beschützerin des Bürgers gegen die Exekutive und Mittel zur Durchsetzung des Regierungswillens sein will.“[4] Wenn man dann liest, dass es „das große Verdienst des Conseil d’État [sei], die am wenigsten schlechte Lösung für dieses Problem gefunden zu haben“, ist man am Kern der Sache angelangt. In der Tat scheint die Wissenschaft vom Verwaltungsrecht von Beginn an untrennbar mit dem Conseil d’État verwoben. Jedoch sollte man sich auch davor hüten, nur der Hagiograph jener Institution zu sein, deren Ursprünge in der Verfassung des Jahres VIII (1799) liegen und die vom Ersten Konsul (Napoleon Bonaparte) als wesentliches Instrument seiner Herrschaft begriffen wurde.

1. Im Gefolge der Französischen Revolution

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Auch wenn sich aus dieser Feststellung noch keine methodischen Schlüsse ergeben,[5] so kann sie doch als eine Art Geburtsurkunde dienen. Wenn der Entstehungszeitpunkt der Wissenschaft vom Verwaltungsrecht hier auf die Zeit nach der Gründung des Conseil d’État im Jahre VIII (1799) datiert wird, so mag das vielleicht verwundern: Für viele Historiker schlug „die Geburtsstunde des Verwaltungsrechts unter der monarchie administrative“ und damit schon vor der Französischen Revolution.

[6] Ihre Studien zeigen, dass bereits zu dieser Zeit ein veritabler Korpus von administrativen Regeln entstanden war.[7] Die damaligen Rechtsgelehrten erkannten schnell dessen Eigenart, seinen gegenüber dem „gemeinen Recht“ derogativen Charakter,[8] und fanden in der „Polizei (police)“ den Schlüssel zu einer gewissen begrifflichen Erfassung. Davon zeugt der Traité de la police (1707/1710) von Nicolas Delamare (1639–1723) im frühen 18. Jahrhundert. Das Werk ist eine systematische Bestandsaufnahme der „Polizeigesetze“, die aus einer pragmatischen Perspektive erstellt wurde, für den „Dienst am König und das öffentliche Wohl“. Seine Methode ist historisch. „Meine Absicht war nicht“, schrieb Delamare, „eine bloße Sammlung der Anordnungen und Vorschriften mit Bezug zur Polizei zusammenzustellen, sondern ihre Entstehungsgeschichte nachzuzeichnen.“[9] Es ist freilich allgemein anerkannt, dass der Begriff der „Polizei“ immer mehrdeutig geblieben ist. So kann man ihn sehr weit im Sinne einer das gesamte gesellschaftliche Leben erfassenden „Policey“ verstehen oder sehr eng im Sinne der bloßen Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung. Allerdings wurde er Mitte des 18. Jahrhunderts durch das neue Konzept der öffentlichen Verwaltung verdrängt, welche umfassend definiert werden konnte als „Gesamtheit von Personen- und Sachmitteln, die dazu bestimmt ist, eine gewisse gesellschaftliche Ordnung von Sachen, Rechten und Eigentumsverhältnissen, seien es öffentliche oder private, aufrechtzuerhalten.“[10] Um dieses Ziel zu erreichen, bedurfte es eines besonderen Rechts, eines „politischen Rechts“, Ausdruck der spezifischen Erfordernisse des „Gemeinwohls“, das sich „naturgegebenermaßen“ deutlich vom Zivilrecht unterschied und für das ein besonderer Rechtsweg vorgesehen war. Darüber hinaus waren in einer Zeit, als den Wissenschaften allgemein großes Interesse galt, die Umstände günstig für die Entstehung einer eigenen Wissenschaft, die sich der Strukturierung und Weiterbildung dieses Rechts widmete. Damit verfolgte man schon damals ein Anliegen, das später auch Charles-Jean Bonnin teilen sollte, als er in seinen Principes d’administration publique (3 Bde., 3. Aufl., 1812) das Projekt formulierte, „die Verwaltung als Wissenschaft zu behandeln“, und entsprechend die Notwendigkeit einer systematischen Studie unterstrich, die sich sowohl von „unnützen Theorien“ als auch von bloßen Textsammlungen zum geltenden Recht abhob.[11]

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Die hier aufgestellte These einer späteren Entstehung ist gleichwohl gerechtfertigt, weil trotz allem vor 1789 „sich das Verwaltungsrecht noch nicht zu einer wissenschaftlichen Disziplin im Sinne der Errichtung eines kohärenten Systems von Regeln herausgebildet hatte, im Unterschied zu den Errungenschaften auf den verschiedenen Gebieten des Privatrechts.“[12] Die Bezeichnung „Verwaltungsrecht“ selbst taucht im Übrigen erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf. Nun trifft es zwar zu, dass ab 1789 neue verfassungsrechtliche Grundsätze formuliert wurden: der Vorrang des Individuums, die Herrschaft des Rechts und die Gesetzesbindung der Verwaltung. Doch sollte auch beachtet werden, dass gleichzeitig das Gesetz vom 16. bis 24. August 1790 den Richtern verbot, „in welcher Art auch immer die Verwaltungstätigkeiten zu behindern oder Beamte für ihre Amtshandlungen vorzuladen.“ Eine umfassende Verwaltungsgerichtsbarkeit schien zu dieser Zeit undenkbar.[13] Deshalb verwundert es auch nicht, dass unter napoleonischer Herrschaft trotz mittlerweile beachtlicher Normenfülle der größte Teil der wissenschaftlichen Arbeiten in der Perspektive der alten Studien zur Polizei verharrte.[14] Freilich entstand allmählich eine spezifisch verwaltungsrechtliche Ausbildung. So sah ein Leitfaden der Generalinspektoren im Ausbildungswesen 1807 vor, dass die Professoren des Zivilrechts „eine Vorlesung in französischem öffentlichen Recht im zweiten Studienjahr und eine Vorlesung im Verwaltungsrecht im dritten Studienjahr“ zu halten hatten. Kurz zuvor hatte das Gesetz von 1804 zur Einrichtung von neun Rechtsschulen schon eine „Vorlesung über das Zivilrecht in seinem Verhältnis zur öffentlichen Verwaltung“ etabliert. Diese Vorlesung wurde in Paris für zwei Jahre von Louis Portiez de l’Oise (1765–1810) gehalten[15] und bildete die Grundlage für ein Werk, das zwar nicht ausdrücklich von „Verwaltungsrecht“ spricht, sich aber doch durch die Idee auszeichnet, den Ansatz der justinianischen Institutiones aufzugreifen (mit der Unterscheidung zwischen Personen, Sachen und Arten des Erwerbs). Dies überrascht nicht wirklich, war doch der Rechtslehrer jener Zeit immer Zivilrechtslehrer, der im Rahmen und in den überlieferten Begriffen des römischen Rechts dachte.[16]

2. Die „erste Blüte“ der Verwaltungsrechtswissenschaft[17]

a) Der Entstehungskontext

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Kontext dieser ersten Blüte ist eine Zeitspanne, die vom napoleonischen Konsulat und Ersten Kaiserreich über eine lange Periode der Monarchie, gefolgt von der kurzlebigen Zweiten Republik (1848–1851), bis zum Zweiten Kaiserreich (1870) reicht. Über diesen Zeitraum hinweg veränderte sich die Bedeutung des Conseil d’État grundlegend. Auf Anhieb spielte er eine wesentliche Rolle, eng verbunden mit dem ersten Konsul und später dem Kaiser. Wenn er dann zu Beginn der konstitutionellen Monarchie nur ein „bescheidenes und prekäres Dasein“ fristete,[18] so erlangte er während des Zweiten Kaiserreichs seine glanzvolle Stellung im institutionellen Gefüge zurück. Insgesamt wurde unter den wechselnden, stark exekutivisch geprägten Staatsformen niemals die Notwendigkeit einer beratenden Instanz „für die Ausarbeitung des Rechts wie auch für die Verwaltung des Landes“ bestritten.[19] Im gleichen Maße erstarkte die Rolle des Conseil d’État bei der Behandlung von „Schwierigkeiten auf dem Gebiete der Verwaltung“ im Namen des Staatsoberhaupts. Bereits 1806 wurde innerhalb des Conseil d’État eine Kommission für Rechtsstreitigkeiten geschaffen und damit eine gewisse Trennung zwischen seiner beratenden und seiner rechtsprechenden Funktion vollzogen. Hinsichtlich Letzterer sei bemerkt, dass sie „weniger der Anerkennung und dem Schutz individueller Rechte als vielmehr der Sicherung ordnungsgemäßer Verwaltung“ zu dienen bestimmt war.[20] Dies sollte in der Folge aus einer Perspektive der Rationalisierung des Verwaltungshandelns heraus geschehen, was freilich eine damit korrespondierende Entwicklung des Individualrechtsschutzes nicht hinderte.

 

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Man kann Letzteres als Effekt einer gewissen Aneignung liberaler Ideen ansehen. Diese orientierten sich am englischen und amerikanischen Vorbild und stellten so das bestehende System in Frage, das sich zwar nicht ernstlich bedroht, aber doch zu einem gewissen Wandel gezwungen sah. Alexis de Tocqueville (1805–1859) zählt mit Sicherheit zu den bedeutendsten Persönlichkeiten in dieser Hinsicht. Die Freistellung der Beamten von der allgemeinen richterlichen Kontrolle und die zweigleisige Gerichtsbarkeit erschienen ihm als etwas Gefährliches, das kein freies Land, kein zivilisiertes Volk zulassen konnte. Vom starken Zentralismus war in dieser Hinsicht keine Abhilfe zu erwarten.[21] Damit wurde die Frage nach der rechtlichen Einhegung der administrativen Gewalt gestellt. Betont wurde auch die politische Bedeutung der öffentlichen Verwaltung: „Man hat sich nicht ausreichend bemüht, die notwendige Verbindung zwischen dem Verwaltungsrecht und dem politischen Recht umfassend zu beschreiben“, stellte Tocqueville 1846 fest.[22] Ein Standpunkt, den Edouard de Laboulaye (1811–1883) nur teilen konnte, seinerseits ebenfalls fasziniert von dem anglo-amerikanischen Vorbild, aber eben auch, es lohnt, dies zu beleuchten, interessiert an Friedrich Carl von Savigny (1779–1861). Darin liegt nur ein scheinbarer Widerspruch: Wo der Blick zurück den „deutschen Freiheiten“[23] gilt, wird er für den Franzosen Teil der Suche nach einem liberalen Leitfaden durch die Geschichte der Institutionen unter dem Ancien Régime.[24]

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Genauso komplex und auf keinen einheitlichen Nenner zu bringen, weil sich überlappend und ineinander verworren, sind die überlieferten Stellungnahmen der Zivilrechtler. Eine davon, wahrlich als harter Kern einer „disziplinären Matrix“ zu verstehen, ist die Aussage von Jean-Étienne-Marie Portalis (1746–1807), die er für die „Maxime aller Länder und aller Zeiten“ hält: „Dem Bürger das Eigentum, dem Herrscher das Reich“. Herrschaft impliziert also „keinerlei Eigentumsrecht und bezieht sich nur auf die unabdingbaren Vorrechte hoheitlicher Gewalt.“[25] Jegliche Personifizierung des Staates wird verworfen; akzeptiert wird nur eine Zivilrechtspersönlichkeit als notwendige Voraussetzung für Sacheigentum, das der Staat gleich einem Einzelnen innehat. Hoheitlich-anordnenden Akten (actes d’autorité) werden die Verwaltungshandlungen ohne solchen Charakter (actes de gestion) gegenübergestellt. Danach kann man den Staat im Sinne von öffentlicher Gewalt kaum als Rechtsunterworfenen denken. Laut Joseph-Marie de Gérando liegt es in der Natur der Sache, „dass die hoheitliche Verwaltung aus Prinzip frei von rechtlicher Bindung ist.“[26]

b) Stationen der Entwicklung

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Die erste Blüte der Verwaltungsrechtsforschung ist untrennbar verbunden mit der zunehmenden Aktivität des Conseil d’État. Daher haben die meisten der heute noch zitierten Autoren eines gemeinsam: „Häufig sind sie zugleich hochrangige Verwaltungsbeamte, Mitglieder des Conseil d’État, Professoren, Buchautoren und Parlamentarier [...]; alles in allem sind sie in erster Linie Protagonisten (oder zumindest Akteure) des politischen und administrativen Geschehens und nur in zweiter Linie Autoren.“[27] Nach Einschätzung von Sabino Cassese, der sich für diese Hypothese auf Pierre Legendre beruft,[28] liegt dies darin begründet, dass in Frankreich eine „administrative Gesellschaft“ entstanden war, innerhalb derer „der höchsten Gerichtsbarkeit eine fundamentale Rolle zukam, eine Machtstellung durchaus vergleichbar dem Adel der vorangegangenen Jahrhunderte.“ „Eine administrative Gewalt, losgelöst von der exekutiven Gewalt trat hervor“, dergestalt, dass „das Postulat eines vom Staatsrecht verschiedenen Verwaltungsrechts als Reflex der Selbstbestätigung einer Verwaltung angesehen werden kann, die als von der Regierung getrenntes Verfassungsorgan verstanden wurde.“[29] Immerhin ist von dieser Epoche an, mit der zunehmenden Verbreitung des Verwaltungsrechts als Lehrfach an den Provinzuniversitäten, auch eine verstärkte publizistische Aktivität aus dem universitären Umfeld zu verzeichnen.

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Man fuhr fort, Texte zu exzerpieren, zu sortieren und zu klassifizieren, immer nach einer historischen Methode, mit der Hilfe von Juristen, die „gezwungenermaßen Historiker waren“.[30] Daneben tat sich mit der Analyse der Rechtsprechung des Conseil d’État ein anderer Weg auf, der bis heute der bestimmende geblieben ist, weil er die gesamte Ausrichtung des Verwaltungsrechts entscheidend geprägt hat. So konnte Rodolphe Dareste (1824–1911) konstatieren, dass die Rechtsprechung „das geworden ist, was sie sein sollte, ein wahrhaftiger Fundus für die Verwaltungsrechtswissenschaft.“[31] Gewiss, erkennt er an, ist sie das Produkt einer Justiz, die unter dem Ancien Régime (vermittels des Conseil du roi) eng mit dem Etatismus und Zentralismus verbunden war, aber „die Revolution hat diese Erfindung des Despotismus in einen Garanten der Freiheit verwandelt.“[32] Diese Feststellung ist selbstredend bis heute strittig geblieben. Ebenso umstritten war und bleibt der Zuschnitt des Forschungsgebiets selbst. Auf der einen Seite führte die Orientierung an der Rechtsprechung zu einer Abgrenzung, zu der Einschätzung, die Verwaltungswissenschaft entstamme „dem Bereich der Spekulation“, während die Verwaltungsrechtswissenschaft sich auf „das Gebiet des Realen“ beschränke[33] und nur Letzteres beachtlich sei. Auf der anderen Seite nötigte das starke Bewusstsein der politischen Implikationen dazu, eine solche Beschränkung vehement abzulehnen. Es galt, so stellte Laboulaye klar, „Kenntnisse in Politik und Verwaltungsangelegenheiten zu vermitteln, im Sinne einer liberalen Ausbildung der Bürger“.[34] Keine Frage, dass die rechtswissenschaftlichen Fakultäten, die aus der Reform der Rechtsschulen von 1808 hervorgegangen waren, darauf nur unzureichend vorbereitet waren. Indem dort auf Verwaltungswissenschaft nur wenig Wert gelegt, ja eine Verbreiterung der Lehre sogar schlichtweg abgelehnt wurde,[35] erwiesen sie sich als unfähig, den Erfordernissen der Ausbildung zukünftiger Beamter gerecht zu werden. Damit bereiteten sie selbst den Weg für ein bis heute prägendes Charakteristikum des französischen Bildungssystems: Nach der nur kurzlebigen Ecole d’administration 1849, wurde 1872 die Ecole libre de sciences politiques eröffnet, eine private Einrichtung, die 1945 zum Institut d’Etudes Politiques (IEP) der Universität Paris wurde; ebenfalls 1945 kam die Ecole Nationale d’Administration (ENA) hinzu. Der Staat rekrutiert seine Eliten in Politik und Verwaltung, angefangen mit den Mitgliedern des Conseil d’État, nicht mehr von den juristischen Fakultäten, und das trotz der Reformen, die diese seit der Dritten Republik erlebt haben.

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So wie Dareste sie verstand, war die „Wissenschaft vom Verwaltungsrecht“ eine technische Angelegenheit, die darin bestand, Fachwissen zu verbreiten und eine vernünftige Ordnung einzuführen, wo es bisher nur verstreute Verwaltungsmaterien gab. Diejenigen „Techniker“, die unmittelbar in die Aktivitäten des Conseil d’État involviert waren, haben sicher gleichermaßen, wenn nicht sogar stärker durch ihre Teilnahme an dessen Beratungen als durch ihre wissenschaftlichen Veröffentlichungen Einfluss ausgeübt. Sie erfüllten ihre oben genannte Aufgabe, indem sie, quasi bei Gelegenheit, die Idee einer notwendigen Rechtsbindung der öffentlichen Verwaltung etablierten. Was das Œuvre der Jurisprudenz anbelangt, fällt eine Gesamtbilanz in wenigen Worten schwer. Jedenfalls ist seine Geschichte untrennbar mit der institutionellen Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit selbst verbunden. Ohne die Windungen und Wendungen in ihrem Verlauf nachzuzeichnen, kann man zumindest feststellen, dass sich die Rechtsprechung jener Zeit stark am zivilrechtlichen Paradigma orientierte, was zusammen mit dem vorherrschenden Liberalismus zu einer Fokussierung auf den Schutz individueller Rechte führte. Aus dieser Perspektive ging es weniger darum, die auf die Verwaltung anwendbaren Regeln zu identifizieren, als vielmehr die Fälle zu erfassen, in denen ihre Tätigkeit die Rechte Einzelner berührt: „Gefangen in ihrem abwehrrechtlichen Paradigma können Conseil d’État und Lehre den Verwaltungsakt nicht eigenständig definieren. Besessen von der sakrosankten Unabhängigkeit des Verwaltungshandelns gegenüber den Gerichten verinnerlichen sie erst das Prinzip des gerichtsfreien ‚reinen‘ Verwaltungshandelns [pure administration], um dann ex negativo den Bereich des gerichtlich überprüfbaren Verwaltungshandelns zu umschreiben. Dies geschieht dann auf indirekte Weise, weil nicht die Handlung der Verwaltung, sondern die Beeinträchtigung der Klägerrechte als Ansatzpunkt dient.“ Dabei steht die Entschädigung des Klägers im Vordergrund und weniger die Sanktion unrechtmäßigen Handelns.[36] Man muss freilich präzisierend hinzufügen, dass schon sehr früh Akte der pure administration wegen Kompetenzüberschreitung (excès de pouvoir) gerichtlich aufgehoben werden konnten.[37] Auf diesem Wege setzte der Conseil d’État nach und nach eine „objektive Rechtsbindung“ durch. So kam es vom Zweiten Kaiserreich an zu einer „Explosion der Nichtigkeitsklagen [recours pour excès de pouvoir]“: Angesichts eines autoritären Regimes „sah sich der Conseil d’État gezwungen, den Kreis der zulässigen Klagen auszuweiten“.[38]

c) Die bedeutenden Schriften

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Mit dem Projekt, die geltenden Gesetze zu systematisieren und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, ist zuvorderst der Name Joseph-Marie de Gérando (1772–1842) verbunden. Seit dem Kaiserreich Mitglied des Conseil d’État, erhielt er den Lehrauftrag für die 1819 an der rechtswissenschaftlichen Fakultät in Paris eingeführte „Vorlesung zum geltenden öffentlichen Recht und Verwaltungsrecht“. 1822 wurde die Vorlesung gestrichen, 1829 jedoch erneut von de Gérando übernommen, zeitgleich zum Erscheinen seines vierbändigen Hauptwerks Institutes de droit administratif. Éléments du Code administratif réunis et mis en ordre par M. le baron de Gérando. De Gérando gehörte noch zu denjenigen, die wie Delamare der Geschichte einen großen Stellenwert beimaßen und sich bemühten, aus dem Dickicht der Gesetzgebung die großen Prinzipien herauszuarbeiten. Von bleibendem Einfluss ist insbesondere seine Unterscheidung zwischen administration discrétionnaire, administration délibérative, administration contentieuse und administration agissant comme simple individu. Im ersten Fall verfolgt die Verwaltung das ihr anvertraute öffentliche Interesse ohne in potenziellen Konflikt mit einem Individualinteresse zu geraten (Ernennung von Beamten, Rekrutierung der Sicherheitskräfte). Im zweiten Fall werden private Interessen berührt, die allerdings noch nicht zum Ansatz eines Rechts erstarkt sind (Kommunalaufsicht, öffentliche Fürsorge). In der dritten Kategorie trifft sie auf eine Art wohlerworbener Rechte, die Inhaberschaft und Ausübung voraussetzen. Im letzten Fall tritt die Verwaltung wie eine Privatperson auf und ist daher wie eine solche der ordentlichen Gerichtsbarkeit unterworfen. Hier sind also schon die oben erläuterten Charakteristika erkennbar: Die Anknüpfung an die Verwaltung (die Ermessensfreiheit genießen oder aber rechtlich gebunden sein kann), der zivilrechtliche Blickwinkel, der von dem Bemühen um Individualrechtsschutz begleitet wird, und schließlich ein Staat, der offensichtlich auch als Privatperson auftreten kann.

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Der erste große Pionier der Beschäftigung mit der Rechtsprechung des Conseil d’État war Louis Antoine Macarel (1790–1851), der schon 1818 seine Éléments de la jurisprudence administrative veröffentlichte. Er wurde erst nach der Julirevolution von 1830 in den Conseil d’État aufgenommen, war jedoch vorher lange Zeit als Anwalt dort tätig. Nach ihm machte sich Louis Marie de Cormenin (1788–1868) mit seinen Questions de droit administratif von 1822 einen Namen. Seine Karriere ist bewegter als die von Macarel; so verhinderte seine Opposition gegenüber der Juli-Monarchie für diese Zeit eine Tätigkeit am Conseil d’État (gleichwohl war er Mitglied dieses Kollegiums im Ersten Kaiserreich, während der Restauration, in der Zweiten Republik und im Zweiten Kaiserreich). Sein Werk ist „nicht nur ein alphabetisches Kompendium [...]. Cormenin steht am Anfang jener ersten großen Strömung in der Lehre, die man als die liberale Verwaltungsrechtstheorie bezeichnen könnte und die auf der Grundlage subjektiver Rechte des Einzelnen gegenüber der Verwaltung fußt.“[39] Was zählt, ist weniger die Ausgestaltung einer objektiven Legalitätskontrolle, als vielmehr eine Verbesserung der rechtlichen Stellung des Einzelnen.[40]

 

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Aus dem universitären Umfeld sind zu nennen Emile-Victor Foucart (1799–1860) in Poitiers, Firmin Laferrière (1798–1861) in Rennes, Adolphe Chauveau (1802–1868) in Toulouse und Denis Serrigny (1800–1876) in Dijon. Ersterer, Verfasser eines 1844 veröffentlichten Précis de droit public et administratif, bestätigte den bereits erwähnten vorherrschenden Trend. Bestrebt die staatlichen Befugnisse zu begrenzen, suchte er die Anbindung des Verwaltungsrechts an die Lehre der individuellen Freiheitsrechte, indem er es als Beschränkung der Letzteren auffasst. Aus dieser Perspektive sah er in der Enteignung nicht nur einen Verwaltungsvorgang, sondern eben auch die Einschränkung des individuellen Eigentumsrechts.[41] Gleichwohl wird seinen Zeitgenossen im Allgemeinen kein besonders kritischer Blick auf die Rechtsprechung nachgesagt. François Burdeau hält Chauveau für die Ausnahme und resümiert anschließend: „Serrigny ist sehr viel repräsentativer für die allgemeine Haltung in der Bewunderung, die er für die höchstrichterliche Rechtsprechung hegt, während er sich gleichzeitig gegenüber einer als unfähig und träge empfundenen Bürokratie unnachgiebig zeigt.“[42] Bleibt zu erwähnen, dass es weder den Praktikern noch den Akademikern gelungen ist zu verhindern, dass das „frühe Verwaltungsrecht“ in ebenso viele Einzelgebiete zerfiel, wie es Handlungsbereiche der Verwaltung gab: „Es ist nun einmal so, dass in den Augen der ersten Verwaltungsrechtler die Verwaltung, außerhalb ihrer fiskalischen Betätigung, Trägerin öffentlicher Gewalt und nicht die materialisierte Rechtspersönlichkeit des Staates ist.“[43] Alles was die Verwaltungsrechtler seinerzeit letztlich tun konnten, war, die einzelnen Handlungsbereiche zu studieren, in denen die Verwaltung mit privaten Rechten in Berührung kam. Dieses Bild ist freilich unvollständig, wurde doch der in der Tradition Bonnins stehende Versuch der Überwindung einer strikt juristischen Betrachtungsweise keineswegs aufgegeben. Davon zeugt eine bedeutende Monographie, die 1845 von Alexandre-François-Auguste Vivien (1799–1854) veröffentlicht wurde, als er schon eine Laufbahn als Polizeipräfekt von Paris, Mitglied des Conseil d’État, Abgeordneter und Justizminister aufweisen konnte: Études administratives. „Die verwaltungsrechtlichen Studien“, kann man dort lesen, „beschränken sich nicht auf das rein Rechtliche […]. Sie beschäftigen sich mit den dahinter stehenden Grundsätzen, der Funktionsweise und, sofern der Begriff nicht zu ehrgeizig ist, der Wissenschaft von der Verwaltung.“

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 59 Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Frankreich › II. Die Verwaltungsrechtswissenschaft der Gegenwart (seit 1873)