Chefvisite. Die unerwartete Rückkehr des Auferstandenen

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Ich fuhr nach Hannover, nachdem wir von Israel zurückgekommen waren. Dazwischen lagen Tage, an denen meine Gefühle eine Berg- und Talfahrt durchlebten. Erst allmählich begriff ich, was da auf mich zukam: Der auferstandene Christus spaziert durch das einundzwanzigste Jahrhundert, und ich bin dabei. Ich habe ihn angefasst und kann ihn mit allen Fragen löchern, die bisher niemand beantworten konnte. Ich verstand auch, warum damals viele Menschen von seiner Ausstrahlung berührt worden waren und ungewöhnliche Dinge für ihn taten.

In der ersten Nacht nach unserer Begegnung konnte ich kein Auge zutun, denn ich überlegte mir tausend Fragen, die ich ihm stellen würde: Wohin steuert die Menschheit? Ist die Erde ökologisch noch zu retten? Gibt es Sex im Himmel? Wird Schottland unabhängig? Was passiert mit den USA? Und: Können wir uns als Deutsche eine Zukunft ohne Flüchtlinge überhaupt noch leisten oder sterben wir vorher aus? Und so weiter.

Zurück nach Hannover. Viel Altstadt gibt es ja nicht, aber die Gegend um die Marktkirche herum ist mit ein paar schönen Häusern und Altstadtatmosphäre geschmückt.

Ich stieg am Kröpke aus der U-Bahn und ging zu Fuß zu unserem Treffpunkt. Es war ein frischer Herbsttag. Die Sonne schien, aber keine drückende Hitze hing über der Stadt. Ein Wind fegte ab und zu über die Markisen der Straßencafés und Geschäfte, fuhr in die Alleebäume der Georgstraße und wirbelte ein paar Blätter über den Gehsteig.

„Ich muss nach Hannover, um einen alten Freund zu treffen“, hatte ich zu meiner Frau gesagt. Noch getraute ich mich nicht, mit ihr darüber zu sprechen, dass ich ein Date mit Jeschua hätte, der gerade mal wiedergekommen sei und mich treffen wolle. Das klang mir dann doch zu bizarr, und ich war inzwischen selbst nicht mehr sicher, ob sich jemand mit mir einen Scherz erlaubt hatte. Aber die Berührung eines auferstandenen himmlischen Körpers vergisst man nicht.

So ging ich also etwas angespannt durch die Packhofstraße zum Hans-Lilie-Platz, an den Fachwerkhäusern vorbei, bis ich vor der massigen Backsteinkirche stand.

Nur zur Information: Ich bin ein einigermaßen überzeugter Christ, habe diverse Zweifel durchlebt, glaube aber inzwischen alles, was im Glaubensbekenntnis steht, und das ist heutzutage nicht selbstverständlich. Ich finde es einfach albern, Glaubensgrundsätze über Bord zu werfen, die tausendfünfhundert Jahre gegolten haben, nur weil es ein paar intellektuelle Gegengründe gibt. Was ist denn so schlimm daran, an die Jungfräulichkeit Marias zu glauben? Schließlich sieht doch jeder, dass sich der Giersch auch mühelos vermehrt, ohne Sex gehabt zu haben.

Ich will nur sagen, dass die ganzen Wundergeschichten für mich kein Problem mehr sind. Warum sollten gelähmte Leute nicht gesund werden, wenn jemand durch Handauflegung Energie in ihren Körper fließen lässt? Warum sollte nicht jemand über das Wasser gehen können? Wir schaffen es sogar, über den Boden zu schweben, wenn wir verliebt sind oder auf den Nerven anderer Leute herumzutrampeln, ohne unterzugehen. Die meisten glauben unbesehen, was die Werbung ihnen verspricht, dagegen ist eine Totenauferweckung eine Lappalie.

Ich kenne die Bibel einigermaßen. Meine Lieblingsbücher sind das erste Buch Mose, Jesaja und die Evangelien.

Ich schaute auf die Uhr: halb eins. Von Jeschua keine Spur. Ich ging um die Kirche herum, betrachtete das Lutherdenkmal und las die Worte: „Christus vivit.“

Wie wahr!

Vielleicht sollte ich hineingehen, überlegte ich, und betrat die Kirche, die zum Glück offen war.

Ich meinte vorne vor dem Altar, eine Gestalt zu sehen. Das könnte er sein.

Tatsächlich stand Jeschua vor dem Altarbild und betrachtete interessiert die Szenen aus seinem Leben, besonders die Kreuzigungsgruppe in der Mitte. Alles vergoldet.

„Hallo!“, sagte ich mit einem leichten Hall in der Stimme.

Er drehte sich um und lächelte mir kurz zu. Inzwischen war er ganz normal angezogen: lange Hose, Hemd, ein dünner Pullover und bequeme Sportschuhe. Ich hoffte, dass er das alles diesmal gekauft hatte.

„Friede mit dir“, war seine Antwort. Es war seltsam. So etwas wie eine ungewohnte Ruhe kam über mich. Ich erinnerte mich an ein Lied, das wir damals als Jugendliche gesungen hatten: Ich weiß, was Friede ist, er liegt wie zarter Tau auf meiner Haut.

„Ja … ahm … ebenfalls Friede. Da bin ich also“, sagte ich überflüssigerweise.

„Interessant, wie die Künstler diese furchtbaren Szenen vergoldet haben“, sagte er.

„Na ja, vielleicht kann man sie dann besser ertragen“, schlug ich vor.

„Mag sein“, murmelte er. „Es war hart genug für mich.“

Wir schwiegen ein paar Augenblicke. Dann sagte ich: „Mir ist es immer noch ein Rätsel, wie du das alles durchgestanden hast. Stundenlang in glühender Hitze am Kreuz hängen, die Nägel durch die Handgelenke getrieben, die Füße angenagelt. Dornen in der Kopfhaut, und man kann sich nicht kratzen … Ich würde durchdrehen.“

Er zuckte die Schultern. „Ich hatte natürlich vorher mental trainiert, um die Schmerzen aushalten zu können. Das geht bis zu einem gewissen Grad. Gedanken setzen mehr Kräfte frei, als man denkt, aber länger als ein Tag ist kaum machbar.“

„Und dann hat dich Gott auch noch verlassen“, fügte ich hinzu.

„Das ist Unsinn“, meinte er.

„Aber es steht doch im … ich glaube im Markusevangelium.“

„Oh ja, das stimmt schon. Ich hatte tatsächlich das Gefühl, von Gott verlassen zu sein, weil ich alles Menschliche durchleben musste, aber natürlich war mein Vater da. In meiner schlimmsten Stunde zieht er sich doch nicht zurück, schließlich sind wir eine untrennbare Einheit. Ich bin seine menschliche Seite. Er ist immer gegenwärtig.“

„Musste sich Gott nicht zurückziehen, weil die Sünde der ganzen Welt auf dir …“

Jeschua blickte mich streng an, und ich hörte auf zu sprechen.

„Wenn Gott sich jedes Mal vor der Sünde zurückgezogen hätte, wäre die Welt gottlos geworden und schon längst untergegangen.“

„Aha“, sagte ich nur. „Aber … aber wenn Gott gegenwärtig ist, gilt das auch für die Hölle?“

„Sicher“, nickte er, „natürlich indirekt. Es gibt keine Energie, die an Gott vorbei existiert. Aber die Leute dort wissen es nicht oder wollen es nicht wissen.“

Das war mir neu, und ich musste es erst mal verdauen. Wenn Gott in der Hölle ist, dann müsste er auch in den Überschwemmungsgebieten, in der Wüste, bei den Terroristen und im Unterhaltungsprogramm des Fernsehens sein.

„Übrigens: Hast du Hunger?“, fragte Jeschua, der Auferstandene.

„Na ja, es ist Mittag und seit dem Frühstück habe ich nichts mehr gegessen.“

„Gut, dann gehen wir etwas essen“, meinte er, drehte sich um und ging den Gang zurück. Ich folgte ihm. Was sollte ich auch sonst tun als getaufter Nachfolger?

Wir fanden ein argentinisches Steakhouse in der Georgstraße, bei dem man draußen sitzen konnte.

„Ich lade dich ein!“

„Oh“, meinte ich, „vielen Dank. Wie machst du das eigentlich mit dem Geld? Wo bekommst du es her?“

„Das würdest du gerne wissen, was?“

„Das wäre praktisch.“

„Alles Materielle kann unendlich vermehrt werden, aber nur von Leuten, die sich in einer übergeordneten Dimension befinden …“

„Aber du konntest es doch vor deiner Auferstehung auch schon, oder nicht?“

„Ich bin die Ausnahme.“

„Okay.“

Der Kellner kam und erklärte uns, dass man sich einen Salatteller selbst zusammenstellen sollte, wir müssten ihm nur sagen, welches Fleisch und wie viel wir wollten.

Ich bestellte das Beste und Teuerste und dachte mir: Jemanden, der Geld vermehren kann, den kann man eigentlich kaum schädigen.

Jeschua bestellte sich Wein zu seinem Steak. Warum war er eigentlich nicht Vegetarier?

Ich nahm lieber Wasser und verzichtete auf den Wein, damit ich nicht während der nächsten Stunden müde wurde. Für mich war das ja eine Art Arbeitsessen.

„Ich habe mich oft gefragt“, fing ich an, als wir unseren Salat zusammengestellt hatten und unsere Steaks gebracht wurden, „was du eigentlich die ganze Zeit im Himmel so machst.“

Er sagte nichts und deutete auf unsere Teller.

„Erstmal essen und genießen“, meinte er.

Wir aßen schweigend.

Dann sagte er: „Ich weiß, dass du viele Fragen hast, du liebst ja die Details, aber ich möchte dich schon mal vorwarnen, dass du nicht alles verstehen wirst. Manchmal muss ich zu Bildern greifen oder zu Symbolen. Weißt du, der Himmel ist ein Ort, wo die Urbilder zu Hause sind. Was auf der Erde eine irdische Ausprägung hat, das gibt es im Himmel im Original. Stell dir vor, du hast einen wunderschönen Garten, und du entwirfst Zeichnungen davon für Leute, die so platt sind wie ein Blatt Papier ….“

Es fiel mir schwer, mir das vorzustellen.

„Zu deiner Frage: Was ich oder was wir so machen? Bei uns im Himmel ist es nicht so, dass wir mal was machen und mal nicht. Ich bin mit dem ganzen Universum verbunden, und wenn ich mich jetzt konzentrieren würde, wüsste ich, womit Menschen, Pflanzen, Tiere in einem anderen Sonnensystem und in einer anderen Milchstraße sich gerade beschäftigen. Du siehst einen himmlischen Menschen vor dir, aber ich bin nur die Oberfläche Gottes, sein abgemildertes Bild. Gott in seiner Herrlichkeit könntest du keine Sekunde ertragen …“

Er blickte mich an, und vor meinen Augen ging eine Verwandlung vor sich, Licht schien durch ihn hindurch, und die Erde begann zu beben, oder es kam mir so vor.

Ich ließ meine Gabel fallen und sagte: „Hör auf!“

 

Ein paar Leute drehten sich um.

„Verstehst du, die ganze Wirklichkeit ist mit mir verbunden, jede Sekunde. Wenn nicht, würde alles auseinanderbrechen. Das ist unsere Arbeit, wir halten alles am Laufen.“ Er überlegte und sagte dann: „Die Kraft, die die Welt im Innersten zusammenhält, um Goethe zu zitieren.“

„… und das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns …“, flüsterte ich.

„So ist es!“, nickte er und trank einen Schluck Wein.

„Hm“, sagte er, „ich hätte die wirklich teure Sorte nehmen sollen, aber als Begleitung zu einem Steak ganz okay.“

„Und was hast du vor, während du deine … ahm … Inspektion oder Chefvisite machst?“

Er lächelte. „Ich inspiziere nichts. Was hier läuft, das weiß ich alles schon, aber ich muss Dinge anstoßen, Worte, wie Samen auf die Erde streuen, Anregungen geben, nach dem Rechten sehen.“

„Merkwürdig“, sagte ich. „Jemand, der allmächtig ist und mit einem Fingerschnipsen alles zum Guten wenden könnte, müsste doch keine Entwicklungen anstoßen!“

Jeschua seufzte. „Es ist immer wieder das Gleiche. Die Menschen hier verstehen einfach nicht das Konzept der Allmacht Gottes. Als Gott seine Energie von sich wegschickte, um eine Schöpfung entstehen zu lassen, schuf er gewisse Gesetzmäßigkeiten. Er hat gemacht, dass die Dinge sich machen und kann das nicht dauernd umstoßen. Er konnte die Evolution in gewisse Bahnen lenken, das schon, aber die Welt der Menschen muss sich in einer bestimmten Freiheit entwickeln können, sonst taugt sie nichts. Und deshalb muss ich Entwicklungen anstoßen und kann nur darauf hoffen, dass Menschen sie annehmen. Ich kann Menschen nicht einfach wie ein Zauberer verändern. Wäre ja auch sonst ziemlich langweilig. Wir sind allmächtig in dem Sinn, dass alle Macht von uns kommt. Aber …“, er deutete mit der Gabel auf meinen Teller. „Dein Fleisch wird kalt.“

Wir aßen weiter, und schließlich fragte ich ihn nach seinen konkreten Plänen.

„Ich werde wohl die muslimische Welt besuchen müssen“, sagte er, „da läuft gerade etwas schief. Gott ließ den Islam entstehen, um die Menschen, die den christlichen Glauben nicht annahmen, wenigstens von ihrer Vielgötterei abzubringen, aber zur Zeit läuft es wirklich aus dem Ruder.“

„Und Deutschland?“

„Deutschland ist gar nicht so schlecht. Nach der großen Katastrophe haben die Deutschen immerhin dazugelernt, aber klar, ein paar Dinge muss ich hier auch in Gang bringen …“

„Und wie … wie kommen wir da hin? Fliegen wir durch die Luft wie Superman?“

Jeschua wehrte ab: „Nein, nein, wir fliegen ganz normal mit dem Flugzeug oder reisen mit der Bahn. Ich möchte nicht auffallen.“

Oh, dachte ich, dann muss ich mit meiner Frau doch ernsthaft reden, wenn ich so oft unterwegs bin. Das wird ihr nicht gefallen.

„Ich begleite dich nach Hause“, sagte er. „Deine Frau wird es verstehen.“

Es klang, als ob er meine Gedanken hören konnte, wahrscheinlich war es auch so.

„Ich musste mich damals um Petrus‘ Schwiegermutter persönlich kümmern. Die arme Frau war vor lauter Sorge krank geworden. Kann man gewissermaßen verstehen, wenn die Männer in einem Familienbetrieb kurzzeitig ausfallen.“

Wir ließen uns noch den Nachtisch schmecken, Crème Brûlée, sehr lecker, und traten wieder auf die Georg-Straße. Zwischendurch musste ich mir sagen: Ich bin jetzt mit dem wiedergekommenen Christus unterwegs, weil alles so normal schien. Nein, es gab noch einen kurzen Zwischenfall, als ein Auto ihn streifte und der Seitenspiegel zerbrach. Pech für das Auto.

4

Wir fuhren mit dem Nahverkehrszug nach Süden. Unterwegs rief ich zu Hause an, dass ich einen Übernachtungsgast aus dem Nahen Osten mitbringen würde.

„Diesen alten Freund, von dem du geredet hast?“, fragte meine Frau. „Kenne ich ihn?“

„In gewissem Sinne ja“, sagte ich, „aber du wirst ihn nicht gleich erkennen. Alles Nähere dann nachher.“

Ich blickte Jeschua von der Seite an. Er trug einen kräftigen Vollbart, wie es inzwischen bei jungen Männern üblich ist, und einen eher kurzen Haarschnitt. Nein, meine Frau würde ihn auf Anhieb nicht erkennen.

Obwohl, an seinen Handgelenken sah ich Narben. Das wäre ein Hinweis.

„Immer noch die Narben?“, fragte ich und deutete auf sein Handgelenk. Inzwischen hat man ja herausgefunden, dass die Nägel damals nicht durch die Handteller getrieben wurden, die wären sofort gerissen. Handgelenke hielten mehr aus.

Er blickte auf seinen Unterarm. „Ja, immer noch die Narben. Ich trage sie wie einen Orden.“

Mir fiel dazu nichts ein. Nach einer Weile sagte er: „Ich werde während der Fahrt so tun, als ob ich schlafe. In Wirklichkeit bin ich woanders. Ist jetzt zu kompliziert, um dir das zu erklären.“

Er lehnte seinen Kopf gegen die Lehne und schloss die Augen.

Als der Schaffner kam, gab ich ihm unser Niedersachsenticket, so brauchte ich meinen Mitfahrer nicht zu wecken.

Der Schaffner hätte es sicher nicht verstanden, wenn ich gesagt hätte: „Neben mir sitzt ein Auferstandener, der gerade eingeschlafen ist.“

Meine Frau holte uns am Bahnhof ab und bemühte sich, höflich und freundlich zu meinem Gast zu sein, der relativ schweigsam war.

Sie zeigte ihm das Gästezimmer und das Bad, und ich hörte, wie sich die beiden eine Zeitlang unterhielten.

Als sie nach unten kam, ließ sie sich auf die Wohnzimmercouch fallen und sagte nur: „Mein Gott, das wird uns niemand glauben! Und diese umwerfende Freundlichkeit!“ Nach einer Weile fragte sie: „Was isst eigentlich so jemand?“

Ich zuckte die Schultern. „Ich glaube alles, was wir auch essen. Er verwandelt Essen in etwas anderes.“

„Das tun wir ja auch.“

„Ich habe ihn aber noch nicht gefragt, ob er einen Magen und Gedärme und so weiter hat …“

„Ist vielleicht eine ziemlich intime Frage. Und was ist mit Duschen?“

„Braucht er wahrscheinlich nicht, und wenn, dann eher mit himmlischem Wasser, mit dem Original.“

„Dem Original?“

„Ja. Unser Wasser ist nur die irdische Variante, eine Art Bleistiftzeichnung von echtem Wasser.“

„Das muss ich nicht verstehen, oder?“

Sonst lief an dem Tag alles ganz normal, außer, dass unser Gast ein seelsorgerisches Naturtalent ist. Wir erzählten ihm abwechselnd unsere Probleme und wurden das Gefühl nicht los, dass uns noch nie jemand so intensiv zugehört hatte.

Nachts hörte ich Geräusche von oben, dort, wo das Gästezimmer ist. Ein hohes, sanftes Klingeln, manchmal einen tiefen Ton wie von einer Orgel. Aber irgendwann schlief ich dann wieder ein.

Natürlich wollte er mit uns in den Gottesdienst. Ich hatte kein gutes Gefühl dabei. Wir sind nicht gerade eine Vorzeigekirche und haben ein paar schwierige Zeiten erlebt, aber er versprach mir, sich zurückzuhalten.

„Ich habe kein Interesse daran, die Leute zu verwirren“, meinte er, als er in meinem Pyjama sein Frühstücksei schälte. „Ich rege nur an.“

„Zum Glück läufst du nicht in einem langen Gewand mit Jesuslatschen herum, das könnte manche zum Nachdenken bringen.“

Er lachte: „Also, dass ich in Liedtexten vorkomme, das bin ich ja gewohnt, und diese vielen Bilder und Statuen überall auch einigermaßen, aber dass mein Name für eine Schuhsorte herhalten muss, ist schon bizarr.“

Ich gab ihm nach dem Frühstück ein frisches Hemd und eine von meinen Hosen.

„Was machst du, wenn die Leute dir die Hand geben wollen und denken, du hast Fieber?“, fragte ich, als wir ins Auto stiegen.

„Damit muss ich leben.“

Unsere Kirche ist nicht so groß wie die Marktkirche, aber das schien ihn nicht zu stören. Ich stellte ihn als einen Freund aus Israel vor, was in gewisser Weise ja auch stimmte.

Er verfolgte interessiert den Gottesdienst. Wir singen eine Mischung von neuen und alten Liedern und haben eine Band vorne. In diesem Zusammenhang klang es etwas seltsam, als Jeschua mit uns das Lied sang: Mein Jesus, mein Retter.

Bei uns ist es üblich, dass Gäste ein Grußwort sagen, wenn sie das wollen. Ich hatte leider zu spät daran gedacht, dass Friedhelm an diesem Sonntag die Ansagen machte, der dazu neigte, Gäste nach vorne zu bitten.

Friedhelm fragte doch tatsächlich, ob unser Gast aus Israel nicht ein paar Grüße loswerden wollte und forderte ihn geradezu auf, ans Mikro zu treten.

Jeschua wollte nicht unhöflich sein und marschierte durch den Mittelgang nach vorne. Ich befürchtete Schreckliches.

Jemand, der mit dem Universum verbunden ist, weiß doch, was alles bei uns gelaufen ist, dass wir uns nicht gerade mit Ruhm bekleckert hatten, dass einige bis heute im Clinch miteinander waren und so weiter. Im Grunde die üblichen Machtspiele unter dem Deckmantel frommer Worte. Alles keine Dinge, auf die man als Kirchenmitglied stolz sein kann.

Er ging langsam nach vorne, und ich merkte, dass einige Damen ihn interessiert betrachteten. Da erst ging mir auf, dass er wahrscheinlich als Mann eine starke Ausstrahlung auf Frauen ausübte.

Jetzt ist auch alles egal, dachte ich, es kommt, wie es kommt.

Er bedankte sich ganz höflich und sagte, dass er den Eindruck habe, er sei hier willkommen und erzählte von Israel, und dann begann er mit ein paar Sätzen zu erklären, wer Gott ist, dass er die reine Liebe und an allem interessiert sei, was uns bewegt.

„Gott ist nicht der Spielverderber, für den viele ihn halten. Auch wenn er einem hart und gerecht vorkommt, denken Sie daran, es fließt alles aus seiner Liebe. Und er hat einen großen Respekt vor Ihrer Freiheit und lässt viele unmögliche Entwicklungen in dieser Welt zu. Sie können gerne nach dem Gottesdienst zu mir kommen, wenn Sie mal jemanden brauchen, bei dem sie sich aussprechen wollen, ich reise ja wieder ab.“

Dann setzte er sich, aber ich spürte schon, dass die Leute nachdenklich vor sich hinblickten. Es war nicht so sehr der Inhalt, der mich und wahrscheinlich die anderen ebenfalls beeindruckt hatte, das war ja nichts Neues, aber wie er es gesagt hatte …

Während er redete, hatte ich plötzlich das Gefühl, so wie gestern Abend, dass ich ihm alles erzählen könnte, auch die merkwürdigsten Sachen.

Ich muss wohl nicht extra betonen, dass sich nach dem Gottesdienst eine riesige Schlange von Leuten bildete, die alle mit ihm reden wollten. Das Mittagessen konnten wir knicken.

5

Ansgar fuhr mit dem Finger über die Platte seines Tischchens, während er überlegte. Eine feine Spur blieb auf der Staubschicht zurück. Er wischte mit seinem Ärmel darüber und blinzelte nach draußen in die Sonne. Es herrschte eine angenehme Herbststimmung: Ein blauer Himmel breitete sich über der Siedlung aus. Die vorbeifahrenden Autos glänzten unter dem Licht eines milden Vormittags. Frida, seine Enkelin, war in der Schule und würde erst gegen halb zwei zurückkommen. Er saß wieder in seinem Sessel, ein Glas Wasser neben sich, und beobachtete das Haus. Heute hatte er herausgefunden, dass es bisher vier blonde Mädchenpaare gab, denn morgens, als der schwarze Volvo vor dem Haus hielt, stiegen zwei neue Mädchen in den Wagen.

Er hatte sich gestern Nachmittag, bevor Frida kam, eine Kamera mit starkem Zoom gekauft und sich einen Ordner zugelegt, in dem er die Bilder und andere Beobachtungen aufbewahren wollte. Durch die digitale Technik konnte er die Bilder gleich ausdrucken und abheften. Er war froh, dass er den Umgang mit dem PC und dem Internet auf seine alten Tage noch gelernt hatte. So konnte er auch mit ein paar Freunden E-Mails austauschen.

„Es ist unglaublich“, murmelte er. Von Weitem hätte man gedacht, dass immer dieselben Mädchen in das Auto stiegen. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass es verschiedene Mädchenpaare waren. Aber wo kamen sie her, oder wie kamen sie unbemerkt in das Haus? Denn die Mittagsmädchen, die um halb eins gebracht wurden, waren nicht dieselben wie die Morgenmädchen. Das hatte er auch herausgefunden. Er fand es auch merkwürdig, dass die Mädchen schnell im Haus verschwanden und nicht einmal zum Spielen herauskamen. Aber andererseits war es verständlich, denn ihre falsche Identität wäre aufgefallen, wenn sie mit anderen Kindern gespielt hätten. Die Schaukel und das Klettergerüst standen umsonst im Vorgarten.

Vielleicht sind die Spielgeräte nur Attrappen aus Leichtmetall, dachte Ansgar.

„Ich muss irgendwann einen Blick in dieses Haus werfen“, sagte er sich und überlegte, wie er das anstellen könnte. Er brauchte irgendeinen Vorwand, um zu klingeln.

 

Kurz entschlossen stand er auf, zog seine Schuhe an, verließ seine Wohnung und kaufte im Supermarkt nebenan einen Ball. Er verschmierte etwas Dreck auf der Oberfläche, wischte mit einem Lappen leicht darüber, klemmte sich den Ball unter den Arm, griff nach seinem Stock und ging zu dem Haus hinüber.

Es gab eine Klingel, aber kein Namensschild.

Zaghaft drückte er auf den Knopf. Nichts. Er drückte noch einmal. Diesmal fester und länger. Jetzt meinte er Geräusche zu hören, ein schnelles Tappen von Füßen, das plötzlich verstummte, dann sah er, wie das Licht im Spion sich änderte. Er wurde beobachtet.

Endlich öffnete sich die Tür. Ein Mann mit Anzug und Krawatte stand vor ihm. Es war der Mann, den er neulich mit einer Frau und den zwei Mädchen (welchen?) vor dem Haus gesehen hatte. Der Vater? Der Pseudovater?

War es Absicht, dass er sich so im Türrahmen breit machte, damit Ansgar nicht in das Innere des Hauses blicken konnte?

„Ja?“, fragte der Schlipsträger, und seine Augen bewegten sich rasch hin und her, als wolle er sich vergewissern, dass ihn niemand beobachtete.

„Guten Tag, Herr …?“

Der Mann reagierte nicht.

„Und? Was wollen Sie?“

„Ich bin ihr Nachbar von gegenüber“, sagte Ansgar, „und habe neulich den Ball auf der Straße gefunden. Und da dachte ich mir, er könnte vielleicht Ihren beiden Mädchen gehören.“

Absichtlich ließ er den Ball fallen, sodass er in den Flur rollte und der Mann gezwungen war, sich danach zu bücken.

„Oh, Entschuldigung – ist mir aus der Hand gerutscht.“

Ansgar nützte die Gelegenheit, um einen Blick in den Flur zu werfen.

Was er erkennen konnte, war ein völlig funktionaler Flur. Keine Garderobe, kein Spiegel. Eine Glühbirne hing von der Decke, obwohl die Leute schon seit Wochen darin wohnten.

Der Mann hatte den Ball aufgehoben und gab ihn mit einem mechanischen Grinsen zurück.

„Vielen Dank, der Ball gehört uns nicht.“

„Aber vielleicht wollen Sie die Mädchen fragen, ob er nicht doch ihnen …?“

„Die Mädchen spielen gar nicht mit einem Ball. Sie … sie haben andere Spiele.“

„Ach so“, meinte Ansgar, „na dann …“ Plötzlich kam ihm eine Idee: „Wollen Sie nicht mal einen Nachmittag mit den beiden herüberkommen und mich besuchen? Meine Enkelin ist auch gerade da. Sie ist im ähnlichen Alter. Dann können wir auf eine gute Nachbarschaft anstoßen?“

Der Mann blickte Ansgar an, als sei er nicht ganz bei Trost.

„Nein, vielen Dank, wir sind sehr beschäftigt und legen keinen Wert auf eine enge Nachbarschaft. Auf Wiedersehen!“

Die Tür fiel ins Schloss, und Ansgar stand verblüfft mit dem Ball in der Hand davor.

Auf jeden Fall, dachte er, als er in Gedanken zu seiner Wohnung zurückging, ist das kein übliches Wohnhaus. Irgendetwas Merkwürdiges geht hier vor.

Er hängte den Mantel an den Haken und ging in die Küche. Zeit, das Essen vorzubereiten. Heute hatte er sich entschlossen, Maultaschen zu kochen. Die Brühe machte er aus einer Instantpackung, schnitt drei Mohrrüben und eine Stange Lauch klein und legte die Maultaschen, die es fertig zu kaufen gab, in die brodelnde Brühe.

Zehn Minuten sollten sie nur leicht kochen, und dann würde alles von selbst gar werden. Das ideale Gericht für ihn. Und Frida mochte es auch. Die Röstzwiebeln aus Dänemark streute man darüber, wenn die Maultaschen im Teller schwammen.

Kurz nach halb zwei kam Frida. Er hatte ihr einen Schlüssel gegeben, weil das Haus keine Sprechanlage hatte.

Sobald sie zur Tür hereinkam, änderte sich die Stimmung in der Wohnung. Sie brachte Wind und Sonne mit.

„Es riecht nach Maultaschen in der Brühe!“, rief sie und warf ihre Schultasche in die Flurecke.

„Richtig!“, nickte ihr Opa und sagte: „Hände waschen, und dann wird gegessen.“

Frida war ein Einzelkind. Ansgars Tochter Uta und ihr Mann Sören hätten gerne noch mehr Kinder gehabt, aber es war bei diesem einen Kind geblieben. Manchmal schien es ihm, als ob sich alle Energie in diesem Mädchen geballt hätte. Frida war aber deswegen nicht unruhig. Manchmal konnte sie stundenlang konzentriert bei einer Bastelei sitzen oder ein Buch lesen, aber wenn sie von irgendetwas gepackt war, dann sprühte sie förmlich vor Unternehmungsgeist.

Ihre Frisur änderte sie fast jeden Tag. Die halblangen schwarzen Haare konnte sie in alle möglichen Formen bringen. Heute trug sie Pferdeschwanz.

Ansgar stellte den dampfenden Topf auf den Tisch, neigte seinen Kopf und betete: „Komm, Herr Jesus, sei du unser Gast und segne, was du uns bescheret hast.“

„Amen!“, rief Frida und plapperte gleich los: „Was hast du denn heute so gemacht, Opa?“

„Na ja“, brummte er, „ehrlich gesagt nicht viel. Ich war einkaufen, hab mich kurz mit den neuen Nachbarn unterhalten, etwas gelesen und für uns gekocht. Weißt du, bei mir geht alles etwas langsamer und gemütlicher ab. Und du?“

Frida zerteilte eine Maultasche mit dem großen Löffel und steckte den einen Teil genießerisch in den Mund.

„Deutsch, Englisch, Mathe, Bio. Uff! Ich finde, im Gymnasium muss man irgendwie mehr lernen als in der Grundschule.“

„Klar“, nickte ihr Großvater. „Das schaffst du nicht mit Links.“

Sie löffelten eine Zeitlang stumm die Maultaschensuppe. „Du, Opa?“

„Ja?“

„Warum beobachtest du denn so genau das Haus gegenüber?“

Ansgar erstarrte. Er durfte sich jetzt nichts anmerken lassen.

„Mich interessiert eben die neue Nachbarschaft.“

„Und warum fotografierst du das Haus und die vielen Mädchen?“

„Woher weißt du das?“

„Hm, du weißt ja, ich bin total neugierig. Und als ich heute Nacht aufgewacht bin, habe ich ein bisschen herumgeschnüffelt und deinen Ordner entdeckt.“

Ansgar überlegte. Sollte er Frida von seinen Vermutungen erzählen? Warum eigentlich nicht?

„Na gut, dann kann ich es dir auch erzählen … Jedenfalls, in dem Haus gehen seltsame Dinge vor. Erstens: Es ist zu perfekt. Zweitens: Die Nachbarn sollen den Eindruck haben, dass eine ganz normale Familie mit zwei Mädchen in dem Haus wohnt, aber in Wirklichkeit sind es bisher vier Mädchenpaare, die alle ähnlich aussehen. Jeden Tag kommen neue, mittags und morgens.“

Ansgar schwieg und sah Frida an. Schließlich sagte sie: „Ja, das habe ich bei den Bildern auch gemerkt. Und weißt du, was ich denke?“

„Nein.“

„Ich denke, wir sind hier, um herauszufinden, was da los ist.“

Ansgar grinste. „Aha, so einfach ist das!“

„Klar“, nickte Frida. „Uns ist es aufgefallen, und deswegen müssen wir es auch herausfinden.“

Ansgar überlegte und sagte dann: „Ich hab übrigens heute unter einem Vorwand da drüben geklingelt, um einen Blick in das Haus zu werfen.“

„Und?“

„Es sieht so aus, als ob in dem Haus gar nicht richtig gewohnt wird. Da geht irgendetwas anderes vor sich. Aber was?“

„Mensch, das ist ja total spannend. Lass uns einen Plan machen.“

„Ja, aber vorher werden Hausaufgaben gemacht.“