Als Luther vom Kirschbaum fiel und in der Gegenwart landete

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„Aber über fünfhundert Jahr!“

Sonnhüter schwieg und ließ Luther Zeit, diesen ungeheuren Gedanken zu fassen.

„Dann … dann werd ich … Das ist ein Abgrund, wo ich nit vermag nüberspringen. Ich kann nit zurück in mein Wittenberg!“

Er vergrub sein Gesicht in den Händen. Sonnhüter war erschüttert, aber als er sich vorstellte, wie es ihm wohl gehen würde, wenn er plötzlich im Jahr 2517 auftauchen würde, konnte er Luther etwas nachempfinden.

„Nun, nach Wittenberg könnten wir schon reisen“, sagte er leise und legte Luther die Hand auf die Schulter, „aber es wird ein anderes Wittenberg sein.“

Der theologische Gast blickte auf, zog die Nase hoch und spuckte das Ergebnis auf den Boden.

Sonnhüter sagte nichts dazu.

„Pass auf, Martin“, fing er an, „Folgendes werden wir machen: Wir gehen nicht zur Polizei … ahm … zum Rat der Stadt. Die können mit so etwas nicht umgehen. Wir gehen erst mal zu mir nach Hause. Du nimmst ein Bad, ziehst dich um, bekommst von mir ein paar andere Kleider, und ich werde sagen, dass du ein Ausländer bist … ahm …, dass du von sehr weit her kommst. Und dann werden wir eine Reise unternehmen und vieles entdecken. Du wirst sehen, was aus der Welt und aus deinem neuen Glauben geworden ist. Wir müssen nur der Dame an der Pforte plausibel erklären, wer du bist und dass du … Ja, wo wohnst du dann eigentlich?“ Sonnhüter blickte sich in dem fast leeren Zimmer um und sagte dann: „Du wohnst am besten bei mir! Er klopfte Luther auf die Schulter: „Luther, ich weiß, es ist schwer, aber was du erlebst, das erlebt sonst keiner. Vielleicht hat das Leben noch etwas mit dir vor. Und wenn das Schicksal dich in die Zukunft versetzt hat, dann kannst du auch wieder zurückgebracht werden. Solange du hier bist, stehst du unter meinem Schutz!“

„Nehmen sie den Leib“, murmelte Luther, „Weib, Gut, Ehr, Kind und Weib, lass fahren dahin. Sie haben’s kein Gewinn …“

„… das Reich muss uns doch bleiben“, fuhr der Pfarrer fort.

Luther blickte überrascht auf. „Du kennst den Gesang?“

„Oh ja, er ist auf der ganzen Welt bekannt!“

„Auf der ganzen Welt?“ Luther schüttelte verwundert den Kopf.

Andreas Sonnhüter erhob sich, Luther machte dasselbe. Bevor sie das Zimmer verließen, nahm Sonnhüter ein Stück Toilettenpapier, wischte den Lutherrotz vom Boden auf und warf das feuchte Papier in den Papierkorb.

„Hier bei uns spucken die Leute nicht auf den Boden“, meinte er. Dann gingen sie gemeinsam zur Pforte des Seniorenheims. Sonnhüter erzählte, dass er herausgefunden habe, wie der Mann heißt und dass er ihn zuerst mit sich nach Hause nehmen würde.

„Sollten wir nicht die Polizei …?“

Sonnhüter winkte ab. „Das ist ein harmloser Fall. Wenn es Schwierigkeiten gibt, rufe ich natürlich dort an, aber ich denke, wir klären das unbürokratisch ab.“

Luther zog Sonnhüter an seinem Ärmel und sagte laut und deutlich: „Man hat mir g’sagt, dass der Zwingli und der Calvin hier sein und auf mich warten. Ist ein ziemlich groß Sach, dass ich die beiden hier treffen mag.“

Die Frau an der Pforte grinste: „Ja, das hat vorhin die Nachbarin, Frau Brückner, gesagt, die ihn gebracht hat. Ein Scherz.“

„Komm, Martin, das war ein Versehen, ein Scherz …“

„Ein Scherz? Das wär schad. Ich hätt gern dem Calvin sein Abendmahl um die Ohren g’schlagen. Hatt er doch g’redet, dass es nur bloße Zeichen sein und der Leib Christi so weit entfernt sei vom Brot als der höchste Himmel von der Erden …“

„Luther, der Calvin ist nicht hier. Die Frau hat es nicht so gemeint.“

„Ja, ja, ich versteh gut“, nickte Luther. „Alls Lug und Trug.“

Und damit verließen die beiden Herren die Seniorenresidenz. Luther fuhr nun in einer dieser flachen Kutschen ohne Pferde und klammerte sich am Sitz fest, als das Auto mit einer irrsinnigen Geschwindigkeit von sechzig Stundenkilometern über die Landstraße „raste“. Nach einem heißen Bad und neuen seltsamen Kleidern, die auf der Haut kratzten, ließ sich der Zeitreisende Bohnen, Brot und ein Steak schmecken, was unter anderem dazu führte, dass er nach dem Essen laut rülpste.

4

24. 6. 2017

Habe einen Mann getroffen, der sich Martin Luther nennt und auch das so genannte Lutherdeutsch spricht. Zuerst habe ich an einen Scherz oder an eine geistige Verwirrung gedacht, aber als ich den kleinen, dicken Mann auf Latein und Hebräisch anredete, antwortete er mir spontan. Dann erzählte er mir seine Geschichte, und ich kann mir nicht helfen – es klang überzeugend. Er muss durch einen Blitzstrahl in unsere Zeit geschleudert worden sein. So kommt es mir jedenfalls vor. Oder das ist jemand, der ein großes schauspielerisches Talent besitzt. Ich werde meinen Schwager anrufen. Er hat Physik studiert.

Jedenfalls: Luther oder der Mann, der behauptet oder denkt, dass er Luther ist, hat Vertrauen zu mir gefasst. Und ich werde mit ihm durch Deutschland reisen und ihm einiges zeigen. Zum Glück lebe ich im Ruhestand. Ich habe also Zeit und kann nur hoffen, dass ich keinem Betrüger aufgesessen bin.

Ich werde ihm Erich Kästner zu lesen geben, damit er in unsere Sprache hineinfindet. Das ist einigermaßen verständlich, hoffe ich, und nicht zu kompliziert.

Meine Güte! Martin Luther persönlich! Ich werde ihn auf jeden Fall immer wieder testen. So richtig überzeugt bin ich immer noch nicht ganz. Wie stark kann ein Mensch sich etwas einbilden? Vielleicht ist der Mann ja auch ein Lutherspezialist, der durchgedreht ist und denkt, er sei selbst Luther? Wie auch immer – ich spiele das Spiel zuerst einmal mit. Zunächst, denke ich, muss ich ihn mit unserer Welt bekannt machen. Vor allem mit unseren technischen Geräten! Und aufpassen werde ich, dass er keine Nägel in die Steckdosen steckt. Wie bei einem Dreijährigen! Zum Glück leben wir hier nicht in der Großstadt. Einige unserer Fachwerkhäuser in der Innenstadt sind noch aus Luthers Zeiten! Unsere Stadtmauer stammt sogar aus dem 12. Jahrhundert.

Natürlich werde ich ihn als Sondergast für den Pfarrkonvent in Wittenberg vorschlagen. Ich werde ihnen sagen, dass ich einen Schauspieler gefunden habe, der sich hervorragend in die Lutherrolle eingelebt hat. Vielleicht wäre das sogar etwas für die Jubiläumsveranstaltung, zu der ich eingeladen wurde.

Toll, dass der obere Saal im Lutherhaus für den Abschluss zur Verfügung steht. Da kann er in seinem eigenen Haus reden.

Was wird er überhaupt mit den Juden anfangen, wenn ich ihn nach Göttingen zu dem jüdischen Lehrhaus mitnehme? Vielleicht zu riskant. Seine antisemitischen Äußerungen sind ja sehr drastisch. Aber egal, ob es nun der echte Luther ist oder nicht. Der Mann ist überzeugend und hat wirklich Ahnung, spricht flüssig Latein und macht sich Gedanken zur Übersetzung des Buches Genesis. Egal, ob er echt ist oder nicht … Zeit mit ihm zu verbringen, wird in jedem Fall eine Abwechslung sein.

Er hat mir gesagt, er sei im Juni 1545 in unsere Zeit versetzt worden. Ich habe nachgeschlagen und festgestellt, dass er im Februar 1546 sterben wird. Aber das darf er nie erfahren. Selbst wenn er den Luther nur spielt und sich mit ihm stark identifiziert, könnte er in eine Krise geraten, wenn er liest, dass er demnächst sterben wird. Ich muss meine Lexika vor ihm verstecken. Wenn er aber 1546 stirbt, dann wird er ja wieder in seine Zeit zurückfinden. Immerhin ein Trost für ihn.

Meine Güte – jetzt gehe ich auch schon davon aus, dass es der echte Luther ist!!!

Auf jeden Fall muss ich anderen gegenüber vorsichtig sein und so tun, als sei er ein Schauspieler. Die Zeitreise glaubt mir ja sowieso niemand.

Ob er merkt, dass ich gar nicht an Gott glaube? Ich werde es ihm jedenfalls nicht auf die Nase binden!

5

„Ja? Bergmann?“

„Hallo Gert. Ich bin’s – Andreas, dein Schwager.“

„Ja, du stehst auf meinem Display.“

„Hast du gerade fünf Minuten Zeit?“

„Sogar zehn Minuten.“

„Wunderbar. Hör mal, ich beschäftige mich gerade mit Zeitreisen. Hab einen Film gesehen, und weil du ja mal Physik studiert hast …“

Bergmann lachte: „Du interessierst dich für Physik? Ich dachte, alte Sprachen seien dein Hobby …“

„Nicht nur. Ich hab schon als Jugendlicher Science-Fiction-Romane gelesen!“

„So? Welche denn?“

„Soll das ein Verhör sein? Zum Beispiel die Kurzgeschichten von Stanislav Lem.“

Es entstand eine Pause. Schließlich sagte Gert: „Zeitreisen gibt es schon, in kleinen Häppchen …“

„Was? Echt?“

„Ja, wenn du mit einem Raumschiff mit einer Geschwindigkeit, die in die Nähe der Lichtgeschwindigkeit kommt, sagen wir mal, zehn Jahre durch den Weltraum fliegst, und du kommst dann auf die Erde zurück, bist du ein paar Monate oder Jahre jünger, als wenn du auf der Erde geblieben wärst. Die Zeit ist relativ. Insofern bist du in die Zukunft der Erdbewohner gereist …“

„Ach so.“

„Klingt ja nicht begeistert …“

„Ich meine, ist es möglich, dass jemand … sagen wir, aus dem Mittelalter plötzlich bei uns auftaucht?“

Sonnhüter sah förmlich vor sich, wie sein Schwager den Kopf schüttelte. „Wie gesagt: Ein bisschen in die Zukunft könnte möglich sein, aber nicht in diesen Zeiträumen. Und andersherum, also Reisen in die Vergangenheit, geht überhaupt nicht. Das scheitert am Großvaterparadoxon.“

„Dem was?“

„Stell dir vor, es würde dir gelingen, in die Vergangenheit zu reisen und deinen eigenen Großvater zu erschießen …“

 

„Das würde ich nie machen!“

„Ist doch egal. Aber nur mal angenommen. Dann würdest du etwas tun, das deine eigene Existenz auslöscht. Du wärst nie geboren worden und könntest deshalb auch deinen Großvater nicht erschießen. Man verstrickt sich in irrsinnige logische Widersprüche.“

„Also keine Zeitmaschine …“

„Na ja, es gibt theoretisch noch die Möglichkeit, dass jemand aus einem Paralleluniversum bei uns landet, dessen Planet noch ein Zeitalter zurückliegt. Das käme uns dann so vor, als ob jemand aus der Vergangenheit bei uns auftaucht.“

„Hm. Aber du denkst, dass jemand aus dem Mittelalter durch einen Blitz bei uns landet, das ist … unmöglich?“

„Das ist möglich – allerdings nur in Hollywood.“

„Na ja, vielen Dank. Hat mich mal interessiert.“

„Nichts zu danken. Also, du brauchst nicht zu befürchten, dass jemand aus dem Mittelalter an deiner Tür klingelt.“

„Alles ist möglich“, brummte Sonnhüter, legte auf und ärgerte sich, dass er schon wieder einen biblischen Ausdruck gebraucht hatte.

6

Luther wunderte sich, wie leicht die Bücher heutzutage waren und wie viele Exemplare dieser einfache Pfarrer in seiner Bibliothek untergebracht hatte. Er musste ein reicher Mann sein.

Die „Tschiens“, wie Andreas die dicken Hosen genannt hatte, fühlten sich steif und schwer an. Da waren die engen Beinlinge, die Luther unter der Kutte trug und die man mit Bändern am Gürtel befestigte, bequemer gewesen.

Aber über den „Rasierapparat“ hatte Luther noch mehr gestaunt. Winzige Räder und Messer, die sich von selbst bewegten. Überhaupt bewegten sich die Dinge in diesem Jahrhundert fast alle von selbst: Rührlöffel, Spülmaschinen, die Messer einer lauten Sense, das Wasser, das durch einen Hebel plötzlich aus einem unsichtbaren Brunnen strömt, und vor allem die Bilder in dem magischen Spiegel. Sonnhüter hatte ihm erklärt, dass diese selbstbewegenden Dinge keine Magie waren, sondern dass man die Stromkraft entdeckt hatte, die in Gottes Schöpfung gewissermaßen eingewickelt gewesen war – und die die Menschen nun ausgewickelt hatten und benutzten.

Luther würde dieses Zeitalter, in dem er jetzt lebte, das „Selbstbewegte Zeitalter“ nennen.

Worüber er insgeheim staunte, es aber nicht sagte, das waren die Weiber mit ihren kurzen Röcken und den Männerhosen. Manchmal blieb ihm der Mund offen stehen, wenn er eine Frau mit abgeschnittenen Hosen entdeckte.

Im Augenblick saß Luther auf Sonnhüters Terrasse, hatte die Beine hochgelegt und trank Apfelsaft. Auf seinen Knien lag eines dieser leichten Bücher, und er versuchte gerade, die neue deutsche Sprache zu verstehen. Das Buch trug den merkwürdigen Titel „Pünktchen und Anton“. Bevor ihm Sonnhüter die deutschen Fürstentümer zeigen wollte, sollte er sich in dieser neueren Sprache besser auskennen. Sie kam ihm irgendwie blasser und leerer vor als seine eigene, als ob man alle Verzierungen abgeschnitten habe. Den Konjunktivus las man nur selten.

Auch vollkommen neue, unverständliche Wörter tauchten auf. Luther hatte zu diesem Zweck einen Zettel und einen Bleistift neben sich liegen und schrieb gerade das Wort „Eisenbahn“ auf. Was sollte das sein? Eine Straße aus Eis oder Eisen?

Dieser Kästner hatte zuweilen gute Einfälle, er schrieb: „Wahr ist eine Geschichte dann, wenn sie hätte passieren können.“

Aber was bedeutete: „Bei euch piept’s wohl?“

Die Terrassentür öffnete sich. Luther schaute hoch. „Wie wär’s mit einem Tee und einem Stück Kuchen oder Gebäck?“

Sonnhüter trug ein Tablett und stellte es auf den Tisch. Luther wunderte sich, dass keine Knechte und Mägde da waren, aber das war ja bei ihm zu Hause auch nicht anders gewesen. Sie waren alle ausgeflogen, und deshalb hatte er ja diese Kirschen selbst pflücken müssen.

Andreas verteilte Tassen und Teller, stellte Zucker und eine Schale mit kleinen gebogenen Teilen hin.

„Du kennst doch Tee, oder?“

„Oh ja. Meine Käthe bereitet ein Haufen Sorten zu: Hagebutten, Zitronenmelisse, Lindenblüten …“

„Das hier ist Tee aus Indien.“

„Das muss gar kostspielig sein.“

„Nein, ganz und gar nicht. Die Welt ist kleiner geworden. Du kannst mit einer fliegenden Autokutsche in einem Tag dort sein.“

„Was? Ihr könnet machen, dass eine Kutsch tut fliegen?“

„Nicht nur das. Wir können durch einen kleinen Apparat mit Menschen aus Indien reden.“

„Ich erinner mich. Die Magd in der … in jenem Schloss hat so einen Stein an ihr Ohr g’halten und geredt!“

Sonnhüter goss ein. „Bedien dich, wenn du Zucker haben willst …“

„Zuckra?“

„So etwas wie Honigpulver, ist ziemlich süß.“

„Ja, hab davon gehört. Ist aber nur was für die reich Leut. Mein Käthe hat den Honig verwendt aus ihren eigen Bienenstöck.“

Luther steckte den Zeigefinger in die Zuckerdose und probierte. Dann nickte er und ließ drei gehäufte Löffel in seinem Tee verschwinden.

Er rührte mit dem Löffel gedankenvoll herum und fragte: „Wie heißt eigentlich der Kaiser, der jetzt regieret?“

Sonnhüter trank einen Schluck und zögerte. „Wir haben in Deutschland keinen Kaiser mehr. Der letzte hat uns vor hundert Jahren einen furchtbaren Krieg beschert. Die Regierung wird vom Volk gewählt oder von den Volksvertretern. Das nennt man eine Demokratie …“

„Und … es gibt keinen obersten Fürsten oder König?“

„Doch, den gibt es, aber er hat nicht mehr die Macht, die ein Kaiser hatte. Wir nennen ihn Bundeskanzler. Und zurzeit ist es eine Frau, die …“

Luther blickte den Pfarrer mit erschrockenen Augen an. „Eine Frau, die an der Stelle des Kaisers regieret?“

„Ja, ja, mein Lieber, da staunst du, was? Aber es gab auch schon früher Königinnen, sogar vor deiner Zeit. Die Frauen, sage ich dir, sind jetzt auf dem Vormarsch. Sie müssen ihre Männer nicht mehr um Erlaubnis fragen, wenn sie Handel treiben. Und sie tragen Hosen wie wir …“

„… und ausnehmend kurze Röck“, fügte Luther hinzu.

„Genau“, sagte Sonnhüter. „Und weißt du was? Das fällt mir inzwischen gar nicht mehr auf. Ich hab mich daran gewöhnt.“

„Und tragen kein Gebind und Kopftuch mehr“, fuhr er fort. „Lasset ihr Haar grad frei und frank herunterhängen. Nur wenig Weiber han ein Kopftuch. Ein seltsam Zeitalter …“ Er schüttelte den Kopf und gähnte gleich danach.

„Ich denke“, sagte der Pfarrer, „du legst dich noch eine Weile auf die Couch und ruhst dich aus. Das ist ja alles ein bisschen viel. Und dann fahren wir in die Stadt, und ich kann dir ein paar Sachen zeigen. Wir haben hier sogar eine Martin-Luther-Schule.“

Luther schüttelte verwundert den Kopf.

„Ja, du bist berühmt geworden, mein Lieber. Nach über fünfhundert Jahren kennen die Leute deinen Namen. Ich denke, wir beginnen mit der Kirche. Das ist etwas Vertrautes.“

Eine Stunde später stiegen Sonnhüter und Luther aus dem Golf, nachdem sie neben der lutherischen Kirche geparkt hatten.

„Die Straßen sind so rein“, sagte Luther, nachdem er sich aus dem Golf gequält hatte, „als ob sie jeden Morgen gefegt werden. Kein Rossapfel oder faulig Gemüs, dem man ausweichen müsst.“

„Ja, wir sammeln alles in große Tonnen, die von der Stadt abgeholt werden.“

„Das nenn ich: Anbruch einer neu Zeit. Das Stinkende ist vergangen, siehe: ein neu Geruch ist geworden.“

Unter der riesigen Schillereiche, die den Kirchvorplatz in Licht und Schatten tauchte, kamen sie zum Kirchenportal. Der Pfarrer öffnete die schwere Tür.

Luther staunte: „Der Eingang geht durch den Turm …“

„Ja“, sagte Sonnhüter, „das ist eine Besonderheit von St. Sixti. Die Turmhalle ist der älteste Teil und stand schon hier im 13. Jahrhundert.“

Luther berührte ehrfürchtig die Steine und murmelte: „Ihr alten Stein, ihr stammet all noch vor meiner Geburt und habt die Zeiten überdauert.“

Als sie die Schwingtüren passierten, ging der Blick von ganz alleine nach oben in das gotische Gewölbe. Luther bekreuzigte sich und blieb stehen.

„Über vierzehn Meter hoch“, sagte der Pfarrer, und seine Stimme hallte durch den Raum. „Meter? Was sind Meter?“

„Oh!“, Sonnhüter lächelte. „Natürlich, die kannst du noch nicht kennen. Wir haben uns von den alten Maßen verabschiedet. Ich schätze mal, das sind ungefähr vierzig Fuß bis zur Decke. Übrigens“, er schmunzelte, „eine lutherische Kirche. Es gibt kein Weihwasserbecken. Hast du nicht die ganzen Zauberdinge abgeschafft? Natürlich haben wir auch eine römisch-katholische Kirche am Ort.“

„Also haben die Römischen auch die Zeiten überlebt“, kommentierte der Zeitreisende.

„Und die Täufer gibt es auch noch. Nennen sich Baptisten. Aber seit Thomas Münzer sind sie ganz brav geworden.“

„Soso“, murmelte Luther.

„Und die Juden“, führte Sonnhüter den Gedanken fort, „die sind auch noch da. Obwohl die Synagoge in Northeim nicht mehr benutzt wird. Die jüdische Gemeinde gibt es seit fast achtzig Jahren nicht mehr.“

„Die Jüden“, brummte Luther, „halsstarrig Gesellen!“

„Vorsicht, Luther!“, Sonnhüters Ton wurde etwas schärfer. „Keine Beschimpfungen über die Juden. Das dulde ich nicht! Es ist Schlimmes in Deutschland passiert. Aber davon später.“

Während sie langsam nach vorne gingen, blickte ihnen eine junge Frau nach, die auf einer Bank am äußersten Rand saß und von den beiden Männern übersehen worden war.

Neugierig geworden über den merkwürdigen Wortwechsel, stand sie leise auf und schlich hinter den beiden Männern her. Als sie vor dem Altarraum standen, versteckte sie sich hinter einer Säule.

Sonnhüter griff zu einem Gesangbuch, das in einer der Bankreihen steckte, und blätterte darin. Dann reichte er es seinem Begleiter.

„Hier, lies mal!“

Luther nahm das Buch und bewegte die Lippen: „Vom Himmel hoch, da komm ich her … Aber das sind meine Wort, die ich vor etlich Jahr han niederg’schrieben.“

Sonnhüter nickte. „Steht auch da. Text: Martin Luther 1535, Melodie: Martin Luther 1539.“

„Und meine Gesäng und Lieder stehn all in dem Buch?“

„Ja, und noch viele andere.“

Luther lachte: „Wenn ich dran denk, wie alle wild g’worden sind, dass ich han die lateinisch Mess abgschafft, damit die Leut mit ihrem Maul sollen auf Deutsch singen. Ehr sei Gott in der Höh statt Gloria in excelsis Deo. Und die Lieder, han sie gesagt, sollt man in der Stub singen und nit in der Kirch!“

„Oh, es werden noch ganz andere Lieder heutzutage in der Kirche gesungen. Du würdest staunen. Mit Trommeln, Pfeifen und Gitarre … ahm Lauten.“

Sie blickten stumm auf den Altar.

„Wenn mich der gnädige Gott wieder zurückschicken tut in mein Leben, dann will ich das Buch mitnehmen und herumzeigen“, sagte Luther und behielt es in der Hand.

Nach einer Weile kehrten die Männer um und verließen das Gebäude. Unauffällig folgte ihnen die Frau. Und als sie sah, dass sie auf das parkende Auto zugingen, rannte sie zu ihrem Fahrrad, schloss es auf und fuhr hinter dem Golf her.