Nightflights

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28. Januar: An der Piazza Navona

Ich verbrachte zwar weniger als achtundvierzig Stunden in Rom, aber in dieser Zeit wurde ich von so vielen Eindrücken überwältigt, dass ich nicht mehr wusste, wo ich war, als ich nach Köln, der Stadt, in der ich seit mehr als zehn Jahren wohne, zurückkam. In meinem Kopf wirbelten noch all die Bilder herum, die ich gesehen hatte, und immer wieder ertappte ich mich dabei, wie meine Gedanken zurückschweiften.

In Rom stiegen wir im Hotel Raphael Largo Febo 2 ab, ganz in der Nähe der Piazza Navona. Das Hotel ist der Wohnsitz eines hohen Regierungsbeamten und wird Tag und Nacht von bewaffneten Einheiten bewacht. In der unmittelbaren Nähe dürfen keine Autos parken - eine Vorsichtsmaßnahme gegen Terroristen.

Mein Zimmer lag im fünften Stock und hatte einen kleinen Wintergarten, der auf einen Balkon hinausführte. Als wir unsere Koffer ausgepackt hatten, machten wir einen kleinen Bummel durch die Piazza Navona und tranken in einem der Cafés dort einen Cappuccino. Die Piazza Navona ist sehr lang und ziemlich eng, und irgend jemand hat mir mal erzählt, dass hier früher Pferderennen stattfanden. Trotzdem fürchte, ich, will ich lieber gar nicht erst anfangen, sie zu beschreiben, vor allem nicht, wie sie bei Nacht aussah, denn sonst würde ich wahrscheinlich nie fertig. Ich will mich deshalb auf ein paar der hervorstechendsten Details beschränken, die meiner Meinung nach für die ganze Stadt repräsentativ sind. Wenigstens für den Teil, den ich gesehen habe. Um es gleich vorwegzunehmen, alles war voller Leben. Hier herrschte keine Museumsatmosphäre; wenn man wollte, konnte man alles anfassen. Die Farbe, die von den Häuserwänden abblätterte, sprach von Zerfall, aber dieser Eindruck machte alles nur umso anziehender, so wie eine Lederjacke immer mehr Charakter kriegt, je öfter man sie trägt. Das wichtigste jedoch war, dass die Piazza einen nicht erdrückte. Am frühen Abend, kurz nach Sonnenuntergang, wenn die Straßenlaternen bereits an, der Himmel jedoch noch nicht ganz dunkel war, war sie am schönsten. Dann strömten die Menschen von allen Seiten herbei wie flüssige Lava. Sie war die Mitte eines Irrgartens, das Zentrum eines Labyrinths, von Straßen und Gassen umgeben, die ineinander übergehen, von Geschichte, Mode, Männern, Frauen und Kindern erfüllt. Kurz: ein Ort, den ich unbedingt wiedersehen will. Man konnte seinem Charme einfach nicht entkommen ...


Capuccino auf der Piazza Navona (Foto: Archiv/Alan Bangs)

Heute morgen, als ich wach wurde, hörte ich als erstes, wie jemand »Smile« pfiff, den Song, den Charlie Chaplin für »Modern Times« komponiert hatte. Ich spitzte die Ohren und lächelte.

Winter in Oswego, N. Y.

Oswego ist eine kleine Stadt in Upper New York State, auf der amerikanischen Seite des Ontario Sees. Es geht dort ziemlich friedlich zu, vor allem während der Sommermonate, wenn die Studenten in die Ferien abgereist sind. Es gibt breite Straßen, geräumige Bürgersteige und die meisten Häuser liegen etwas zurückgesetzt. Viele von ihnen haben Holzveranden, die um das ganze Erdgeschoß herumführen. Manchmal sitzen die älteren Leute den ganzen Tag auf diesen Veranden und winken jedem Vorübergehenden zu. Häufig sind die Läden während der Mittagszeit geschlossen. Niemand hat es hier eilig. Die Autos der Studenten, die an den Sommerkursen teilnehmen, sehen älter aus, als sie tatsächlich sind. Das Umweltgift macht jedoch auch hier nicht halt, sondern setzt sich auf dem Blech fest und zerfrisst den Lack. Die Kühlerhauben gleichen dem fleckigen Gefieder der Drosseln, die sich auf den Wiesen des Campus vergnügen. Im See treiben tote Fische. Es gibt wenig Initiativen, irgend etwas zu unternehmen. Niemand reißt sich hier ein Bein aus.

Auch ich schob eine ruhige Kugel, als ich ein paar Wochen hier verbrachte. Ich ging zu ein paar Vorlesungen und verbrachte eine Menge Zeit in der Bibliothek.

Irgendwer erzählte mir, dass Oswego im Sommer nicht dasselbe ist wie Oswego im Winter, und ein anderer versuchte, mir das zu erklären. Ich hörte zu und versuchte, mir vorzustellen, wie die Straßen, die jetzt einsam und verlassen in der Mittagshitze flimmerten, nach einem schweren Schneesturm aussehen würden. Ich malte mir aus, wie sich die Studenten von einem Gebäude zum nächsten schleppten und sich dabei an Seilen festklammerten, die quer über den Campus gespannt waren. In den Wintermonaten waren diese Seile manchmal die einzige Gewähr dafür, dass man auch tatsächlich da ankam, wo man hinwollte - wenn man sich überhaupt aus dem Haus traute. Die Studenten, von Schneestürmen geblendet, kämpften sich wie Polarforscher von Vorlesung zu Vorlesung. Die Gebäude der Privat-Colleges waren durch unterirdische Tunnel miteinander verbunden, doch die staatlichen Colleges mussten sich größtenteils mit Seilen begnügen. Es war also entschieden klüger, in der warmen Bude zu bleiben und alleine zu studieren.

Das war aber nicht der Grund, warum die Bibliothek ein beliebter Aufenthaltsort für die Studenten war, wenn das Thermometer unter Null sank. Die Bibliothek war ein zweistöckiges Gebäude mit Blick auf den See. Außer unzähligen Büchern gab es dort auch Zeitschriften aus aller Herren Länder, wissenschaftliche Publikationen aus allen Teilen der Welt (viele von ihnen auf Mikrofilm) und eine umfangreiche Plattensammlung. Und diese Plattensammlung war es, die die Studenten anzog. Sie befand sich im oberen Stockwerk, in einem riesigen Saal, dessen Fenster von der Decke bis zum Fußboden reichten. Von hier aus hatte man einen herrlichen Blick über die Baumwipfel hinweg auf den See. Die Studenten verbrachten während der Wintermonate manchmal ganze Tage in diesem Saal. Sie schoben ihren Stuhl vor die Fensterfront und starrten wie versteinert auf die atemberaubende Szenerie. Hypnotisiert von dem, was sie sahen und berauscht von der Musik, die aus ihren Kopfhörern dröhnte, befanden sie sich in einem tranceähnlichen Zustand, der sie vollkommen von ihrer Umgebung abschnitt.

An klaren Tagen konnte man bis zu einem Wall aus Eis sehen, der sich etwa hundert Meter entfernt vom Ufer gebildet hatte. Hinter ihm stürmte die Brandung gegen das Eis. Wenn die Wellen gegen den Wall prallten, brachen sie sich im Eis, wurden zurückgeschleudert oder lösten sich in Schaum auf - und die Gischt, die sich über der Masse des Wassers bildete, verwandelte sich in der eisigen Luft in kleine Kristalle, die wie Tausende von Diamanten auf die Erde zurückfielen. Sie prasselten auf die gefrorene Decke des Sees nieder und glitzerten in der Sonne. Die Studenten, die in der Bibliothek saßen und das Ganze beobachteten, bildeten sich ein, sie könnten trotz der Entfernung, der Musik und der dicken Glasscheibe vor ihrer Nase, das Eis bersten hören, und wenn die Sonne untergegangen war, kam der Bibliothekar, rüttelte sie aus dem Schlaf und schickte sie nach Hause, ehe er die Platten einsammelte, das Licht löschte und sich selber auf den Heimweg machte.

Die Fluten des Sees hielten ungeachtet der Tatsache, dass ihr Publikum sie verlassen hatte, an ihrer stetigen Verwandlung fest, Nacht für Nacht, wohl wissend um ihre Macht, jeden, der sie je gesehen hatte, zu berauschen. Ich selbst habe dieses Schauspiel nie gesehen, aber nachdem ich mir all diese Geschichten an einem heißen Sommernachmittag angehört habe, kommt es mir heute manchmal so vor, als hätte ich sie selber erlebt.

5. Februar: Night Flight mit John Cale oder: Eine seltsame Totenstille geht durch den Äther

Das erste Mal, dass ich John Cale live spielen sah, war im »Paradiso« in Amsterdam, irgendwann Mitte der siebziger Jahre. Damals machte er sich auf der Bühne über eine aufblasbare Puppe her und versuchte, sie mit einem Mikro zu vergewaltigen. Kurz danach sah ich ihn noch mal, diesmal im »The Venue« in London. Er trat mit einer weißen Fechtmaske, unter der sein Kopf mit einem langen weißen Schal umwickelt war, auf. Darunter blitzte ein Stück zerknitterte Aluminiumfolie hervor. Seitdem habe ich Cale noch mehrere Male live erlebt, und fast jeder seiner Auftritte ist mir stark im Gedächtnis haftengeblieben.

Eigenartigerweise kann ich das von seinen Platten nicht behaupten, obwohl ich keinen Schimmer habe, wieso. Ich weiß zum Beispiel nicht mehr, wo ich mich befand, als ich zum ersten Mal eine Platte von ihm hörte: Ich kann nicht mal sicher sagen, welches seiner Alben mich überhaupt auf seine Musik aufmerksam machte. Vieles spricht dafür, dass es »Paris 1919« war, und aller Wahrscheinlichkeit nach hat irgendwer sie mir damals vorgespielt, lange, ehe ich sie mir selber zulegte. Es ist aber auch genauso gut möglich, dass ich von alleine drüber gestolpert bin, fasziniert von dem Cover oder auch den Titeln der einzelnen Songs. Ich war schon immer ein fanatischer Leser, und die Tatsache, dass ein Song »Graham Greene« hieß, hat mich sicher neugierig gemacht, auch wenn ich damals nur Greenes Namen kannte und noch nichts von ihm gelesen hatte. Vor allem aber war es das Cover, das meine Aufmerksamkeit erregte.

Es zeigt fünf Fotos, eins vorne und vier auf der Rückseite. Auf jedem dieser Fotos trägt Cale einen weißen dreiteiligen Anzug und dazu eine weiße Krawatte. Auf der Vorderseite sitzt er in einem Korbstuhl und stützt den Kopf in die Hand. Sein Gesichtsausdruck ist trügerisch: Es kommt einem fast so vor, als sei er tief in Gedanken versunken, aber gleichzeitig scheint er jeden Moment loslachen zu wollen. Die vier Fotos auf der Rückseite sind da schon eindeutiger, obgleich die Diskrepanz zwischen dem, was er tut und dem, was er denkt, weiterbesteht. Auf dem ersten Foto steht er vor dem Fenster, auf dem zweiten fängt er an, nach rechts wegzukippen, auf dem dritten ist sein Kopf schon aus dem Bildrahmen verschwunden, und auf dem vierten sind nur noch seine Füße zu sehen. Auf dem ersten Foto sind seine Augen offen, auf dem zweiten geschlossen. Hinter ihm sieht man ein Fenster und hinter dem Fenster einen Garten. Sowohl das Zimmer als auch der Garten draußen sind von Sonnenlicht durchflutet. Beim Fallen macht er keine Anstalten, sich festzuhalten und auf dem letzten Foto, kurz bevor er endgültig auf dem Boden liegt, hat man freien Blick auf das Fenster. Was hat das alles zu bedeuten? Ich habe keine Ahnung: Das Ganze bringt mich einfach nur zum Lachen.

 

Es ist schon irgendwie komisch, dass ich mich nur so vage an diese Platte erinnern kann. Sie gefiel mir von Anfang an, aber es fällt mir schwer, sie mit einer bestimmten Zeit oder einem bestimmten Ort in Verbindung zu bringen. Sie erinnert mich an nichts, wenn ich sie höre, und ihre Existenz ist völlig unabhängig vom Erscheinungsjahr und so ganz anders als alle anderen Platten, die John Cale aufgenommen hat. Vielleicht ist das der Grund, warum er und seine Musik mich so sehr faszinieren: Beide sind äußerst schwer auszumachen, und beide sind nicht nur unzuverlässig, sondern auch unkalkulierbar.

John Cale tendiert zur Unberechenbarkeit. Er ist ganz und gar kein »sicherer« Interviewpartner. Egal, wieviel Mühe man aufwendet, um genau hinzuhören, man kommt manchmal einfach nicht dahinter, was er meint. Es ist schwer, seinen Gedanken zu folgen, weil er von einem Thema auf das andere kommt und Ideen auf die verrücktesten Arten miteinander kombiniert. Politik, nicht Musik, ist sein Lieblingsthema, wenn er sich mit einem hinsetzt, um zu reden. Er lebt seit fast zwanzig Jahren in New York City, einer traditionellen »Medienstadt«, und hat sich seine Meinung aus Zeitungen und Nachrichtensendungen gebildet, doch die Art, wie er sie dann vorbringt, ist wirklich einmalig.

Letzte Nacht war John Cale mein Gast bei Night Flight. Vor der Sendung gingen wir essen, und obwohl die ganze Band dabei war, kamen später nur John und seine Frau Rise mit ins Studio. Wir kamen erst eine halbe Stunde, ehe wir auf Sendung gingen, beim BFBS an und hatten deshalb wenig Zeit, irgend etwas zu besprechen. Eigentlich hatten wir sowieso bewusst darauf verzichtet, große Vorbereitungen zu treffen, in der Hoffnung, dass wir so spontaner miteinander umgehen würden. John hatte sich bereiterklärt, uns eine kleine Live-Vorstellung zu geben, obwohl er sich absolut keine Gedanken darüber gemacht hatte, welche Songs er bringen wollte.

Wie auch immer, vom rein technischen Standpunkt aus gesehen, war ein Mindestmaß an Vorbereitung unumgänglich, und deshalb stimmte John einem Soundcheck zu. Wir sagten ihm, dass wir alles aufzeichnen würden, damit er sich das Ganze hinterher anhören und uns sagen könnte, ob er mit der Tonqualität zufrieden sei. John ging ins Studio, setzte sich an den Flügel, klimperte uns zwei Songs vor und kam dann wieder in den Kontrollraum zurück. Er hörte sich das Band an und fand es gut. Dann bestand er darauf, die Aufnahme zu löschen. Er ließ sich auch nicht von seiner hartnäckigen Forderung abbringen, dass die Sendung nicht aufgezeichnet werden dürfe. Ich versuchte ihm klarzumachen, dass ihn theoretisch jeder aufzeichnen konnte, der die Sendung zufällig hörte, aber das beeindruckte ihn in keinster Weise. Ich schob das Band mit den beiden Songs also in den Apparat und löschte die Aufnahme. Damit war John aber immer noch nicht zufrieden. Er verlangte das Band: Es genüge nicht, die Aufnahme zu löschen, erklärte er, das Band müsse ordnungsgemäß zerstört werden. Er wickelte es von der Spule und warf es in den Papierkorb. Die Atmosphäre, die schon gespannt genug war, fing an zu knistern. Niemand konnte den Verlauf der nächsten Sendung voraussehen, und ich fing an, mir ernstlich Gedanken zu machen, was alles passieren könnte.

Ich verließ das Studio, in dem John am Piano saß und ging in den Nebenraum, wo ich normalerweise arbeite, um mit der Sendung zu beginnen. Als erstes spielte ich zwei Liebeslieder von Buddy Holly; eins - »Love Is Strange« - wurde erst nach seinem Tod fertiggestellt. Norman Petty, Hollys Produzent, mischte aus einem früheren Demotape, auf dem nur Gesang und Gitarre zu hören waren, einen neuen Song. Das zweite, »Learning the Game«, war eine Version von einem von Hollys größten Liebesliedern, hier in einer radikalen Neufassung von Andrew Gold. Während diese beiden Songs liefen, saß Cale im Studio hinter mir und wartete. Um ihn vorzustellen, spielte ich ein Stück aus seinem Album »Music For A New Society«, ein Stück, das unter den gegebenen Umständen (und vor allem im Rückblick) nicht nur angebracht, sondern auch geradezu prophetisch schien: »Taking Your Life In Your Hands«. Danach ging ich rüber zu ihm ins Studio One, ein Raum, der vor allem für Live-Aufnahmen benutzt wird. Hier gibt es weder Plattenspieler noch ein Mischpult. In einer Ecke steht ein Flügel und auf der gegenüberliegenden Seite ein Tisch mit vier Kopfhöreranschlüssen. Als ich reinkam, saß John am Flügel, ich ging zum Tisch und setzte mich hin. Wir waren etwa drei Meter voneinander entfernt.

Selbst jetzt, nur wenige Stunden nach der Sendung, fällt es mir schwer, mich daran zu erinnern, worüber wir gesprochen haben. Vieles von dem, was wir sagten, machte absolut keinen Sinn. Wir redeten aneinander vorbei. John war zu sehr in seiner eigenen Welt, und ich verstand nicht viel von dem, was er sagte. Nach einer Weile hörte ich auf, Fragen zu stellen und redete nur noch, um die Pausen zwischen seinen Ausführungen zu überbrücken, in der vagen Hoffnung, dass er irgendwie auf das eingehen würde, was ich sagte - was er unweigerlich tat, wenn auch meistens, indem er mich kurzerhand unterbrach. Das war weder ein Interview noch eine Unterhaltung, und ich war bestenfalls ein Katalysator, ein Straight Man neben einem Komiker. Die meiste Zeit fühlte ich mich ziemlich bescheuert, vielleicht geriet ich sogar etwas aus der Fassung - nicht wegen der Sendung, aber in Bezug auf das, was Cale indirekt von mir erwartete. Ich hatte noch nie Angst, dass mir mal die Munition ausgehen könnte, dass ich nichts mehr zu sagen hätte, aber ich weiß nur allzu gut, dass man im Radio eine Menge Unsinn verzapfen kann, nur um ein peinliches Schweigen zu vermeiden. Es machte mir aber nicht viel aus, als Dummkopf dazustehen: Auch wenn ich nicht in der Lage war, mitzuhalten, so war ich doch bereit, mich für das, was Cale repräsentierte, zu opfern, nämlich eine wirre, aber irgendwie doch sehr konzentrierte Attacke gegen Konformismus und Konservatismus.

Während dieser zwei Stunden erlebte ich genau dieselben unterschiedlichen Gefühle wie damals, als mich die Persönlichkeit von Patti Smith mit voller Breitseite erwischte. In jener Nacht, als ich versuchte, sie für den Rockpalast zu interviewen, wollte sie nur eins, nämlich ihre Show abziehen, und jeder, der ihr über den Weg lief, wurde zu einem Teil dieser Show. Es war das erste Mal, dass ich einfach nicht wusste, was ich sagen sollte, oder besser gesagt, wie ich mich verhalten sollte. Ich hatte im wahrsten Sinne des Wortes keine Ahnung, was ich machen sollte, als Patti ausflippte und sich einfach weigerte, irgendwas mit mir zu tun zu haben. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, was schiefgelaufen war und wieso sie das Gefühl hatte, dass ich sie zurückhalten wollte. Später erkannte ich, dass der immense Druck, der auf ihr lastete, jeden, dem sie in dieser Nacht begegnete, in einen Aspekt ihrer eigenen Persönlichkeit verwandelte: Sie kämpfte genauso stark mit sich selbst wie gegen die, mit denen sie zufälligerweise zu tun hatte. Ich weiß noch, wie ich hinter der Bühne der Grugahalle stand und zusah, wie sie wutentbrannt von mir weglief und schreiend verlangte, dass man sie endlich auf die Bühne ließ. Sie nahm überhaupt keine Notiz mehr von dem, was um sie herum geschah, nicht mal von den Kameras, die auf sie gerichtet waren.

Ich stand da und dachte darüber nach, wie viele Millionen Menschen uns in diesem Moment zuschauten, und was ich bloß tun sollte. Für den Bruchteil einer Sekunde war ich völlig entgeistert, weil ich merkte, dass mir einfach nichts einfiel, um die Situation zu retten. Aber dann dämmerte es mir plötzlich, dass ich mich schrecklich konservativ verhielt, nur in festgesetzten Bahnen dachte und versuchte, einen wirklich einzigartigen Moment auf etwas Stinknormales zu reduzieren. Ich fürchtete die Konsequenzen, aber gleichzeitig war ich von den Möglichkeiten fasziniert. Es ist unmöglich zu beschreiben, was damals in meinem Kopf vorging: Alles ging so rasend schnell, und trotzdem entschied ich mich ganz bewusst, nicht einzuschreiten. Und plötzlich stand ich nicht mehr einfach nur hilflos da, sondern war ein Teil dessen, was passierte. Ich hielt nichts und niemanden zurück und war auch keinem im Weg. Ich erkannte, dass Patti sich selbst darstellte, dass nichts mehr sie aufhalten konnte, dass ihre Persönlichkeit - oder zumindest ein Teil davon - sich ungefiltert entfaltete, von Fragen unberührt, von Höflichkeiten ungeschmälert. Diese wenigen Minuten nahmen mich psychisch ganz schön mit; sie deprimierten mich und hinterließen ein Gefühl der Leere, weil sie mich aus meinem gewohnten Denken herausrissen und in eine Welt führten, in der ich noch nie zuvor gewesen war. Hier war ich nur noch auf mich allein gestellt, weit weg von allem, was ich bis dahin für selbstverständlich gehalten hatte.

Ein paar Monate später versuchte Mitch Ryder auf seine eigene Art und Weise, das zu wiederholen, was Patti Smith schon vorgemacht hatte. Er wollte mich provozieren, nicht indem er sich weigerte, meine Fragen zu beantworten, sondern indem er jede Frage mit einer Gegenfrage quittierte. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie das Interview begann - ich weiß nur noch, dass mich Mitch Ryder nach der ersten Frage mehr als skeptisch anstarrte und irgendwas murmelte, was ich nicht übersetzen konnte. Dann fragte er mich aus heiterem Himmel: »Have you ever seen two dogs fucking in the street?« Ich bin nie dahinter gekommen, was er mit dieser Frage bezweckte. Damals schien es mir unangebracht, ihn um eine Erklärung zu bitten. Andererseits, wenn ich anders reagiert hätte, hätte er sich vielleicht nicht gezwungen gesehen, zu behaupten, dass es ein Gesetz geben sollte, das Leuten wie mir untersagte, im Fernsehen aufzutreten. Später kehrte er mir mitten im »Interview« einfach den Rücken zu und fing an, sich mit einem Mädchen zu unterhalten, das zufällig neben ihm stand. Das wäre ja auch noch zu verkraften gewesen, wenn ich nicht gerade dabei gewesen wäre, ihm eine Frage zu stellen. Ich hatte aber keine Lust, schon wieder den kürzeren zu ziehen und schnappte ihn mir beim Hemd. Daraufhin drehte er den Kopf in meine Richtung. Ich zog ihn wieder zurück zu mir und machte ihm unmissverständlich klar, dass unser Gespräch noch nicht beendet war. Er revanchierte sich mit der Frage, warum ich eigentlich nie mit seinem Keyboard-Mann Billy sprach. Ich protestierte, aber da war er schon auf hundertachtzig und ließ sich nicht mehr bremsen. »Ich weiß, warum du nicht mit ihm redest«, fuhr er fort. »Weil er deine Freundin angemacht hat, deshalb redest du nicht mit ihm.« Zufällig stand meine Freundin direkt hinter mir, und ich schlug vor, sie selbst zu fragen, ob an dieser haarsträubenden Geschichte was dran wäre. Sie hatte keine Lust, in diese Angelegenheit mit reingezogen zu werden und tat so, als wäre sie verlegen, obwohl sie allen Grund hatte, wirklich verlegen zu sein, wie ich später erfuhr.

Das Ganze klingt schlimmer, als es in Wirklichkeit war - in Wahrheit war das ganze Interview kaum mehr als ein Geplänkel, ein Spiel - aber eins, das keiner von uns beiden verlieren wollte. Wir wussten beide, was los war, obwohl es manchmal den Anschein hatte, als hätten wir die Kontrolle über das, was wir da machten, verloren. Wir waren alle ziemlich nervös, nur wollte keiner es zugeben.

Nach dem Interview ging die Band zurück zum Dressing Room, wo sie dem einen Bandmitglied, das nicht zum Interview erschienen war, ohne große Umschweife klarmachte, was sie davon hielt. Seine Antwort, dass er seine Gitarren hatte stimmen wollen, nahm ihm keiner ab und im Nu hatten sich die Gemüter erhitzt, und dann flogen die Fetzen. Joe Gutch, der Gitarrist, der dem Interview ferngeblieben war, wurde zu Boden geschleudert und knallte mit dem Kopf voll gegen die Tür, was Peter Rüchel, der sich im Korridor aufhielt, im ersten Moment davon abhielt, sich in das Zimmer zu stürzen. Als er ihnen dann erklärt hatte, dass er sie nicht auf die Bühne lassen würde, wenn sie sich nicht zusammennähmen, folgte eins der besten Konzerte, die der Rockpalast je zustande gebracht hat - aber das ist eine andere Geschichte. Sie ist teilweise auf einer Maxi-Single verewigt, die kurz danach erschien und unter anderem Live-Versionen von Lou Reeds »Rock'n'Roll« und The Doors‘ »Soul Kitchen« sowie Teile aus dem, was später als »The Legendary Full Moon Concert« bekannt wurde, enthält.

 

John Cales Vorstellung letzte Nacht hatte mit dem Mond wohl weniger zu tun, war aber mindestens ebenso legendär wie die von Mitch Ryder. Es war eins der eindrucksvollsten Konzerte, die ich je erlebt habe. Nie zuvor habe ich bessere Versionen von Elvis Presleys »Heartbreak Hotel« oder Lou Reeds »Waiting For The Man« gehört, auch nicht von John Cale selber. Gestern nacht sprach die Musik wirklich für sich selbst; sie machte mich im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos, und manchmal schimmerte etwas durch, was über die Grenzen der Musik hinausging. Sie war wirklich transzendental. Die Intensität der Musik war ein direkter Ausdruck der Qualen, die sich in John Cales Vorstellung niederschlugen. Der Höhepunkt kam am Ende von »Waiting For The Man«. Während des ganzen Songs starrte mir Cale in die Augen, hielt mich mit seinem Blick gefangen und bedrohte mich mit jedem einzelnen seiner verrückten Gedanken. Ich saß ihm gegenüber, und da ich der einzige Mensch außer ihm im Studio war, blieb mir gar nichts anderes übrig, als zurückzustarren, als sein Spiegel zu fungieren - und wie zwei Spiegel, die sich gegenüberstehen, reflektierten wir uns tausendfach, und unsere Blicke lösten sich erst dann voneinander, als das Stück lange vorbei war. Es endete unter Tränen, besser gesagt, in Schluchzen. Ich weiß nicht, ob Cale tatsächlich weinte, denn nach dem letzten Akkord auf dem Flügel duckte er sich und verschwand hinter ihm, so dass ich ihn nicht länger sehen konnte. Die Musik hing noch immer in der Luft, und während sie allmählich verebbte, ließen auch die Schluchzer nach. Es war ein sehr unheimlicher Augenblick. Ich wusste nicht, ob das auch zu seiner Vorstellung gehörte. Ich wusste nicht, ob John Cale, wie vorher Patti Smith und Mitch Ryder, mich in Gefilde zu locken versuchte, in die ich mich noch nie zuvor getraut hatte. Ich fragte mich, ob er sich insgeheim ins Fäustchen lachte, auf meine Kosten.

Auf die Idee zu applaudieren, kam ich nicht. Ich saß da wie versteinert und tat absolut nichts. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Ich war wie gebannt, wollte den Zauberspruch, mit dem Cale mich belegt hatte, nicht durchbrechen. Ich schaute in seine Richtung und wartete, und dann, ohne ein Wort zu sagen, signalisierte ich Tom, dem Techniker dieses Programms, der nebenan im Kontrollraum saß, eine Platte aufzulegen ... Dieses Schweigen, das nur ab und zu von Cales Schluchzen unterbrochen wurde, füllte eine der verheerendsten Minuten, die ich je auf Sendung erlebt habe. Ich musste an zwei meiner Lieblingslieder denken, die beide lange Instrumental-Codas haben, und damit Gefühle ausdrücken, die weit über die Grenzen des Textes hinausgehen: Richard und Linda Thompsons »Dimming Of The Day/Dargai« und Tom Rushs »No Regrets/Rockport Sunday«. In seinem Song »Thrasher« spricht Neil Young von dem Punkt, wo das Pflaster einer Straße in Sand übergeht, und genau dieses Gefühl hatte ich: dass irgendwas dem Ende zuging und dass zugleich etwas Neues entstand, als ich dort mitten in der Nacht in meinem Studio saß, einer seltsamen Totenstille gegenüber.

Ich sagte schon, dass ich mich nicht erinnern kann, worüber wir zwischen den einzelnen Stücken sprachen, aber das, was gesagt wurde, während die Platten liefen, ist was anderes. Wir hatten kein ausgearbeitetes Konzept, was den Verlauf der Sendung betraf, und so ergab sich manches aus der Situation heraus. An Ideen mangelte es uns nie, die meisten wurden jedoch gleich wieder verworfen, und das lag nicht etwa an mir, sondern an ihm selbst. Einmal meinte er zum Beispiel, dass er den Text von einem der Stücke auf Bob Dylans neuem Album »Infidels« zu seinem eigenen Instrumentalstück »John Milton« aus »The Academy In Peril« rezitieren wollte. Ich ging also pflichtschuldigst nach nebenan, um die Platte aufzulegen, aber als ich ins Studio zurückkam, hatte er sein ganzes Vorhaben schon wieder vergessen. »Was machen wir jetzt?« fragte er, sichtlich in Panik. »Ich dachte, du wolltest Dylan rezitieren«, antwortete ich. »Was!« Er sah mich an, als wäre ich total übergeschnappt. »Das kann ich nicht machen, nein, das kommt gar nicht in Frage. Wir müssen uns was anderes ausdenken.« Was er dann allerdings vorschlug, gehörte nicht unbedingt zu seinen Glanzideen. Wir hatten ein Exemplar von Will Powers‘ Album »Dancing For Mental Health« dabei, auf dessen Innenhülle eine ziemlich lange Liste von Leuten abgedruckt war, die Will Powers unterstützt hatten. Cale fiel nichts Besseres ein, als am Piano zu improvisieren und dazu die Liste der Namen runterzusingen. Ich hatte keine andere Wahl, als ihn gewähren zu lassen. Das Resultat war hanebüchen, und nach dem sechsten Namen unterbrach ich ihn, um ihm das zu sagen. So schnell, wie er die Idee aufgegriffen hatte, ließ er sie auch wieder fallen und zuckte nur die Achseln.

Dies brachte Johns Frau Rise, die bis dahin geduldig im Kontrollraum gesessen hatte, dazu, ins Studio rüberzukommen und John davon in Kenntnis zu setzen, dass er gerade dabei war, seine Karriere zu ruinieren, und dass, wenn er sich nicht zusammenriss, er am nächsten Morgen wahrscheinlich ziemlich dumm aus der Wäsche gucken würde - irgendwas in der Art. Ich glaube aber, dass es alles in allem doch die Mühe wert war, denn die Tiefpunkte der Sendung wurden von mehreren Höhepunkten aufgewogen, und zwar so, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte. Das Interview war ein Desaster, die Musik war ein Triumph.

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