Handbuch Arzthaftungsrecht

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d) Problematik des Einzelfalls

284

Die Wertung des Urteils des Landgerichts Augsburg vom 30.9.2004[254] macht für den Bereich des Strafrechts, aber parallel aber auch das Zivilrecht exemplarisch deutlich, wie sich die Risikoerhöhung des zivil- und strafrechtlichen Risikos der beteiligten Ärzte gerade für den fachfremd tätigen Arzt, aber auch für den letztlich Organisationsverantwortlichen Behandler auswirken kann.

285

Im Urteil des Landgerichts Augsburg war der fachübergreifende Einsatz eines Assistenzarztes im Bereitschaftsdienst zum Thema der gerichtlichen Überprüfung geworden.

286

Im Rahmen des fachübergreifenden Bereitschaftsdienstes, der von den Geschäftsführern der betreffenden Einrichtung befürwortet worden war, hatte der diensthabende Internist eine 64-jährige Patientin nach einer Schilddrüsenoperation mit einem chirurgischen Problem zu behandeln. Ihm war aufgefallen, dass die Patientin nach der Schilddrüsenoperation nicht stabil war. Bis zum Abend waren 500 ml Blut in mehrfach gewechselte Drainageflaschen abgelaufen.

287

Schließlich kam es im weiteren Verlauf zu einer akuten Entwicklung, die Patientin rang nach Luft, war dem Ersticken nahe und der Internist intubierte schließlich, wobei versehentlich die Speiseröhre intubiert wurde. Es folgte ein Herzstillstand mit Reanimationsversuchen über 24 Minuten mit der Folge eines hypoxischen Hirnschadens, aufgrund dessen sich die Patientin in dauerhaftem Wachkoma befand.

288

Das Tätigwerden des Internisten wurde von einem Chirurgen begutachtet, der eine sofortige fachärztliche chirurgische Behandlung für erforderlich gehalten hätte. Es war eine Blutung aus der Arteria thyroidea superior aufgetreten, die das Schilddrüsenbett und auch die Trachea eingeengt hatte. Durch die Larynxschwellung war es zu einer Druckerhöhung der Luftröhre gekommen, die aus Sicht des Chirurgen schon deshalb einen sofortigen „Großalarm“ hätte auslösen müssen, da Blutungen im Schilddrüsenbett grundsätzlich umgehend als revisionsbedürftig angesehen werden. Wegen der Druckerhöhung auf die Luftröhre, der Larynxschwellung und der Gefahr des Erstickens wäre – so der fachfremde Gutachter – eine augenblickliche Intubation erforderlich gewesen, um der Kompression der Trachea entgegen zu wirken.

289

Die Problematik im vorliegenden Fall fokussiert sich auf die Frage, inwieweit ein fachfremd eingesetzter Arzt in einer derartigen Notfallsituation die Notwendigkeit eines sofortigen Eingreifens bzw. seine Überforderung überhaupt erkennen kann. Da sich der fachfremd tätige Arzt grundsätzlich auf ein für ihn fremdes Fachgebiet begibt, muss er sich im Haftungsfall ggf. nach dem fachfremden – hier chirurgischen – Standard messen lassen. Der Einsatz von fachfremden Ärzten gerade in Notfallsituationen stellt letztlich keine Tätigkeit dar, die mit „Anfängerwissen“ oder dem studiennahen Grundwissen bewältigt werden kann, sondern birgt fachspezifische Gefahren, zu deren Erkennung der fachfremd tätige Arzt gerade wegen seiner Fachfremdheit häufig überhaupt nicht in der Lage ist.

290

Ungeachtet dessen ist im Urteil des Landgerichts Augsburg vom 30.9.2004 bezüglich des fachfremd arbeitenden Assistenzarztes von einem Augenblicksversagen in der Krisensituation ausgegangen worden. Zusätzlich wurde ein Übernahmeverschulden des Assistenzarztes angenommen, da er sich dem fachübergreifenden Bereitschaftsdienst nicht verweigert habe. Zu dieser Wertung war das Landgericht Augsburg ungeachtet der arbeitsrechtlich relevanten Weisungsgebundenheit des fachfremd eingesetzten Arztes gekommen, was durchaus zu denken gibt. Gerade wegen der Weisungsgebundenheit wurde dann aber auch das Verfahren gem. § 153a StPO gegen eine Geldauflage von 3.000 € eingestellt, da die Weisungsgebundenheit des Assistenten auf dieser Ebene dann doch berücksichtigt werden sollte.

291

Bei den Geschäftsführern wurde keine Haftung angenommen, da ihnen die besonderen medizinischen Gefahren bei fachübergreifendem Bereitschaftsdienst – bezogen auf den Einzelfall – nicht bewusst gewesen seien. Für den Chefarzt der Chirurgie sei es aber absehbar gewesen, dass ein fachfremder Arzt das Auftreten einer solchen Blutung unter Bedingungen wie den hier gegebenen verkennen könne, was zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen bei einer Strafbarkeit gem. § 229 StGB geführt hatte.

292

Der Fall macht deutlich, dass bei straf- und zivilrechtlicher Wertung erhebliche Haftungsrisiken für den fachfremd tätig eingesetzten Arzt, aber auch für die jeweilige Organisationsverantwortlichen bei Modellen wie dem fachübergreifenden Bereitschaftsdienst bestehen. Die rechtliche Bewertung spiegelt die Problematik der „Schnittstellen“ in besonderer Weise wider. Bei Zusammenarbeit von Ärzten verschiedener Fachrichtungen, aber auch in den „Übergabesituationen“ ist besondere Sorgfalt nötig, um sicherstellen zu können, dass Informationen weitergegeben und auch verstanden werden. Bei Einsatz von unerfahreneren Mitarbeitern bestehen weiter gesteigerte Sorgfaltsanforderungen.

e) Mögliche Risikominimierung

293

Würde man im Wege eines „Risikomanagements“ an die Risikoreduktion in derart problemträchtigen Konstellationen denken, müssten die beteiligten Ärzte umfassend in die jeweiligen Bereiche eingearbeitet werden, es würde eine entsprechende Unterweisung in Einzelfällen erforderlich werden und es wäre eine verstärkte Dienstaufsicht, insbesondere bei Anfängern zu implementieren:


In Dienstanweisungen müssten genaue Angaben zu Kommunikationswegen und Prioritäten angegeben werden.
Generell müssten die organisierenden Ärzte ausführliche schriftliche Anweisungen erstellen, in denen beschrieben wird, bei welchen medizinischen Indikationen der fachärztliche Hintergrunddienst unverzüglich zu verständigen ist und welche Verfahrensschritte bei definierten Symptomen einzuhalten wären.
Bei Defiziten einzelner Mitarbeiter wären zudem geeignete Qualifikationsmaßnahmen zu ergreifen, wobei der Arzt bis zur Behebung der Defizite von der Teilnahme am fachübergreifenden Bereitschaftsdienst ausgeschlossen werden müsste.
Zudem müssten durch die organisierten Ärzte regelmäßige Besprechungen mit den fachübergreifend eingesetzten Ärzten geführt werden, bei denen sich der organisierende und verantwortliche Arzt ein Bild vom Kenntnisstand der jeweiligen Mitarbeiter machen könnte.
Bei der Übergabe müsste sich der übergebende Arzt vergewissern, dass der im Bereitschaftsdienst tätige Kollege kritische Verläufe beim Patienten erkennen und gegebenenfalls Sofortmaßnahmen einleiten kann. Darüber hinaus müsste der verantwortlich organisierende Arzt im Nachhinein getroffene Maßnahmen regelmäßig auf ihre Angemessenheit hin prüfen und Auswertungsgespräche mit den betreffenden Ärzten durchführen.
Für Berufsanfänger müssten besondere qualifizierende Maßnahmen implementiert werden, die zur Überprüfung des Wissensstandes dienen.
Im Fall des fachübergreifenden Bereitschaftsdienstes müsste darüber hinaus ein doppelt besetzter Hintergrunddienst organisiert werden, der eine räumlich und zeitlich kurzfristige Interaktion und ein Eingreifen der (wohl schon im Krankenhaus befindlichen) Hintergrundärzte ermöglichen würde.

294

Am Beispiel des fachübergreifenden Bereitschaftsdienstes wird deutlich, welche erheblichen Vorbeuge- und Organisationsmaßnahmen erforderlich sind, um eine Risikominimierung bei Zusammenarbeit fachfremder Ärzte zu gewährleisten. Gerade das Beispiel des fachübergreifenden Bereitschaftsdienstes macht deutlich, dass im Schnittstellenbereich erhöhte Sorgfalts- und Überwachungsmaßnahmen erforderlich sind, um die damit einhergehenden Risiken minimieren zu können.

VI. Geburtsschadensrecht: Haftung des Geburtshelfers

1. Gründe für die Zunahme von Arzthaftungsfällen

295

Die Zahl der geburtsassoziierten mütterlichen und kindlichen Todesfälle in Deutschland, wie auch in den meisten anderen westlichen Industrienationen, hat einen historischen Tiefststand erreicht.[255]

296

Die Zahl der arzthaftungsrechtlichen Auseinandersetzungen, speziell auf dem Gebiet der Geburtshilfe, hat vermeintlich zugenommen. Valide, bzw. sichere Daten liegen hierzu jedoch nicht vor, da die Justiz insoweit keine offiziellen Statistiken publiziert bzw. erarbeitet.

a) „Prinzessin-auf-der-Erbse-Syndrom“

297

Der allgemeine Anstieg von Arzthaftungsfällen und haftungsrechtlichen Auseinandersetzungen im Medizinrecht wird wie folgt erklärt:

 

Zum einen wird kulturkritisch beschrieben, dass die Ursache für die Zunahme der Arzthaftungsfälle im Wesentlichen bei den Patienten zu sehen sei. Es gebe eine heute weit verbreitete Tendenz, allgemeine Lebensrisiken nicht mehr als solche zu akzeptieren. Es wird überspitzt und plastisch formuliert: „Wir leben im Zeitalter der übermäßigen, nämlich der absoluten Ansprüche: und absolute Ansprüche – auch und gerade die an die Medizin – können nur enttäuscht werden“[256].

298

Marquard behauptete, dass in der modernen Gesellschaft ein „Prinzessin-auf-der-Erbse-Syndrom“ bestehe. Je besser es den Menschen gehe, desto schlechter fänden sie das, wodurch es ihnen bessergehe. Je mehr Krankheiten die Medizin besiege, desto stärker werde die Neigung, die Medizin selber zur Krankheit zu erklären. Je mehr Unheil durch ihre Fortschritte gelindert werde, desto mehr würden ihre Fortschritte selbst als Unheil erfahren. Die Zunahme von Arzthaftungsfällen kann also als Symptom einer „gesellschaftlichen Krankheit“ gesehen werden.

b) Anwaltliche Erklärungen

299

Will man eine derartige Kulturkritik nicht akzeptieren, sie zumindest kritisch reflektieren, so bedarf es der Klarstellung, welche Gründe für die Zunahme von Arzthaftungsfällen verantwortlich sein können. Diese Gründe liegen für den anwaltlichen Praktiker auf der Hand:

aa) Wandel im Medizinrecht

300

Sicherlich sind zu allen Zeiten Ärzten Fehler mit schwerwiegenden Folgen unterlaufen, zu früheren Zeiten eher mehr als heute. Aus Patientensicht musste jedoch früher die Erhebung von Klagen wegen solcher Fehler als fast aussichtslos angesehen werden. Insoweit ist ein grundlegender und unumkehrbarer Wandel eingetreten.

301

Hierfür ist zum einen maßgeblich, dass der Standard der ärztlichen Behandlung, d.h. der Maßstab, an dem sich jede Behandlung messen lassen muss, heute auf allen Gebieten deutlicher definiert ist als früher.

302

Anders ausgedrückt: Ein wesentliches Ergebnis des medizinischen Fortschritts besteht auch darin, dass die dem Arzt zur Verfügung stehenden Ermessensspielräume erheblich eingeengt sind. Was unter guter ärztlicher Praxis zu verstehen ist, ist heute in einer Vielzahl von Behandlungsrichtlinien definiert. Weicht ein Arzt von diesem Standard ab, so ist er zumindest gehalten, hierfür eine plausible Begründung zu geben.[257]

bb) „Dr. Google“

303

Daneben ist in der Gesellschaft das medizinische Wissen weiterverbreitet als früher. Die Medizin ist keine Geheimwissenschaft mehr. Auch Laien ist heute medizinisches Wissen zugänglich; im Zweifel befragt der Patient gleichfalls „Dr. Google“.

cc) Patientenschutzorganisationen

304

Eine moderne Entwicklung ist naturgemäß auch die Bildung von Patientenschutzorganisationen, die in der Lage sind, Patienten Hinweise auf die von ihnen zu beschreitenden Wege zu geben. Hierzu hat auch das Patientenrechtegesetz beigetragen. Daneben ist auch heutzutage die Beurteilung des medizinischen Sachverhalts durch Privatgutachten deutlich einfacher als früher. Nicht unberücksichtigt bleiben kann naturgemäß auch die Rolle der Rechtsschutzversicherungen. Auch wenn insoweit der Deutsche Anwaltsverein immer wieder darauf hingewiesen hat, dass die Existenz von Rechtsschutzversicherern nicht der entscheidungsrelevante Aspekt für das Führen eines Rechtsstreits darstellt, macht die Existenz von Rechtsschutzversicherungen zum Teil erst möglich, Prozessrisiken einzugehen, die ansonsten untragbar wären.

c) Risiko- und Fehlerkultur

305

Richtig bleibt, dass in der Gesellschaft zunehmend weniger Bereitschaft besteht, die aus einer ärztlichen Behandlung resultierenden Risiken ebenso wie das allgegenwärtige Krankheitsrisiko ohne jeden Zweifel hinzunehmen und als Schicksal zu akzeptieren. Wie dieses Phänomen zu bewerten ist, ist noch nicht abschließend ausgemacht. Hierauf wird zurückzukommen sein.

2. Zum Paradigmenwechsel im Bereich der Geburtshilfe

306

Die moderne Geburtshilfe ist von der Diskussion um die Aufklärung der werdenden Mutter und die Indikation zur Sectio geprägt. Seit vielen Jahren wird diese Auseinandersetzung in medizinischen sowie medizin-juristischen und naturgemäß auch medizin-ethischen Bereichen sehr kontrovers und emotional geführt.

307

Aus medizinischer Sicht ist dabei ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel von der befundorientierten Geburtshilfe zur präventiven bzw. prospektiven Geburtsmedizin festzustellen.[258]

308

Die Sectio in der deutschen Geburtshilfe ist heute nicht mehr nur eine Notmaßnahme zur Rettung der Mutter oder zum Abwenden einer tödlichen Bedrohung für Mutter und Kind, sondern „großzügige, präventive Indikationsstellungen sind gefragt“[259].

309

Diese neue Einstellung zur Sectioindikation in der Geburtshilfe ist zusammen mit der zwischenzeitlich erreichten niedrigen Sectiomortalität und -morbidität ein wesentlicher Grund für die vielfach diskutierte (und auch kritisierte) Steigerung der Sectiorate in Deutschland auf ca. 30 %[260]. Der Kaiserschnitt kann eindeutig nicht mehr als „gefährliche Operation“ eingestuft werden.[261]

310

Während medizinhistorisch eine niedrige Kaiserschnittrate zunächst Ausdruck eines hohen geburtshilflichen Leistungsstandards der Klinik gewesen ist und sich in einer Sectio das „Versagen des geburtshilflichen Teams manifestierte“[262], hat sich der geburtshilfliche Fokus verstärkt auf bisher weniger beachtete mütterliche und kindliche Risiken der vaginalen Geburt gerichtet.

311

Die Risikoorientierung in der Geburtshilfe konzentriert sich nunmehr präventiv mehr auf das ungeborene Kind. Der Trend geht dahin, dass die „Medizin der Mutter zur Medizin des Kindes“[263] geworden ist.

312

Das medizinzentrierte Risikoverständnis im Sinne einer Präventionsgeburtshilfe und die Anerkennung des Ungeborenen als potentiellen Patienten[264] wird kritisiert als technisch ausgerichtete Medikalisierung der normalen Geburt und Pathologisierung des weiblichen Körpers[265]. So ist der Katalog der diagnostischen Maßnahmen während der Schwangerschaft/Geburt ständig erweitert, die Schwangerschaftsrisiken auf nunmehr 52 Befunde erhöht und in der Geburtshilfe eine Fokussierung auf medizinisch-technische, apparative und zunehmend invasive Interventionen erfolgt.[266]

313

Parallel hierzu zeigt sich, dass der Patientinnenwille zunehmend relevant für die (medizinische) Entscheidungsfindung des Geburtshelfers geworden ist. Das Selbstverständnis des Geburtshelfers trifft hier auf die Autonomie der Frau in einem „konfliktbelasteten Handlungsfeld“[267].

314

Einerseits wird hierbei strapaziert, dass die Entscheidung über den Geburtsmodus alleine durch die Mutter zu treffen sei und eine Bevormundung totalitär wäre.[268] Es wird resümiert, dass der mütterliche Wunsch als Indikation zu beachten sei und die Akzeptanz des Willens der Frauen hinsichtlich der Geburt die „richtige Entwicklung“[269] ist.

315

Die Patientinnenautonomie wird also nicht mehr nur als ein negatives Abwehrrecht gegen ungewollte Behandlungen gesehen, sondern auch als Grundlage für ein positives Anspruchsrecht formuliert.[270] Für die Schwangere muss es demnach möglich sein, zwischen den Risiken, die sie bereit ist zu tragen, zu wählen und dementsprechend auch den Wunsch nach einer Sectio zu äußern.[271] Der Wunsch als ein ernsthaftes Motiv für eine Handlung wird als wesentlicher Teil menschlicher Autonomie beschrieben.[272]

316

Andererseits wird gegengehalten, dass das Selbstbestimmungsrecht jedoch eine „natürliche Wahlfreiheit“[273] voraussetze; naturgemäß habe die Schwangere aber gerade diese Wahlfreiheit nicht, da die vaginale Spontangeburt ein natürlicher Vorgang sei.[274] Indes wird hiergegen wieder eingebracht, dass die Autonomie der Gebärenden nicht dadurch irrelevant würde, weil es sich bei der Geburt eines Kindes um ein naturkausales Ereignis handele.[275]

317

Aus medizinischer und medizin-ethischer Sicht stehen somit die Medikalisierung und Technisierung in der klinischen Geburtshilfe einer Idealisierung sowie Ideologisierung der Geburt als natürlichem Vorgang gegenüber.

318

Es wird kritisiert, dass die Geburtsmedizin sich vom klassischen, abwartenden, „den Kräften der Natur vertrauenden Beistehen“[276] zu einer Pathologisierung der Geburt mit einer „Entkörperung der Frau durch den Verlust des Wissens vom Gebärenkönnen“[277] entwickelt habe. Grundsätzlich wird angeführt, dass körperliche Umbruchphasen in der Medizin nicht mehr als natürliche Lebensphasen wahrgenommen würden.[278]

319

Das Argument der „Natürlichkeit“ wird mithin angeführt, um die beschriebene „Medikalisierung“ der Entbindung zu kritisieren bzw. zurückzudrängen. Überzogen wird formuliert, die Frauen könnten es, man lasse sie nur nicht; dieses sei das Handikap in der modernen Geburtshilfe, welche die Geburt und die Schwangerschaft zu einer Risikoaffäre machen würde.[279] Dabei wird insbesondere betont, dass die medizinisch definierten Risikofaktoren erhebliche Sensitivitäts- und Spezifitätsmängel aufweisen, d.h. ex post die Risikogeburt gerade die Ausnahme und nicht die Regel sei.[280]

320

Die Diskussionen um die Sectioindikation sowie insbesondere die Begründung einer elektiven Sectio oder Wunschsectio verdeutlichen zum einen die Relevanz des medizinischen Fortschritts für die Entscheidungsfindung des Arztes.

321

Grundsätzlich gerät die Medizin aufgrund des medizinischen Fortschritts sowie wegen neuer Handlungsoptionen unter einen erheblichen Veränderungsdruck, ggf. Anspruchsdruck.[281] Die Faktizität des (medizinisch) Machbaren ist dabei mächtiger handlungsleitender Impuls; das Verhältnis von Theorie und Praxis entspricht damit in der modernen Medizin einem „technischen Zirkel“.[282]

322

Im Bereich der Geburtshilfe bedeutet dies konkret, dass das Argument der mütterlichen Sectioletalität aufgrund des medizinischen Fortschritts immer mehr an Bedeutung verloren hat, während das Risiko für das Kind bei vaginaler Geburt weiterhin größer ist.[283]

323

Aus medizinischer Sicht hat der Kaiserschnitt also seinen ganz großen Schrecken verloren.[284] Zum anderen zeigt sich in den Diskussionen um die Sectioindikation und Aufklärung der werdenden Mutter, dass der Patientinnenwillen deshalb relevanter wird, weil die Entscheidungen in der Geburtshilfe nicht mehr ausschließlich und abschließend nur noch medizinisch und allein vom Geburtshelfer zu treffen sind. Nichtmedizinische Kriterien werden grundsätzlich entscheidungsrelevanter, da eben die Entscheidungen nicht mehr wesentlich oder ausschließlich von medizinischen Kriterien abhängen; die moralische Autarkie der Medizin ist verloren gegangen.[285]

324

Allgemein wird konstatiert, dass der moralische Pluralismus einer der Gründe für die Aberkennung eines ärztlichen Primats in moralischen Fragen sei und daher ein Verlust moralischer Autorität und Unanfechtbarkeit von Ärzten allein Kraft ihrer Profession festzustellen ist.[286]

325

Pointiert stellen Husslein/Langer[287] mit Hinweis auf Vieth fest: „Der Arzt ist kompetent für die Diagnose und Behandlung. Die Patientin ist kompetent für ihr Wertesystem und verantwortlich für ihre Lebensgestaltung.“ Der Arzt besitze zwar die medizinische Kompetenz. Er müsse aber akzeptieren, dass sein Gegenüber, die Schwangere, auch eine Kompetenz hat. Nämlich die Kompetenz ihres eigenen Wertesystems. Sie sei verantwortlich für ihre eigene Lebensgestaltung. Es müsse das Recht jeder Frau sein, sich nach der Information über die einzelnen Risiken für alternative Behandlungsmöglichkeiten zu entscheiden.[288]

326

 

Auffällig und exemplarisch ist bei den Diskussionen um die elektive Sectio und Selbstbestimmtheit der Patientinnen die Position der Hebammengeburtshilfe, die einerseits die Geburt mystisch überhöht und ritualisiert und dennoch gleichzeitig die Fremdbestimmung durch die Medikalisierung kritisiert. Die elektive Sectio greift dabei ein zentrales Paradigma der Hebammen an, dass nämlich Schwangerschaft und Geburt physiologische Prozesse sind, die ohne Eingriffe von außen ablaufen sollten, solange es keine spezifische (medizinische) Indikationen dafür gibt. Die steigende Sectiorate wird dabei als Infragestellung von Hebammenarbeit interpretiert[289] und die „Schneidewut“ [290] mit dem fehlenden Vertrauen in die physiologischen Ressourcen der Frauen und Kinder und die Ignoranz gegenüber den physiologischen Geburtsprozessen erklärt.[291]

327

Gesprochen wird davon, dass in den letzten Jahrzehnten die Frauen immer weiter von ihren „Geburtsinstinkten entfremdet“ [292] und die „Kaiserschnittmütter“ die gesamte Verantwortung und Schuld für die „gescheiterte Geburt“ auf sich nehmen würden.[293] Die Idealisierung der Geburt[294] mündet in der Schlussfolgerung, dass es sich bei einigen Frauen um eine vulnerable Gruppe handeln würde, die statt eines Wunschkaiserschnittes besser eine psychologische Begleitung erhalten sollte.[295] De Jong/Kemmler[296] gehen soweit, zu diskutieren, ob Frauen, die Opfer sexualisierter Gewalt waren, ihre Verletzungen mit der Geburt eines Kindes überwinden könnten und daher eine Vaginalgeburt so etwas wie eine Therapie wäre.

328

Obwohl vorgetragen wird, dass gerade die Sectio der Frau die Möglichkeit nehmen würde, eine selbstbestimmte Geburt zu gestalten[297], wird nicht anerkannt, dass die Selbstbestimmung der Frau als erklärtes Ziel von Hebammenarbeit auch darin münden kann, dass sich die Frau selbstbestimmt für einen Kaiserschnitt entscheiden kann. Drastisch wird gefordert, dass nicht die künstliche Geburt mittels Kaiserschnitt unethisch zu sein scheint, sondern vielmehr den Menschen die Freiheit zu nehmen, darüber zu bestimmen.[298] Wenn die Geburt per Kaiserschnitt den Idealen der Hebammen entgegensteht, so wird dennoch nicht akzeptiert, dass sich die Frau bei einem Kaiserschnitt selbstbestimmt für eine fremdbestimmte Geburt[299] entscheidet.

329

Es ist zu beobachten, dass die Diskussion um die Sectio und Selbstbestimmtheit der Patientin sehr ideologisch geführt und das Thema Geburt „mystisch und ideologisch besetzt“[300] wird.

330

Es ist inzwischen ausdiskutiert, dass die Wunschsectio (definiert i.S. einer Sectio ohne jedwede medizinische Indikation) medizin-juristisch zulässig ist.[301] In diesem Zusammenhang ist deutlich hervorzuheben, dass die vorab definierte Wunschsectio als Sectio ohne jedweden medizinischen Grund statistisch mit ca. 2–3 %[302] nicht praxisrelevant ist und eher ein Medien- und Diskussionsphänomen darstellt.

331

Aus medizinischer, medizin-juristischer und medizin-ethischer Sicht ist festzuhalten, dass aufgrund der veränderten Entscheidungssituationen in der Geburtshilfe mit weichen und präventiven Indikationsstellungen für die Sectio ein optimales und individuelles Gebären eingefordert wird. In einem persönlichkeitsspezifischen Geburtsereignis kann sich die Selbstbestimmung verwirklichen und die zu Grunde liegende Autonomie der Frau gewahrt sein.[303]

332

Die Indikation und Aufklärung zur Sectio belegen, dass die medizinische, medizin-juristische und medizin-ethische Diskussion weiter im Gang ist, jedoch naturgemäß durch die verschiedenen Bereiche Medizin, Ethik und Recht beeinflusst ist.

333

Der Paradigmenwechsel in der geburtshilflichen Medizin ist entsprechend der individuellen Grundhaltung des Arztes emotional belegt[304] und die medizinische sowie ethische Debatte auch in nicht medizinischen Zirkeln „ideologiebefrachtet“[305].

334

Es wird resümiert, dass es insoweit keine richtige und keine falsche Art zu gebären gibt, sondern immer nur eine der jeweiligen Zeit und dem jeweiligen Entwicklungsstand angemessene.[306] Es muss eine mit der Patientin und je nach ihren Bedürfnissen flexibel passende Form ausgewählt werden; die geburtshilfliche Arbeit sollte dabei „bedürfnisorientiert, persönlichkeitszentriert und nicht ideologiebezogen gestaltet werden“.[307]