Der Schattendoktor

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»Alice«, sagte er, »ich würde sehr gerne William kennenlernen, wenn das möglich ist.«

Mein Sicherheitsschlüssel steckte schon im Schloss, als er das sagte. Ich erstarrte. William war nicht da. William war tot. Ich hatte diesen Mann, der sich Doc nannte, angelogen.

Egal. Irgendeine knappe Ausrede. Das Essen steht bestimmt schon auf dem Tisch. Ein anderes Mal vielleicht. Sehr nett von Ihnen, dass Sie mich nach Hause begleitet haben. Irgend so etwas.

»Ja, das wäre nett. Kommen Sie herein, und ich stelle Sie William vor. Es ist reichlich zu essen da, genug für zwei.«

Nachdem wir ein paar Minuten später unsere nassen Sachen in der Diele deponiert hatten, führte ich ihn ins Wohnzimmer und bot ihm den größeren Sessel an, den unter dem Kunstdruck, den Du so magst. Du weißt schon, den mit dem Titel »Freunde«, mit zwei Männern, die nebeneinandersitzen und ein bisschen nervös dreinschauen, aber immerhin bereit sind, sich malen zu lassen. Du hast ihn natürlich inzwischen geerbt, nicht wahr, Jack? Was für ein schöner Gedanke, dass ein Bild, das William sehr liebte, jetzt an einer Wand in Deinem Haus hängt.

Ich plappere so, weil es mir peinlich ist, was ich Dir jetzt zu erzählen habe. Ich will beschreiben, was mein Gast gesehen haben muss, als er auf diesem Sessel Platz nahm und sich umschaute. Am hinteren Ende des Zimmers war mein Tisch mit den ausklappbaren Beinen, an dem Du und ich manchmal gesessen haben, fürs Abendessen gedeckt. Es waren zwei Gedecke da. Zwei Tischsets, zwei Weingläser, zwei Wassergläser, zwei kleine Teller und zwei bestickte Servietten, die in den schönen alten silbernen Serviettenringen von meiner Mutter steckten. Auf dem Tischset gegenüber der Küchenluke stand, dem anderen Platz zugewandt, ein Foto. Es war ein Porträt von William, das ein paar Jahre vor seinem Tod aufgenommen worden war. Kurz bevor er sich auf den Weg in die Stadt machte, um dieses Foto machen zu lassen, lachten wir noch darüber, dass ich ihn gebeten hatte, so zu tun, als lächelte er mich an, wenn der Fotograf auf den Auslöser drückte. Ich glaube wirklich, das hat er getan. Alles, was mein Mann mir bedeutet hat, steckte in diesem Bild.

Während dieses ganzen elenden Januars hatte ich mir angewöhnt, jeden Abend den Tisch für William und mich zu decken. Während ich das Essen vorbereitete, plauderte ich mit ihm durch die Luke, und dann unterhielt ich mich mit ihm, während ich aß, und genoss es, dass er mir dort gegenübersaß und mir lächelnd zuhörte. Jämmerlich, nicht wahr, Jack? Eine dumme alte Glucke, die sich selbst Theater vorspielt, um eine Lücke in ihrem Leben auszufüllen.

Ich glaube, mein Gast wusste sofort, was los war. Ich hatte sogar das Gefühl, er wusste es schon, bevor er durch meine Tür trat. Ein paar Minuten lang saß er einfach nur da auf dem Sessel, das Kinn auf seine verschränkten Finger gestützt, und wartete darauf, dass ich etwas sagte. Ich kam mir vor wie ein kleines Mädchen, als ich da neben dem Tisch stand und nervös mit den Fingern meiner einen Hand auf die andere Handfläche trommelte.

»William ist schon lange gestorben«, brachte ich schließlich stotternd heraus. »Ich wohne allein hier.«

Er nickte lächelnd und sagte ganz freundlich: »Das dachte ich mir irgendwie schon, Alice.«

»Wie habe ich mich verraten?«

Er lächelte traurig. »Keine großartige Detektivleistung, fürchte ich. Sie sagten, es sei genug zu essen für zwei da. Also …«

»Ach du meine Güte, ja, wie dumm.«

»Was ich rätselhafter finde, Alice, ist, wieso Sie mich überhaupt hereingebeten haben.«

Jack, weißt Du, was ich meine, wenn ich sage, dass man sich manchmal einen Moment Zeit nehmen muss, um ganz tief im eigenen Innern herumzuwühlen und die nackte Wahrheit zum Vorschein zu bringen? Selbst wenn sich dann herausstellt, dass es etwas ist, was man eigentlich gar nicht laut aussprechen will? So ging es mir, als er mir diese Frage stellte.

»Nun ja – schauen Sie, ich möchte wirklich nicht, dass Sie falsch verstehen, was ich jetzt sage – äh, ich soll Sie Doc nennen, sagten Sie?«

»Ja, Doc ist gut.«

»Okay. Also, es ist so – Doc. Obwohl ich Sie erst seit einer halben Stunde kenne, möchte ich … möchte ich, dass Sie mich für eine Person halten, die Ihnen die Wahrheit sagt. Ich weiß, bisher spricht die Bilanz eher gegen mich. Ich habe da unten am Strand einen ganz schlechten Anfang gemacht, aber wissen Sie, das wollte ich wiedergutmachen. Oje, hört sich das sehr dumm an? Schließlich gibt es ja eigentlich gar keinen Grund, warum Sie …«

»Was gibt es zum Abendessen, Alice?«

Mein Gehirn schaltete mit Doppelkuppeln in einen anderen Gang. (Das sagt Dir jetzt wahrscheinlich nichts, aber ich habe keine Lust, es Dir zu erklären.)

»Was? Ach ja, natürlich. Mögen Sie überbackenen Käsetoast mit Speck?«

»Hört sich großartig an.«

»Gut, dann, äh, räume ich nur schnell William ab, ja?«

Wir mussten beide lächeln, als ich das sagte. Es war, als platzte eine kleine Blase. Durch die Luke und dann am Tisch beim Essen plapperte ich unentwegt über mein Leben, meine Ehe, über Dich, meine chronische Einsamkeit, und dann, als wir es uns auf den Sesseln bequem gemacht hatten, an Schokosticks knabberten und einen ziemlich anregenden äthiopischen Kaffee tranken, erzählte ich ihm von meinem Entschluss, mich umzubringen.

»Ihr Besuch hier war eine wunderbare, unerwartete Freude für mich«, sagte ich, »aber der morgige Tag kommt, und dann der Tag danach, und der nächste und immer so weiter, vielleicht noch jahrelang. Hunderte von morgigen Tagen. Die Leute leben heute ja so lange. Ich will so viele Tage nicht mehr. Ich will nicht jeden Morgen aufwachen und den Schmerz in mir spüren, noch bevor der Radiosprecher sich warmgeredet hat.«

Ich schaute entschuldigend zu Williams Bild hinüber. »Letzten Endes kommt von so einem Foto nicht viel zurück. Wenn ich es recht betrachte, gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder bleibe ich da und leide, oder ich entscheide mich freiwillig, den Schritt in die Dunkelheit zu tun, wohin dieser Schritt mich auch immer bringen mag. Das hat nichts mit Neurosen zu tun. Ich leide nicht unter Depressionen und glaube, dass ich durchaus noch alle Hühner auf dem Balkon habe. Und ich habe meine pragmatische Entscheidung getroffen. Meinen Sie, es ist die richtige, Doc?«

Er nippte nachdenklich an seinem Kaffee, etwa so, als solle er sich zwischen Crunchy Nut Cornflakes und Kellogs entscheiden. Er sah so nett aus, wie er dort saß, Jack. Gute Kleidung, teuer, aber robust und haltbar. Eine dunkelbraune Hose aus einem Kordmaterial, ein dicker, dunkelbrauner Strickpullover, der vermutlich aus demselben Laden stammte wie sein grüner Mantel mit dem karierten Futter, der jetzt in meiner kleinen Diele am Haken hing. Die Schuhe, die er ausgezogen und auf der Fußmatte zurückgelassen hatte, als wir hereinkamen, waren mir schon vorher aufgefallen: Sie waren aus kräftigem braunem Leder, mit dicken Schnürsenkeln, mehr für den Gebrauch bestimmt als zur Zierde. Ich mochte seinen Stil.

Wie würde er jetzt auf meine Frage antworten? Eigentlich war es unfair. Was konnte der arme Mann schon sagen? Sollte er mir gute Ratschläge geben, ich möge meinen Blickwinkel weiten und mehr unter die Leute gehen? Therapie? Lebensberatung? Medikamente? Mich auf den Frühling und besseres Wetter freuen? Mich fragen, wie die Menschen, die mich liebten, mit der schrecklichen Nachricht von meinem Tod fertigwerden sollten? Das eine oder andere davon würde es sein, vermutete ich.

Doc steckte sich den Rest seines Schokosticks in den Mund und stellte seine Tasse und Untertasse vorsichtig auf dem kleinen Beistelltisch neben seinem Sessel ab.

»Alice«, sagte er ernst, »ich glaube, Sie haben sich richtig entschieden.«

Warum legen wir eigentlich immer, wenn wir überrascht und verwirrt sind, unsere Köpfe schief und recken sie nach vorn? Peinlich, wenn man sich dabei ertappt. Ich muss ausgesehen haben wie eine aufgeschreckte Schildkröte.

»Entschuldigung, wollen Sie damit sagen, Sie sind der Meinung, dass ich mich umbringen sollte?«

Er drückte seine Ellbogen gegen die Rippen und hob und senkte seine Hände abwechselnd, als wöge er die Argumente ab.

»Von den beiden Möglichkeiten, die Sie erwähnt haben, würde ich jedenfalls auch diese wählen. Den Rest Ihres Lebens im Elend fristen oder einen einfachen Schritt tun, um allem ein Ende zu machen – nun, das ist nicht gerade ein Kopf-an-Kopf-Rennen, nicht wahr? Das ist meine Meinung.«

Daraufhin saßen wir ein Weilchen nur da, ohne etwas zu sagen. Ich hatte das Gefühl, das war kein gutes Ende. Kalt. Hatte er denn nicht eine einzige tröstliche Plattitüde für mich?

Doc brach das Schweigen.

»Allerdings, Alice, gibt es noch eine andere Alternative, an die Sie vielleicht noch gar nicht gedacht haben.«

Also doch. Erleichtert sog ich Luft durch die Nase ein und bereitete mich darauf vor, seinen Vorschlägen freundlich, aber ablehnend zu begegnen.

»Und die wäre?«

Pause.

 

»Scrabble.«

Es kam mir vor wie die Pointe eines unglaublich komischen Witzes. Ich brach in unbändiges Gelächter aus und konnte gar nicht wieder aufhören zu lachen, wie ich es nicht mehr getan hatte, seit William gestorben war. Eine nervöse Reaktion wohl zum Teil, aber es war noch mehr als das. In den Tränen der Heiterkeit, die mir an diesem Abend aus den Augen flossen, muss irgendein reinigender Wirkstoff gewesen sein. So fühlte es sich an. Manchmal sagen Leute, sie seien vor Lachen umgefallen, nicht wahr? Ich hing am Ende schief über der Armlehne meines Sessels und stopfte mir ein Taschentuch in den Mund, um mich irgendwie wieder unter Gewalt zu bekommen. Äußerst blamabel.

Als ich mich ein wenig beruhigt hatte, entschuldigte ich mich, doch Doc lächelte nur und fragte: »Nun – was halten Sie von der Scrabble-Variante?«

»Tut mir leid, aber ich weiß nicht genau, wie Sie das meinen. Wollen Sie mir sagen, ich solle mich einem Scrabble-Verein anschließen oder so etwas?«

Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht, und seine Augenbrauen schossen vor Schreck in die Höhe.

»Grundgütiger, nein, Sie haben doch sowieso schon den Lebenswillen verloren. Warum alles noch schlimmer machen? Nein, ich will nur andeuten, dass Sie außer einem trostlosen Leben und der schmerzlosen Auslöschung auch noch die Wahlmöglichkeit haben, heute Abend mit mir eine Partie Scrabble zu spielen. Was halten Sie davon?«

Ich blickte nicht mehr durch, war aber seltsam fröhlich dabei. »Doc, was Sie da sagen, ergibt nicht den geringsten Sinn.«

»Na ja, einen Sinn vielleicht nicht, aber können wir trotzdem eine Runde Scrabble spielen? Ich liebe dieses Spiel. Allerdings muss ich Sie warnen. Ich bin unverschämt gut darin.«

»Ich auch. Na schön, dann spielen wir, aber wieso sind Sie so sicher, dass ich überhaupt ein Scrabble-Spiel dahabe? Oder dass ich Lust zum Spielen habe?«

»Kleinigkeit für einen genialen Detektiv wie mich. Ich sehe es ja dort in Ihrem Sekretär liegen. Andere Spiele liegen dort nicht; also vermute ich, dass Sie sich verkleinern mussten, als Sie hier eingezogen sind, und deshalb alle anderen Brettspiele, die Sie hatten, ausgemistet haben. Das Scrabble aber haben Sie behalten, weil Sie es so sehr mögen und hofften, es irgendwann wieder einmal spielen zu können.«

»Na gut, Sherlock, Sie holen das Spiel heraus, und ich räume den Tisch ab. Dann koche ich uns noch einen Kaffee. Aber warten Sie nur. Sie werden Ihr blaues Wunder erleben!«

Ach, lieber Jack, wie habe ich diese Partie Scrabble genossen! Mit einem warmherzigen, netten Mann mit etwas rauen Kanten zusammenzusitzen und ein Spiel zu spielen, das ich schon immer geliebt habe. Ein Leuchten ging von alldem aus. Und was mich begeisterte, oder eher erleichterte, war die Entdeckung, dass irgendwo in meinem Bauch immer noch die nötige Mechanik vorhanden war, um mich vor Lachen zu kugeln. Ich hatte gedacht, die wäre längst weg. Es war ein positiver Schock, dass ich sie immer noch hatte. Nicht etwa, dass ich es in diesem Moment ein Aufkeimen von Hoffnung genannt hätte, aber jetzt denke ich doch, dass es das vielleicht war.

Ich hätte das Scrabble-Spiel übrigens beinahe gewonnen. Darf ich Dich mit den Einzelheiten langweilen? Manchmal liege ich nachts wach und lasse mir den Weg, der mich zu meinem letzten Wort führte, noch einmal auf der Zunge zergehen. Ganz am Ende brauchte ich hunderteinundzwanzig Punkte, um zu gewinnen, und es sah hoffnungslos aus. Die sieben Buchstaben auf meinem Bänkchen waren f, k, a, l, r, t und noch ein a. Docs letztes Wort war »Gabe« gewesen und endete auf dem Feld gleich neben dem roten dreifachen Wortwert in der Mitte des rechen Brettrandes. Ich wusste, mit einem Wort, das ans Ende von »Gabe« passte, könnte ich ordentlich Punkte einheimsen. Große Chancen darauf rechnete ich mir bei meinem Sammelsurium von Buchstaben nicht aus, bis mir plötzlich auffiel, dass sich daraus das Wort »Fraktal« bilden ließ. Großartig!

Aber die Frage war: Konnte irgendeiner dieser Buchstaben zusammen mit »Gabe« ein neues Wort ergeben? Beinahe hätte ich es übersehen, dabei lag es so nahe. Das Wort war »Gabel«. Das war mein Verbindungswort! Ich bekam also siebenundzwanzig Punkte für »Gabel«, zweiundvierzig für »Fraktal«, und das Tollste, noch einmal fünfzig, weil ich alle meine Buchstaben verwenden konnte! Hundertneunzehn Punkte für einen Zug. Es reichte nicht ganz zum Sieg, aber was für ein Hochgefühl! Und für mich eine Rekordpunktzahl.

Bald nach dem Ende unseres Spiels machte sich Doc auf den Weg. Als er sich wieder eingepackt hatte und in der Tür stand, um erneut der Witterung zu trotzen, drehte er sich um und sagte zu mir: »Alice, ich habe unseren gemeinsamen Abend sehr genossen, und besonders das Scrabble-Spiel. Es kann gut sein, dass ich in der nächsten Zeit hin und wieder mal in Eastbourne bin. Dürfte ich mich dann melden, damit wir wieder einmal spielen können? Wenn ich natürlich durch Ihren Anrufbeantworter erfahre, dass Sie sich inzwischen umgebracht haben, wird wohl nichts daraus, aber – nun ja, ich fände es schön.«

Ich schrieb ihm meine Nummer auf ein Blatt aus dem kleinen Notizbuch auf dem Tischchen in der Diele, und er steckte sie in seine Seitentasche.

»Danke, Alice. Auf Wiedersehen.«

Das war’s. Er war weg. Und ebenso weg war, ob Du es glaubst oder nicht, die scharfe Kante meiner Absicht, mir das Leben zu nehmen. Frag mich nicht, warum. Es war einfach so. Seltsam. Irgendetwas in mir hatte zu schweben begonnen. Klarer kann ich es nicht ausdrücken. Nicht zuletzt zeigte sich das darin, dass ich mich nicht mehr so störrisch dagegen gewehrt habe, mir von anderen helfen zu lassen. Wie Du weißt, kommen die wunderbaren Leute von Golden Hands jetzt jeden Tag hierher. Zwei davon, besonders ein Mädchen namens Barbara, sind mir echte Freundinnen geworden. Und Doc hat mich auch wieder besucht. Zwei oder drei Mal seit jenem ersten Abend. Jedes Mal rief er mich vorher an, um zu sagen, dass er in Eastbourne sei, und um sich zu erkundigen, ob ich noch am Leben sein würde, wenn er vorbeikäme. Wirklich witzig. Schöne Begegnungen. Schöne Gespräche. Jede Menge vergrabener Schätze. Und beim Sichten dieser Schätze habe ich manches gelernt, was ich bisher nie gewusst hatte. Du würdest staunen. Ich werde Dich jetzt nicht damit behelligen. Das erzähle ich Dir ein anderes Mal.

Eine Sache noch. Das letzte Mal, als Doc mich besuchte, gab er mir eine Karte, bevor er ging.

»Mir kommt da ein Gedanke, Alice«, sagte er. »Hier steht eine Nummer drauf. Es ist nicht meine direkte Nummer, aber die Person am anderen Ende weiß, wie ich zu erreichen bin. Wir haben ja viel über Ihren Enkel geredet. Wenn Sie meinen, es wäre vielleicht gut, wenn wir mal miteinander reden – nun, er darf sich gerne jederzeit melden.«

Also habe ich das gemacht. Die Karte, die er mir gegeben hat, steckt mit diesem Brief zusammen im Umschlag. Warum ich bis jetzt damit gewartet habe? Ich weiß es nicht. Warum es vielleicht gut für Dich wäre? Keine Ahnung. Ich lasse mich einfach mit der Strömung treiben. Es ist Deine Entscheidung.

Wahrscheinlich liegen Dir noch zwei letzte Fragen auf der Seele. Warum habe ich Dir nie von Doc erzählt? Ich vermute, weil die Begegnung mit ihm ein ganz besonderes kleines Goldkörnchen nur für mich war. Ich hatte nie damit gerechnet, dass in meinem Leben noch einmal etwas Besonderes passiert. Und da wollte ich, dass es meine Privatsache bleibt. Meine ganz allein. Aber ich habe es sehr genossen, Dir davon zu schreiben. Ich hoffe, Du bist mir nicht allzu böse.

Die andere Frage habe ich mir selbst schon oft gestellt. Sie betrifft seinen Namen. Was für ein Doktor ist er eigentlich? Ist er überhaupt ein Doktor? Ich bin immer noch nicht dazu gekommen, ihn danach zu fragen. Bis Du diesen Brief bekommst, schaffe ich es vielleicht noch, aber dann werde ich es Dir nicht mehr sagen können. Schau Dir seine Karte an. Du wirst nicht schlau daraus werden. Ging mir jedenfalls so.

Und das war es dann, Jack. Ich höre jetzt mit meinem Geschwafel auf. Wahrscheinlich bekommst Du diesen Brief erst, wenn ich gegangen bin. Vergiss nicht, dass ich Dich immer lieben werde.

Deine Oma xxxx

P.S.: Ich habe gesagt, ich würde Dir ein anderes Mal erzählen, was mit mir passiert ist, aber dazu kommt es vielleicht nicht mehr. Falls Du Doc triffst, frag ihn nach der großen Veränderung, die in meinem Leben plötzlich vorgegangen ist. Er wird wissen, wovon Du sprichst.

Jack legte das letzte Blatt von Alices Brief nieder und schaute auf seine Uhr. Es war schon spät, und sein Kopf fühlte sich von innen ziemlich übel zerschunden an. Kein guter Zeitpunkt, um sich an die Aufgabe zu machen, die Fäden der Verwirrung und der kindlichen Entfremdung zu entwirren, die sich in seinen Emotionen verknotet hatten. Er beschloss, sich alles für eine Weile vom Leib zu halten und auf dem Laptop eine Episode Miranda zu schauen. Besser als ein Aspirin. Ob er danach schlafen konnte, würde sich schon zeigen.

Doch vorher noch eine Sache. Er nahm den Umschlag, der Omas Brief enthalten hatte, in die Hand, drückte unten die Seitenkanten zusammen und schüttelte ihn über dem Bett aus. Eine olivgrüne Karte flatterte hinunter auf die Decke. Er nahm sie und betrachtete sie blinzelnd im Licht der Nachttischlampe am Fenster. Zwei Zeilen waren auf der Karte aufgedruckt. Die eine war eine Telefonnummer. Die andere bestand nur aus zwei Worten: DER SCHATTENDOKTOR.

4. Kontakt

Es war eine Art Albtraum für Jack, bis er sich endlich dazu durchgerungen hatte, mit der Person, die sich der Schattendoktor nannte, in Kontakt zu treten. Wie sollte er sein Gespräch mit diesem Mann anfangen, der angeregt hatte, seine Telefonnummer an jemanden weiterzugeben, den er überhaupt nicht kannte? Den Enkel einer Freundin. Merkwürdig, oder? Was konnte das bedeuten? Die grauenhafteste Vorstellung war ihm, dass sich die ganze Sache als gigantischer Trick herausstellen könnte. Doch diesen Gedanken verwarf er sofort wieder. Oma mochte in ihrer Einsamkeit durchaus ein wenig angreifbar gewesen sein, aber sie hätte sich nie für dumm verkaufen lassen. Wenn Alice Merton dem Mann glaubte, den sie als Doc kannte, dann musste er in Ordnung sein, zumindest vertrauenswürdig. Und wenn dies, wie Jack mutmaßte und hoffte, wenn dies ein weiterer Schritt auf seinem spirituellen Weg sein würde, warum sollte er ihn dann nicht mutig gehen?

Leicht gefragt. Manchmal, wenn er im Bett lag und nervös verschiedene Wortfolgen einstudierte, die er bei diesem heiklen Anruf an den Mann bringen könnte, riss er sich bewusst aus seinen Gedanken, indem er sich auf ein inneres Bild der Kerzenflamme konzentrierte, die an jenem fernen Regentag in der Kathedrale von Ripon so zitternd geflackert hatte. Etwas musste geschehen. Es wurde immer schlimmer. Er wurde mehr und mehr zu einer Hülse seiner selbst. Alles, was er hörte und sah, erschien ihm wie durch einen Schwarzweißfilter gezwängt. Farben und Formen verloren ihre Unverwechselbarkeit. Eintönigkeit regierte. Eine falsche Identität war immer noch besser als gar keine, aber es fiel ihm zunehmend schwerer, sie aufrechtzuerhalten. Tief in seinem Herzen wusste Jack, dass seine Zukunft als Mensch davon abhing, ob er seinem drängenden Verlangen nach Echtheit gerecht werden konnte. Er wusste auch, dass es nicht leicht sein würde. Er hatte seine eingeprägten Haltungen zu nahezu jedem Aspekt des Lebens und Denkens als Christ. Vielleicht mussten manche dieser Stimmen zum Schweigen gebracht oder zumindest gedämpft werden. Konnte er das? Wie sollte er das anstellen? Und überhaupt, vielleicht gab es ja Gott überhaupt nicht. Dann spielte das alles sowieso keine Rolle. Diesen Gedanken verscheuchte Jack jedes Mal geflissentlich, wann immer er ihm in den Sinn kam. Wie konnte Gott ihm helfen, wenn er nicht existierte?

Am Ende verwandelte sich der Albtraum. Nach einem schwierigen Anfang wurde eine ganz andere Art von Traum daraus. Mit trockenem Mund und voller Anspannung brachte Jack sich schließlich dazu, die Nummer auf der olivgrünen Karte zu wählen, die er in den Wochen seit seiner Rückkehr aus dem Hotel Hydro an dem Tag, nachdem er den Brief seiner Großmutter gelesen hatte, sicher in seiner Schreibtischschublade verwahrt hatte. Beinahe augenblicklich meldete sich eine Frauenstimme, warm, melodiös und freundlich.

 

»Hallo, hier ist Martha. Danke für Ihren Anruf. Was kann ich für Sie tun?«

Die Frauenstimme verschlug ihm erst einmal die Sprache.

»Hallo – ja, also, ich weiß nicht, ob ich bei Ihnen richtig bin, aber man sagte mir, ich könnte bei Ihnen einen gewissen …« Jack tat so, als läse er den Namen von der Karte ab. »Einen gewissen … Schattendoktor erreichen. Ist das richtig?«

»Ja! Genau richtig.« Sie hörte sich hocherfreut an.

»Ich glaube, er – der Schattendoktor, meine ich – kannte meine Großmutter, Alice Merton.«

»Ja, du liebe Zeit! Jack! Sie müssen Jack Merton sein! Doc wird sich unbändig freuen, dass Sie sich melden.«

»Oh. Gut. Äh, ob ich ihn wohl sprechen könnte?«

»Aber natürlich! Allerdings wohnt er nicht hier, Jack. Aber kein Problem. Ich rufe ihn sofort an, und er wird sich so schnell wie möglich bei Ihnen melden. Ich weiß, wie sehr er sich darauf freut.«

»Okay. Danke, Martha. Herzlichen Dank.«

»Ich danke Ihnen, Jack. Hat mich sehr gefreut. Tschüss!«

Jack starrte das Telefon in seiner Hand an. Er fühlte sich leicht benommen. Sein kurzes Gespräch mit der liebenswürdigen Martha war ihm vorgekommen wie ein plötzliches Eintauchen in ein warmes Schaumbad. Vielleicht fühlte es sich so ähnlich an, wenn man berühmt war. Eine derartige Beweihräucherung von Leuten, denen man noch nie begegnet war. Wer war Martha? In welcher Verbindung stand sie zu dem Schattendoktor? Alles sehr verwirrend.

Er machte sich eine Kanne Kaffee und setzte sich mit seinem Lieblingsbecher aus hellblauem Porzellan an den Küchentisch, um auf das Klingeln des Telefons zu warten. Eigentlich albern. Es konnte Stunden dauern, vielleicht sogar einen oder zwei Tage, bis der geheimnisvolle Unbekannte anrief.

Es dauerte fünf Minuten. Das halberwartete Geräusch brachte Jack so aus der Fassung, dass er das Handy ungeschickt zu fassen bekam, als er danach griff, und wild jonglieren musste, damit es ihm nicht auf den gekachelten Fußboden fiel. Das fing ja gut an. Gott sei Dank für die Unsichtbarkeit. Er achtete sehr darauf, seine Stimme unter Kontrolle zu halten, als er sich meldete.

»Hallo, hier Jack Merton. Was kann ich für Sie tun?«

»Jack. Hier ist Doc. Der Freund von Ihrer Großmutter. Sie haben angerufen. Ich freue mich sehr.«

Die Stimme hörte sich volltönend und ansprechend an, angefüllt mit Erfahrung und Möglichkeiten.

»Hi. Doc ist wohl die Kurzform von Schattendoktor, was?«

»Genau.«

»Danke, dass Sie zurückrufen, Doc. Oma – Alice – hat mir einen langen Brief über alles Mögliche hinterlassen. Unter anderem darüber, wie sie Sie kennengelernt hat. Sie hat mir auch Ihre Nummer weitergegeben und mir den Vorschlag gemacht, mich bei Ihnen zu melden. Ich weiß nicht genau, warum, aber mir ist klar, dass Sie beide gute Freunde geworden sind, und deshalb dachte ich mir, es wäre gut, mich mal zu melden und … na ja, mich eben zu melden.«

Damit war Jack am Ende seines Repertoires an Belanglosigkeiten. Ganz plötzlich hatte die Hoffnung die Wirklichkeit eingeholt. Vielleicht ging es wirklich nur darum, sich mal zu melden. Er war kurz davor, in einer Verzweiflung zu versinken, deren Tiefe ihn überraschte. Es war kurz still, ehe der Schattendoktor wieder sprach:

»Alice hat Sie mehr geliebt als alles andere auf der Welt, Jack. Sie müssen sie schrecklich vermissen.«

Die Worte waren heraus, bevor Jack sie einfangen konnte.

»Es gibt sonst niemanden, mit dem ich reden kann.«

Wie es schien, gab es doch jemanden. Der Damm war vielleicht noch nicht gebrochen, aber Risse hatte er schon. Später, als er selbst nicht mehr wusste, was er Doc im Laufe dieses Telefonats über sein Leben, seinen Glauben und seine Ängste alles erzählt hatte, dachte Jack an Alices Bemerkung darüber, wie es ebendiesem Mann bei ihrer ersten Begegnung gelungen war, innerhalb von Minuten oder gar Sekunden eine Gemeinschaft entstehen zu lassen. Nachdem er fast dreißig Minuten lang seine Seele bloßgelegt hatte, fing er an zu verstehen. Aber wie hatte dieser außergewöhnliche Mann das nur einfach so am Telefon geschafft?

Schließlich verstummte Jack, erschöpft und ein bisschen verlegen über seine eigenen Ergüsse.

Der Schattendoktor brach das Schweigen. »Jack, ich danke Ihnen sehr, dass Sie mit mir reden. Sie haben mich gerade gefragt, warum ich gehofft hatte, dass Sie sich bei mir melden. Es gibt etwas, wonach ich Sie wirklich gern fragen möchte. Wäre es wohl möglich, dass Sie mich besuchen? Ich habe gehört, dass Sie an den Wochenenden oft zu tun haben. Wie wäre es an einem Abend unter der Woche? Sie sind in Bromley, nicht wahr? Ich wohne in einem Häuschen am Rand eines Waldes unten in Sussex, etwa eine Meile außerhalb von Wadhurst. Wie weit dürfte das sein – ungefähr fünfunddreißig Meilen? Ich wohne ein bisschen abgelegen. Bleiben Sie über Nacht. Wir machen uns einen schönen Abend. Ich glaube, es wäre wichtig – für uns beide. Wenn Sie Lust haben, gebe ich Ihnen meine Handynummer, und Sie können mir Bescheid sagen, wann es Ihnen passt.«

Gemeinschaft hin oder her, im Herzen des jungen Mannes loderte plötzlich Furcht auf. Furcht vor dem Unbekannten. Furcht davor, die Kontrolle zu verlieren. Furcht vor einem finsteren Ort in einer finsteren Nacht. Furcht vor einem wildfremden Mann. Furcht vor seiner eigenen Zerbrechlichkeit. Aber Kneifen kam nicht infrage. Die winzige Flamme, die er vor sich sah, brannte zwar nicht so intensiv, aber dafür beherrschbarer als seine Furcht. So viele Fragen. Eine ganz wichtige kam ihm zuerst in den Sinn. Was würde Oma sagen? Darauf immerhin kannte er die Antwort. Tu es einfach.

»Okay, Doc. Es ist mir ein bisschen unheimlich, aber ich würde gern kommen. Wenn es die Nummer ist, von der Sie gerade anrufen, speichere ich sie einfach und rufe Sie bald an. Und … danke, dass Sie mich so lange haben reden lassen.«

»War mir ein Vergnügen, Jack. Ich freue mich darauf, von Ihnen zu hören.«

Und das war es schon, so verwirrend es war. Zwei Tage später einigten sie sich auf einen Termin. Arrangements wurden getroffen. Jack bekam eine Adresse mit Wegbeschreibung. Jetzt blieb nur noch eins: Er musste sich auf den Weg machen. An einem Mittwoch zwei Wochen später machte Jack frühzeitig Feierabend, holte sich bei Greggs ein Sandwich mit Speckstreifen und einen Kaffee und reihte sich in die tägliche Prozession der Autos ein, die Zoll für Zoll auf die Hauptstraße zu krochen. Die Strecke kannte er gut von seinen Besuchen bei Oma. Auf die A21, dann ein enervierendes Stück M25, dann wieder auf die A21, Richtung Hastings, dann bei Lamberhurst abbiegen und das letzte Stück bis zu dem Dörfchen Wadhurst. Eine Meile danach, so die Wegbeschreibung, würde er links die Northfields Road angezeigt sehen. Nach einer Dreiviertelmeile auf diesem schmalen Sträßchen würde er, angenagelt an einer alten Eiche, ein Holzschild mit der Aufschrift »Marlpit Cottage« finden. Von dort führte ein ungepflasterter Weg zwischen zwei bestellten Feldern hindurch.

Jacks Routenplaner hatte die Fahrzeit auf etwas über eine Stunde geschätzt, doch der Verkehr Richtung Süden war ihm an jedem Zubringer und jeder Einmündung so zermürbend träge wie noch nie vorgekommen. Es war schon dunkel und hatte angefangen zu regnen, als er Wadhurst hinter sich gelassen und das Schild zur Northfields Road gerade noch rechtzeitig entdeckt hatte, um nicht daran vorbeizufahren. Von dort an machte die schmale Landstraße so viele Windungen und Kurven, dass er mindestens zweimal alle Hände voll zu tun hatte, nicht in der Hecke zu landen, geschweige denn abschätzen konnte, ob er schon eine Meile weit gefahren war oder nicht. Eine langsam anschwellende Panik ebbte wieder ab, als er ein Licht sah – offenbar eine Taschenlampe, die auf der linken Straßenseite in Kopfhöhe gehalten wurde. Der Regen glitzerte in ihrem Strahl wie lauter Nadeln aus Licht. Hinter diesem Vollmondeffekt ragte ein riesiges, dunkles Gebilde vor der blasseren Dunkelheit des Himmels auf. Das konnte nur irgendein Baum sein, sagte er sich.

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