Darky Green

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3

Auf der Außenseite der gelb lackierten Zimmertür neben dem Badezimmer der Wilsons hing ein eigens angefertigtes Metallschild, das Lance am vorletzten Weihnachtsfest mit gebührendem Zeremoniell von seinem Freund Olly überreicht bekommen hatte. Darauf stand in leuchtend roten Großbuchstaben, erhaben auf hellblauem Hintergrund:

ACHTUNG! LANZENWUNDEN HEILEN SELTEN SIE WURDEN GEWARNT

Dieses exzentrische, alberne Geschenk war ein kleines Symptom dessen, was Olly selbst vielleicht seinen krankhaften Sinn für Ironie genannt hätte. Seine typisch beharrliche und theoretisch humorvolle Marotte baute auf der Vorstellung auf, Lance sei sanftmütig und zurückhaltend, bis man ihn reizte. Dann aber verwandelte er sich in eine Art Neandertaler im Quadrat, vor dem starke Männer entsetzt die Flucht ergriffen, wenn ihnen ihr Leben lieb war. Lance, der sich wirklich und wahrhaftig nicht an den geringfügigsten Anlass erinnern konnte, bei dem er je auch nur einen Anflug von Aggression gegenüber irgendjemandem empfunden oder gar gezeigt hätte, nicht einmal in den angespanntesten Situationen, war (natürlich) über diese freundschaftliche Frotzelei nie beleidigt gewesen. Im Gegenteil, er fand es sehr lustig, ja sogar schmeichelhaft, auch wenn er sich beim besten Willen nicht erklären konnte, warum. So war Olly nun einmal.

Manchmal machte Lance mit. Manchmal schaffte Lance es sogar, den Witz umzudrehen und zu gewinnen.

Zu seinen besten und glücklichsten Zeiten ging Lance durchs Leben wie ein Koala auf einem Eukalyptusbaum, der an der Luft schnupperte und mit einer zeitlupenartig konzentrierten Wonne an den interessant schmeckenden Blättern des Lebens knabberte. Aber er hatte auch seinen eigenen, ganz persönlichen Katastrophenzustand. Seit die anderen drei ihn kannten, war er einige Male heftig in diesen Abgrund gestürzt. Es hatte irgendetwas mit Furcht und Zwangsvorstellungen zu tun, hatte Tom schon immer vermutet.

Meistens fing es mit irgendeiner Kleinigkeit an. Als es zum Beispiel um die Zerstörung der südamerikanischen Regenwälder ging, hatte es mit einem kurzen Artikel in einer Sonntagszeitung begonnen und sich von da aus zu einem neurotisch unersättlichen Sammeln und Verschlingen aller Zeitungen, Bücher oder Fernsehsendungen gesteigert, in denen das Thema in irgendeiner Weise zur Sprache kam.

Es war sehr ernst geworden. Lances Mutter war außer sich vor Sorge gewesen. Dr. Morgan machte Lance deutlich, dass er lernen musste, sich selbst wirksamer zu steuern. Sicherlich war es richtig, Anteil zu nehmen, aber er musste auswählen, worein er sein Herz steckte. Es war gut, sich einer Sache oder einem Ziel zu verschreiben, hatte ihm der Doktor mit seinem walisischen Akzent geraten, der sich anhörte wie ein Bach, der über ein Kiesbett fließt, aber es musste etwas sein, wozu sein Patient auch einen machbaren, ausgewogenen, beständigen Beitrag leisten konnte. Das Problem bei Lance, wenn die Zwanghaftigkeit ihn richtig gepackt hatte, fuhr er fort, war nicht nur, dass er zu den Typen gehörte, für die das »Glas halb leer« war. Er war sogar ein Typ, für den das »Glas bald ganz leer sein wird, und dann wird es wahrscheinlich zusammen mit allen anderen Gläsern auf der Erde zu Bruch gehen«. Sich selbst steuern, das war es, was er lernen musste.

Lance hatte sich vorgenommen, es zu versuchen. Und meistens war es ihm auch gelungen, das musste man ihm lassen. Trotzdem hatte es seit der Regenwaldaffäre mindestens zwei Gelegenheiten gegeben, bei denen Lance das Steuerrad entglitten war, wie Dr. Morgan es ausgedrückt hätte, und er sich den ersten Stadien desselben steilen Abrutschens in die Depression überlassen hatte.

Wichtig war, frühzeitig etwas dagegen zu tun. Das wussten Tom und Beth.

Als Beth behutsam an die Tür klopfte, tat sich zunächst nichts. Sie trommelte ein wenig härter mit ihren Knöcheln und eine leise Stimme sagte: »Herein, wenn’s sein muss.«

Sie stießen die Zimmertür auf und fanden Lance im Schneidersitz mitten auf seinem Bett. Ausdruckslos starrte er in die Richtung der schweren alten Fallfenster, die an der Vorderseite des Hauses auf die Straße hinausblickten. Neben ihm auf dem Bett stand ein Teller mit Sandwichs, Käse und Tomate, die er offenbar noch nicht angerührt hatte. Er drückte mit beiden Armen ein Kissen gegen seine Brust und sah rundlicher und vertrauter aus als je zuvor. Als die Tür aufging, wendete er nicht den Kopf.

Trotz allem musste Tom lächeln. Das Wichtigste war doch, einfach da zu sein. In der Höhle des Dachses. Hatten Dachse Höhlen? Nein, sie hatten Baue. Aber der Dachs in Der Wind in den Weiden hatte eine Art Höhle im Wald, und daran musste Tom jedes Mal denken, wenn er in Lances Zimmer kam, besonders im Herbst oder Winter. Er liebte Lances Zimmer. In diesem kleinen, gedämpft erleuchteten Raum hatten sie herrliche Zeiten erlebt. Wie hatten sie hier gelacht. Manchmal auch geweint. Ein- oder zweimal hatte Lance laut aus der Sammlung handgeschriebener Gedichte in der blauen Ledermappe vorgelesen, die auf seinem Nachttisch ihren festen Platz hatte. Derek Wilsons Gedichte waren nicht immer einfach zu verstehen, aber seine Worte hatten eine eigentümliche Kraft. Sie schienen singend durch die Luft zu tanzen. Beth war jedes Mal zu Tränen gerührt. Ollys Gesicht wurde zu einer ausdruckslosen Maske, aber dennoch zu einer Maske. Diese Lesungen kamen nicht sehr oft vor, obwohl Lance es liebte, aus dem Werk seines Vaters vorzulesen.

Das Hauptmerkmal des Zimmers waren die unzähligen Bücher darin. Lances Zimmer vermittelte einem die Illusion, als bestünde es aus lauter Büchern, sodass alle Flächen mit Ausnahme der Decke etwas anheimelnd Unebenes an sich hatten. Es sah aus wie in weiches Gestein hineingemeißelt. Jede verfügbare Fläche an den vier orange gestrichenen Wänden war mit hölzernen Regalbrettern auf weißen Metallhalterungen bedeckt. Und da niemand sich bisher die Mühe gemacht hatte, die Regalbretter an den Halterungen festzuschrauben, war es in der Vergangenheit schon häufig zu spektakulären Katastrophen gekommen. In seiner Begeisterung, ein Buch, das er gelesen hatte, herauszuziehen und seinen Freunden zu zeigen, stieß Lance versehentlich mit der Schulter oder dem Ellbogen unter das Ende des Regalbretts, sodass sich eine ganze Reihe von Büchern, hilflos mit den Seiten rudernd wie würdevolle alte Herren, die aus dem Gleichgewicht geraten waren, wasserfallartig auf den Fußboden ergoss. Immer, wenn das passierte, johlten und schrien die Anwesenden und tanzten herum und verstärkten mit Gusto das Chaos, bevor sie mithalfen, die Bücher wieder aufzustellen, und mit ironischer Ernsthaftigkeit nickten, wenn Lance ihnen versicherte, gleich am nächsten Tag nun endlich die Regale richtig anzubringen. Natürlich tat er das nie, und Tom war, wenn auch mit einem leisen Schuldgefühl, froh darüber. Manche Dinge erzeugten eine gewisse Gemütlichkeit, indem sie sich immer wiederholten, und er hatte sowieso einen Hang zum Episodenhaften. Das Leben musste für ihn etwas von einer Seifenoper haben.

Heute jedoch sah es nicht so aus, als ob es einen Anlass zum Gelächter geben würde. Der arme Lance. Es sah wirklich so aus, als ob er wieder einmal unterwegs in seinen tiefsten Keller war.

Mindestens eine Minute lang sagte keiner etwas.

»Mum hat euch angerufen, schätze ich, was?«

»Lance, deine Mum hat angerufen und gefragt, ob wir mal bei dir vorbeischauen könnten. Sie sagte, du wärst ein bisschen niedergeschlagen. Stimmt das?«

Wieder senkte sich Stille über sie.

Beth hatte sich auf den Boden gesetzt, gerade außerhalb von Lances Blickrichtung, und sich mit dem Rücken an einen einigermaßen stabil aussehenden Abschnitt der allgegenwärtigen Bücherregale gelehnt. Hier unten waren sie mit mächtigen Bänden gefüllt, die wie Nachschlagewerke aussahen und sich auch so anfühlten. Tom lungerte unschlüssig am Ende des Bettes herum und überlegte, was er sagen könnte, falls es erforderlich werden sollte, dass er etwas Hilfreiches beitrug. Als Beth ihre Frage gestellt hatte, fiel sein Blick auf mehrere Blätter bedruckten Papiers, die neben Lance auf dem Bett ausgebreitet lagen. Das sah verdächtig nach seinem langen Brief aus, den er in den frühen Morgenstunden nach jener Zugfahrt, die dazu geführt hatte, dass er sich in seiner Welt nicht mehr sicher fühlte, eingetippt hatte. Oje. Zum ersten Mal fragte er sich, ob es vielleicht eine blöde Idee gewesen war, diese Litanei der Furcht und des Unbehagens ausgerechnet an jemanden zu schicken, der so angreifbar war wie Lance. Er ließ sich in den Klappsessel fallen, der manchmal als Gästebett herhalten musste, und kaute unruhig auf der Haut am mittleren Gelenk seines Zeigefingers herum, während er darauf wartete, dass Lance etwas sagte. Er hätte darauf gewettet, dass es eine Frage sein würde. So war es auch.

»Wenn jemand euch etwas vom ›wirklichen Leben‹ erzählen würde«, sagte Lance endlich mit tonloser, kraftloser Stimme und schaute dabei weiter durchs Fenster hinaus, »was würdet ihr denken, wovon er redet?«

Tom und Beth wechselten einen Blick. Tom hörte auf, an seiner Hand zu nagen, hob die Augenbrauen und schüttelte den Kopf.

Beth stand auf und setzte sich neben Lance aufs Bett. »Nun ja«, sagte sie unsicher, »ich schätze, er würde von dem sprechen, was im Leben wirklich ist – oder?«

Der gutgemeinte, schwächliche Versuch einer Antwort schwebte zitternd wie eine Seifenblase durch die Luft, bis sie an Lances Büchern zerplatzte und für immer verschwand. Wieder herrschte lange Zeit Schweigen, bis Lance sein Gewicht ein wenig verlagerte, einen Seufzer durch die Nase ausstieß und weitersprach.

»Also, ich glaube, ich kann euch sagen, was damit meistens gemeint ist«, sagte er. »Ich habe in letzter Zeit eine Menge darüber nachgedacht. Es ist genauso wie mit dem Gerede von der wirklichen Welt, das man immer hört. Ihr wisst, was ich meine. Wenn jemandem etwas Unangenehmes passiert und die Leute dann sagen: ›Willkommen in der wirklichen Welt.‹ Kennt ihr das? Für sie bedeutet ›wirklich‹, dass es auf keinen Fall gut sein kann. Wirklich ist immer grauenhaft. Es kann nur schmutzig oder schäbig oder verdorben oder brutal oder deprimierend bedeuten. Und jeder, der dem nicht zustimmt, ist ein Weichling, der sich Illusionen hingibt und irgendwie oberflächlich durchs Leben spaziert, weil er nicht bereit oder unfähig ist, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind.«

 

Er nickte leicht, wie zur Bestätigung seiner eigenen Worte.

»Wisst ihr, solche Leute würden zum Beispiel sagen, dass Dinge wie Freundschaft, Treue, Einkäufe für den Nachbarn erledigen und – und zusammen über kleine Alltäglichkeiten lachen einfach nur eine Art naiver Luxus sind. Man kann sie nur haben und genießen und so tun, als wären sie echt, indem man die Augen vor der Tatsache verschließt, dass sich gleich unter der Oberfläche aller Dinge eine riesige, hässliche Schlange des Elends und der Widerwärtigkeit zusammenrollt und hungrig darauf wartet, all die kleinen, zwitschernden hübschen Dinge zu verschlingen, die sowieso niemals wirklich waren. Frieden ist ein sinnloser Traum. Gemeinschaft ist eine erbärmliche Verleugnung der Tatsache, dass letzten Endes jeder von uns vollkommen allein ist. Zivilisation ist nicht mehr als eine oberflächliche Vereinbarung, dass wir alle so tun wollen, als wären wir nicht unzivilisiert.«

Schweigen.

»Aber dieser Meinung bist du doch nicht, oder, Lance?« Beth drehte mitfühlend ihre verschränkten Hände nach außen, als sie antwortete. »Du würdest doch sagen, dass die guten Dinge genauso wirklich sind wie die schrecklichen, das weiß ich.« Sie dachte ein paar Sekunden lang nach, bevor sie langsam weitersprach. »Ich weiß noch, wie du mir einmal gesagt hast, dass du in den Zeiten, wenn du mitten in deinen schrecklichen Depressionen stecktest, immer vom Licht geträumt hast, aber wenn du dann – weißt du – endlich wieder ins Licht gekommen bist, nie das geringste Verlangen danach hast, das Licht wieder auszulöschen, weil das Licht der Ort ist, wo du wirklich hingehörst. Darüber habe ich immer wieder nachgedacht, seit du das gesagt hast. Das bedeutet doch wohl, dass deiner Meinung nach das Gute mächtiger ist als das Böse, oder?«

»Ich habe nie schwimmen gelernt, wisst ihr«, erwiderte Lance.

Natürlich wussten sie es. Sie wussten aus Erfahrung, dass Lance sich entsetzlich davor fürchtete, im Wasser den Boden unter den Füßen zu verlieren. Außerdem wussten sie, dass von seinen scheinbar belanglosen Äußerungen immer wieder eine Schleife zurück zum Thema führte. Es war nur eine Frage der Geduld. Abwarten.

»Man sagt doch, das zwei Drittel der Erdoberfläche von Wasser bedeckt sind, oder? Das weiß ich, seit Miss Weston es uns erzählt hat, als wir sechs waren. Erinnert ihr euch an Miss Weston?«

Sie nickten. Natürlich.

»Ich fand das schon damals ein bisschen beängstigend. Mir kam es so vor, als müsste die Welt sich nur ein bisschen verschieben oder kippen und unsere kleine trockene Welt würde überflutet und wir müssten alle ertrinken. Also, ich weiß, dass das Blödsinn ist, aber ein bisschen geht es mir heute immer noch so. Stellt euch vor – die Welt ist zu zwei Dritteln so beschaffen, dass ich dort gar nicht überleben könnte. Ich kann euch sagen, dass ich gerne mit beiden Beinen fest auf dem trockenen Drittel bleibe. Ich glaube kaum, dass ich jetzt noch schwimmen lernen werde.

Nun, ich glaube nicht, dass Miss Weston ebenso detailliert darüber gesprochen hat, wie Gut und Böse auf der Welt verteilt sind, aber ich glaube, ich hatte schon damals die undeutliche Vorstellung, dass die Menschen am besten in einer Atmosphäre überleben könnten, in der es Freundlichkeit und Rücksicht auf andere und Anteilnahme an dem, was in der Welt vor sich geht, und solche Dinge gibt. Daran habe ich mehr oder weniger mein ganzes Leben lang geglaubt. Aber vielleicht sind ja viel mehr als zwei Drittel der Welt von Dunkelheit bedeckt. Vielleicht sind Willkür und Bosheit in Wirklichkeit ja tief im Kern das Eigentliche und all die Dinge, die mir immer so wichtig waren – nun, vielleicht sind sie nicht mehr als ein kleines, zerbrechliches Boot, das nicht lange durchhalten kann, wenn es stürmisch wird.«

Allmählich fand Tom Lances trostlose Stimmung ansteckend. Kein Wunder, angesichts der jüngsten Ereignisse. Er stützte seine Ellbogen auf die Knie und sein Gesicht in die Handflächen und versuchte sich etwas Konstruktives einfallen zu lassen, was er sagen könnte. Nachdem ihm das nicht gelang, sagte er trotzdem etwas.

»Wodurch hat sich denn das Bild für dich so sehr verändert, Lance? Ich meine – ist da etwas Bestimmtes vorgefallen, oder …«

»Eine Menge Dinge«, unterbrach ihn Lance, dessen Stimme immer noch trüb und schwer und leblos klang wie eine Schieferplatte. »Unzählige Dinge. Vor ein paar Wochen stand ein Artikel in der Zeitung. Ich glaube, im Fernsehen kam es auch. Es war in London. Ein Mann war zu Fuß auf dem Heimweg, nachdem er länger im Büro gewesen war. Eine Gruppe von drei oder vier jungen Männern und einem Mädchen hielt ihn mitten auf einer Brücke an und sie sagten ihm, er solle ihnen sein ganzes Geld geben, sonst würden sie ihn ordentlich zusammentreten. Er hatte nur zehn Pfund bei sich, und die gab er ihnen. Sie meinten, er lüge, er habe bestimmt noch irgendwo etwas versteckt. Zwei von ihnen hielten ihn fest, während die anderen seine Taschen durchsuchten. Als sie feststellten, dass er die Wahrheit sagte, ließen sie ihn aber nicht gehen. Sie schleuderten ihn zu Boden und fingen an, auf ihn einzutreten. Beth, Tom, sie traten ihn an den Kopf und ins Gesicht, so fest sie konnten. Stellt euch ein Gesicht vor, den Mund, die Nase, die Augen, und dann stellt euch vor, wie schwere Stiefel erbarmungslos da hineingerammt werden. Nicht nur erbarmungslos, sondern mit – Begeisterung. Versucht euch das vorzustellen. Versucht euch einmal zu der Vorstellung zu zwingen, wie ihr mit dem Fuß ausholt und mit aller Kraft in die weichen, verletzlichen Teile des Gesichtes eines Menschen tretet. Ihr werdet daran nicht einmal denken können. Nicht einmal in Gedanken könntet ihr euren Fuß dazu bewegen. Ihr werdet merken, wie euer ganzer Körper sich vor Abscheu und Ekel zusammenkrampft. Und dann stellt euch vor, wie ihr denkt, dass es richtig gut ist, das zu tun. Stellt es euch einfach mal vor.

Danach fing einer von denen an, auf seinem Kopf herumzuspringen, während die anderen drum herumstanden und lachten. Nach einer Weile hatten sie genug davon; also hoben sie auf, was von ihm noch übrig war, warfen ihn übers Geländer in den Fluss und rannten weg. Wenig später wurde er so gut wie tot aus dem Wasser gezogen. Im Krankenhaus kam er noch einmal zu sich, gerade lange genug, um mit ein paar gestammelten Worten zu erzählen, was passiert war; dann starb er auf dem Operationstisch. Zehn Pfund, Beth. Sie trampelten auf seinem Kopf herum, weil er nicht mehr als zehn Pfund bei sich hatte, die sie ihm stehlen konnten. Woher nahmen sie die Wut und den Grund und das Recht dazu? Ein ganzes komplexes Leben, voller Menschen und Aktivitäten und Hoffnungen und Pläne, einfach zu Tode gestampft von den Monstern, die zweifellos in mir genauso lauern wie in diesen vier Leuten auf der Brücke. Alles für den Preis von einer Runde Bier oder zwei Kinokarten.«

Lance schüttelte den Kopf. Die Geste hatte etwas Abschließendes, als wäre seine Beweisführung lückenlos und unwiderlegbar und als erübrigte sich jede weitere Debatte.

»Lance, ich glaube, ich weiß, was du meinst, wenn du sagst, dass das Potenzial für solche Dinge in uns allen steckt«, wandte Beth behutsam ein, »aber du weißt genauso gut wie Tom und ich, dass du nie im Leben so etwas Brutales tun würdest. Genauso wenig wie Tom und ich. Du bist einer der freundlichsten, warmherzigsten Menschen, die ich kenne. Daran wird sich auch nichts ändern. Ist das nicht auch die Wirklichkeit? Warum sollte das nicht genauso wirklich sein?«

»Es ist ja nicht nur das allein. Tom weiß, dass das noch nicht alles ist.«

Lance legte sein Kissen zur Seite, stieg schwerfällig vom Bett und ging hinüber ans Fenster, um hinauszustarren. Direkt gegenüber dem Haus der Wilsons stieß der ausgestreckte Finger eines großen Stadtparks auf die Straße. Die letzten Sonnenstrahlen eines kurzen Tages umschmeichelten dort die mit Laub übersäte Erde unter den Bäumen und schufen mit ihrem schräg einfallenden Glanz einen herrlichen, rotgoldenen Teppich.

»Ich habe diese Spätnachmittage im Oktober schon immer geliebt«, sagte Lance leise, »wenn die Sonne wie eine riesige, von innen beleuchtete Orange über den Horizont rollt und die Luft von dieser wunderbaren, berauschenden Mischung von Tragik und Ekstase erfüllt ist. Alles hat eine Tiefe, voller Möglichkeiten, alles ist voller Behagen und irgendwie auf den Kopf gestellt, und der erste, schwache, aufregende Hauch von Weihnachten, wie ein echtes Kind ihn wahrnimmt, liegt in der Luft. Manchmal denke ich, wenn ich wirklich wollte, könnte ich meine Hände und Arme tief in diese Jahreszeit hineintauchen, als wäre sie ein altes Holzfass voller kräftiger, dunkler, schwerer Erde.«

Er drehte den Kopf und schaute wieder ins Zimmer. In seiner Stimme lag eine stille, hoffnungslose Gewissheit.

»Sie verderben den Herbst, wisst ihr. Diese ganzen Leute. Sie verderben den Herbst. Sie nehmen ihm seine Bedeutung, seine Leidenschaft. Oder zumindest – sie könnten es tun, oder?« Er machte eine plötzliche, wilde Geste mit einer Hand. »Vielleicht nicht heute Abend, aber morgen oder übermorgen oder überübermorgen. Und seht ihr, wenn das möglich ist, wenn das passieren könnte – nun, du hast es ja in deinem Brief selbst gesagt, Tom. Leute wie wir, die mit Vorstellungskraft gesegnet und verflucht sind, müssen uns fragen, ob es sich überhaupt lohnt, uns anzustrengen und zu versuchen, eine andere Art Mensch zu sein. Denn die Sache ist die: Es macht denen überhaupt nichts aus, diese – diese Abkürzungen zu nehmen. Und wenn ihnen das alles egal ist, dann können sie einfach auf allem herumtrampeln, nicht wahr? Es macht das Leben viel einfacher, wenn einem alles egal ist. Und wenn sie dann tatsächlich auf allem herumtrampeln, dann haben sie gewonnen. Ihr müsst doch begreifen können, was ich meine. Sie haben durch Mogelei gewonnen. So, wie wenn man beim Schach oder bei Dame das Brett umstößt, wenn man am Verlieren ist. Plötzlich existiert das Spiel einfach nicht mehr, weil sie – es zerschlagen haben, ihm den Kopf eingetreten haben. Und schon spielt das ganze andere langweilige, brillante Zeug keine Rolle mehr.«

Er wandte sich wieder dem Park zu.

»So ist das nun mal. Ende der Geschichte. Sie verderben alles. Und allmählich macht mich das krank und hoffnungslos. Deswegen habe ich hier herumgesessen und nichts getan. Ich meine – was gibt es denn noch? Mir fällt nichts anderes ein, was ich tun könnte.«

Tom fragte sich, wie Mrs. Wilson wohl reagieren würde, wenn sie erfuhr, dass er selbst, weit davon entfernt, Lance aus dem Sumpf der Verzweiflung herausziehen zu können, in dem er versunken war, allmählich das Gefühl hatte, er könnte sich genauso gut neben seinen Freund aufs Bett setzen und sich einer ganz ähnlichen Verzweiflung hingeben. Was er selbst kürzlich erlebt hatte, hatte eine Tür in ihm geöffnet, durch die Lances Pessimismus hereinkommen und sich in ihm einnisten konnte. Einen Moment lang sank ihm der Mut. Er kam sich ratlos und verloren vor.

Jedes Mal, wenn Lance Toms Brief und seine negativen Auswirkungen erwähnt hatte, war es von Beth mit einem fassungslos vorwurfsvollen Blick oder Kopfschütteln in Richtung ihres Freundes quittiert worden. Tom wusste nur zu gut, was sie dachte. Warum in aller Welt hatte er, der doch die Anfälligkeit seines Freundes in bestimmten Bereichen kannte, Lance mit einer so ausgiebig ausufernden Bürde düsterer Trübsal beladen? Warum nur? Tom stellte sich die Frage selbst. Ich hatte mitten in der Nacht das verzweifelte Bedürfnis, mit einem Freund zu reden, gab er sich zur Antwort. Aber warum Lance? Warum nicht Olly? Nun, weil Lance sich auf das Weichliche, Verletzliche in ihm einlassen würde. Olly würde hingehen wollen, um die drei Männer aus dem Zug aufzuspüren und etwas gegen sie zu tun. Deshalb. Das ist keine Entschuldigung, sagte Beths Geist. Das ist absolut keine Entschuldigung.

Beth hatte miterlebt, wie Olly bei ähnlichen Gelegenheiten mit Lance umgegangen war. Die kleinsten Gelegenheiten sofort nutzen, wenn sie sich ergeben. Das schien die Regel zu sein. Selbst ein winziger Schritt in die richtige Richtung war besser als nichts. Sie beschloss, es zu versuchen.

 

»Lance, ich habe hier zwei meiner besten Freunde am Hals, die beide tief im Loch der Verzweiflung stecken. Um damit klarzukommen, brauche ich eine Menge Energie, und ich habe noch nichts gegessen. Könnten wir vielleicht hinunter zum Goldenen Drachen gehen und dort weiter Trübsal blasen? Ich verspreche dir, du musst dich nicht besser fühlen. Du darfst sogar für uns bezahlen, wenn dir das hilft, dich schlechter zu fühlen. Was meinst du?«

Zum ersten Mal an diesem Abend schaute Lance ihr voll ins Gesicht. Ein ermutigend spöttischer Ausdruck spielte um seinen Mund.

»Ente?«

»Was sonst?«

»Mit Frühlingsrolle?«

»Natürlich.«

»Hoi-Sin-Sauce?«

»Eimerweise.«

»Ein bisschen Grünzeug?«

»Alles hat seine Grenze, Lance.«

Er nickte feierlich und warf einen Blick auf die vertrockneten Sandwichs an seiner Seite. »Na schön, ich komme mit. Ich habe den ganzen Tag hier herumgesessen. Während ich mich umziehe, könnt ihr zu Mum gehen und ihr sagen, dass sie das Richtige getan hat.« Da war wieder das winzige Lächeln. »Danke, dass ihr gekommen seid.«

»Gern geschehen«, sagte Tom erleichtert und lächelte seinerseits, als er aufstand. »Wir sehen uns unten.«