Darky Green

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FREITAG

1

Im Gaterose-Supermarkt in Lipsham fiel es Noreen Wilson außerordentlich schwer, sich auf ihre Wochenendeinkäufe zu konzentrieren. Sie machte sich große Sorgen um ihren Sohn Lance.

Natürlich nicht solche Sorgen, wie ihre Freundin und Nachbarin June Parsons sie sich um ihren Jungen machte. Nein, nein, so schlimm war es nicht. Die arme June. Sie tat Noreen sehr leid. Robert Parsons, der ein paar Jahre jünger war als Lance, hatte sich schon gleich zu Anfang, als er in die Valley Road gekommen war, mit einer Bande richtiger kleiner Gangster eingelassen und seither war es immer schlimmer mit ihm geworden.

Wie Noreen war auch June Witwe geworden, als Robert noch ein ganz kleiner Junge war, und für die beiden Männer, mit denen sie seither eine Beziehung aufzubauen versucht hatte, war das Leben durch ihren Sohn schier unerträglich geworden. Sie hatte auch aufgehört, Robert gegenüber anderen Leuten zu verteidigen. In der Vergangenheit hatte sie das oft getan. Sie hatte geglaubt, damit im Recht zu sein. Jetzt nicht mehr. Schließlich konnte sie nicht unendlich oft immer wieder behaupten, dass ihr hartnäckig delinquenter Sohn im Grunde ein guter Junge sei. Er war kein guter Junge. Seit sie die Erkenntnis, was für einer er war, akzeptiert hatte, war sie für June zu dem Albtraum geworden, aus dem sie nie wieder zu erwachen fürchtete. Ihr Sohn war ein grauenhafter Mensch, der sich offenbar um nichts und niemanden scherte. Sie hatte versagt. So sah sie das.

Das eine oder andere Mal, wenn Noreen vormittags auf eine Tasse Kaffee vorbeigekommen war, hatte June ein altes Fotoalbum aus der Schublade im Wohnzimmer genommen und ihrer Freundin Bilder von dem kleinen Bobby gezeigt, im Garten oder mit seinem Vater auf dem Spielplatz gleich gegenüber von ihrem Haus auf der anderen Straßenseite. Einige waren am Meer entstanden und zeigten ihn, wie er neben seiner Mutter auf einer Decke saß und mit einer Plastikschippe in die Kamera winkte oder wie er in den seichten Wellen am Ufer planschte. Selbstbewusst, begeistert und unschuldig sah er aus auf all jenen Bildern. Wenn Noreen an das abgemagerte Gespenst dachte, das heute den lieben langen Tag vor dem Fernseher herumfläzte oder in gebückter Haltung durch die Straßen von Lipsham streifte, kam es ihr so vor, als hätten diese beiden Menschen überhaupt nichts miteinander zu tun.

Während Noreen sorgfältig Möhren, Pastinaken und Kartoffeln für die Lammkoteletts aus dem Sonderangebot auswählte, die sie am Sonntag für sich und Lance zum Mittagessen machen wollte, fühlte sie sich ein wenig schuldig wegen ihrer eigenen Sorgen. Lance hatte ihr nie solchen Kummer gemacht, wie June ihn durch Robert hatte. So weit sie sich zurückerinnern konnte, hatte er immer ein freundliches, liebevolles Wesen gehabt. Schon ganz zu Anfang seines Lebens war er eines jener »freundlichen« Babys gewesen, wie Noreen sie immer genannt hatte. Natürlich hatte er manchmal auch geschrien. Schließlich müssen Babys sich ja irgendwie mitteilen, oder? In der winzig kleinen Welt eines Babys konnte ganz plötzlich irgendetwas schiefgehen, und das musste auf der Stelle in Ordnung gebracht werden. Das verstand sich von selbst. Meistens jedoch hatte Lance fast die ganze Zeit, solange er wach war, so friedlich und zufrieden gestrahlt, wie es die meisten Babys immer nur in den wenigen Minuten unmittelbar nach einer ordentlichen Mahlzeit tun. Er war nie kompliziert gewesen.

Und er hatte, nun, eine Art Weisheit an sich gehabt, schon damals, als er noch ganz klein war. Eigentlich eine alberne Vorstellung. Sie war seine Mutter. Diejenige, die verantwortlich für ihn war. Diejenige, die sich um ihn kümmerte. Ja, Lance war nur ein hilfloses Baby. Und doch war da etwas in jenen gelassen lächelnden Babyaugen, die zu ihr emporschauten, etwas so Zuversichtliches, so Sicheres und Heiteres, dass es Noreen fast so vorkam, als wäre sie das bedürftige Kind und Lance derjenige, der mit seinem Schmunzeln das Leben bis in die Tiefe durchschaute und seine Weisheit mit ihr zu teilen bereit war. Ja, ein freundliches Baby.

Hätte nur Derek noch erleben können, zu was für einem liebenswerten Menschen sich sein Sohn entwickelt hatte. Derek und sein Sohn hatten so vieles gemeinsam. Beide waren sehr stille Menschen. Empfindsam. Sanft und nachdenklich.

Dann war da die ganze Sache mit den Büchern. Für Vater und Sohn war es die größte Wonne, sich mit Büchern zu umgeben. Und sie waren beide Dichter. Sie hatte alle Gedichte von Derek behalten und sie Lance in einer besonderen Mappe geschenkt, als er achtzehn war. Diese blaue Ledermappe voller handgeschriebener Gedichte hatte ihren Platz auf einem Regal direkt neben seinem Bett. Sie war sein kostbarster Besitz. Von Derek war nie etwas gedruckt worden, aber von Lance waren schon eine ganze Menge Texte in Zeitschriften erschienen, einer oder zwei sogar in richtigen Büchern, die Sammlungen von Gedichten von allen möglichen Leuten enthielten. Und offen gesagt, verstehen musste man die Gedichte nicht unbedingt, um stolz darauf zu sein.

Ja, Noreen war sehr stolz auf ihren Sohn. Nachdem er an der Universität von Aberystwyth (so weit von zu Hause) den bestmöglichen Abschluss in Bibliothekswesen und Englisch gemacht hatte, hatte er in Kington eine Stellung als Bibliotheksassistent gefunden. Keine drei Jahre später hatte man ihn zum Leiter der Bestandsabteilung befördert und nun entschied er, welche Bücher angeschafft oder verkauft wurden, und beriet auch andere Bibliotheken in der Gegend.

Nette Freunde hatte er auch. Vor allem drei. Tom und Beth, die beide ein Jahr jünger waren als er, kannte er natürlich schon seit der Grundschule. Der umwerfende Olly, frisch an der Universität eingetroffen, um sein Wirtschaftsstudium zu beginnen, war der allererste Mensch gewesen, den Lance bei seiner Ankunft im Studentenwohnheim in Aberystwyth kennen gelernt hatte. Olly hatte sich um Lance gekümmert. Und ein Jahr später waren Tom und Beth, die auf alle guten Ratschläge pfiffen, man dürfe sich seine Universität nicht danach aussuchen, ob ein Freund bereits dort sei, ebenfalls eingetroffen, um ihr Studium zu beginnen. Seither waren die vier unzertrennliche Freunde, so unterschiedlich sie auch waren. Noreen fand sie alle großartig, aber für Olly hatte sie besonders viel übrig. Wie sie wusste, hatte er eine schicke Wohnung auf der Hove-Seite von Brighton. Das war die Gegend, in der er die meisten seiner Häuser und Wohnungen kaufte und verkaufte. Sie wünschte, er würde nicht so weit von Lipsham entfernt wohnen, damit Lance und er sich öfter sehen könnten, besonders im Moment.

Wenn die Freunde alle vier zusammen waren, schienen sie immer einen unglaublichen Spaß miteinander zu haben. Es tat gut, Lance laut lachen zu hören.

Wirklich, dachte Noreen, als sie ihre Nummer an der Käsetheke aus dem Spender zog und sich auf den Einkaufswagen stützte, um zu warten, bis sie an der Reihe war, sie hatte allen Grund, sich über Lance zu freuen. Jeden Grund. Bis auf einen.

Eine Entscheidung hatte Noreen im Supermarkt noch zu treffen, nachdem sie sich mit Käse und geräuchertem Schinkenspeck und einem Dreiviertelpfund von dem leckeren panierten Schinken eingedeckt hatte, den sie letzte Woche probiert hatten. Apfelkuchen. Sollte sie Zeit sparen und sich aus der Tiefkühltheke einen eingefrorenen Kuchen von der Hausmarke holen oder sollte sie noch einmal zurück in den ersten Gang gehen und ein paar schöne, große Kochäpfel holen, damit sie selbst einen machen konnte? Noreen schüttelte den Kopf und wunderte sich wie jedes Mal, dass sie sich diese Frage überhaupt stellte. Nun ja, möglich war es ja, dass einmal ein Tag kommen würde, an dem sie sich für den Fertigkuchen entscheiden würde, aber nicht heute. Sie wendete den Einkaufswagen und steuerte zurück in die Frischobstabteilung.

Eine schlechte Eigenschaft gab es, die Lance mit seinem Vater gemeinsam hatte. Noreen hatte keine Ahnung, ob sie erblich war oder nicht. Manchmal hatte sie sich schon gewünscht, dass es definitiv so wäre. Dann wieder quälte sie gelegentlich der Gedanke, irgendetwas an ihr müsse schuld an den schrecklichen finsteren Abgründen der Depression sein, in denen beide von Zeit zu Zeit versanken. Derek hatte das in der Zeit, seit sie ihn kennengelernt hatte, drei Mal durchgemacht. Das letzte Mal war es etwa ein Jahr, bevor er an der schrecklichen Krebserkrankung starb, die seinen ganzen Körper gelb verfärbte und ihn von innen her aufzufressen schien wie ein wildes Monster.

So sehr sie sich auch bemühte, Noreen hatte es einfach nicht geschafft, sich mit den Sorgen zu identifizieren, die Derek in diesen letzten seiner schwarzen Tunnels geschickt hatten. Soweit sie feststellen konnte, fing es damit an, dass er über die unzähligen Generationen von Männern und Frauen nachgrübelte, die während der Menschheitsgeschichte gelebt hatten und gestorben waren. Er hatte davon geredet, wie dieser ganze Prozess sich dahinwälzte wie eine riesige, geistlose, unaufhaltsame Maschine. Wieso versuchten wir erbärmlichen Menschenwesen uns einzureden, das Ganze hätte irgendeine Bedeutung? Das Nachdenken über all das machte ihn allmählich mürbe und saugte ihm die Energie aus, die er brauchte, wenn er weiter so tun wollte, als ob irgendetwas von alledem auf lange Sicht einen Sinn hatte.

Dann hörte er auf, so viel zu reden, und verschwand in seinen Büchern. Das war das Muster; so hatte Noreen das schon zuvor erlebt. Er schien es geradezu darauf anzulegen, alles noch schlimmer zu machen. Denn es waren alles die grundfalschen Bücher. Die Bücher speisten die Dunkelheit, die in ihm war, statt sie auszuhungern und Platz zu schaffen, damit Licht hereinkonnte. Aus dem Fenster starren oder über gedruckten Seiten brüten. Das war für eine Weile alles, was Dereks Leben ausmachte.

 

Noreen konnte beim besten Willen nicht begreifen, wieso jemand so versessen auf die Katastrophe war. Sie selbst hatte einen ganz schlichten Glauben. Einen Glauben, der nie wirklich Fragen stellte oder Wegverzweigungen erkundete, aber der sie in schwierigen Zeiten auf den Beinen hielt. Doch es steckte noch mehr dahinter. Mehr als nur eine Krücke oder eine Flasche Whisky. Er brachte etwas Helles in die Welt. Er machte Hoffnung möglich. Wenn man sie in die Enge getrieben hätte, dann hätte sie wohl etwas davon gesagt, dass Liebe – echte Liebe – unzerstörbar sei. Aber sie hätte sich nicht gern in die Enge treiben lassen und freiwillig hätte sie ihre Ansichten nie geäußert.

Noreen war außer sich vor Sorge gewesen. Es war wieder über ihren Mann gekommen. Es war nicht leicht, aber schließlich konnte sie Derek dazu bewegen, einen Arzt aufzusuchen. Der Arzt schickte ihn zu einem Psychiater namens Dr. Siddons.

Das war genau das Richtige. Dr. Siddons war eine große Hilfe für Derek und Noreen. Es war das erste Mal, dass jemand ihr die Sache so erklärte, dass sie das Gefühl hatte, sie zu verstehen. Er sagte ihr, solche Dinge machten empfindsamen Leuten wie Derek hin und wieder zu schaffen. Statt ihren Zorn auf die Sache oder die Person zu richten, die ihn ausgelöst hatte, kehrten sie ihn nach innen und begruben ihn irgendwo in ihrem Geist. Wenn das über längere Zeit immer wieder geschah, konnte sich all der verborgene Zorn, der sozusagen geistig nie verdaut worden war, in eine Depression verwandeln und damit zu einem Problem werden, wie es Derek zu schaffen machte.

Zeit und Medikamente brachten die Wende. Derek wurde wieder er selbst. Es gab einen bestimmten Moment in einer bestimmten Stunde an einem bestimmten Tag, in dem Noreen sich einen Kaffee einschenkte und zu dem Schluss kam, dass sie sich jetzt entspannen und wieder anfangen durfte, ihr Leben zu genießen. Keinen ganzen Monat später zeigten sich die ersten Symptome von Dereks Krebs. Bevor das Jahr zu Ende war, war er tot.

Noreen war mit ihrem Einkauf fertig. Der letzte Artikel, der in ihren Wagen gewandert war, war eine Flasche Bristol Cream Sherry. Das elegante, an altes Apothekeninventar erinnernde Gefäß aus schwerem blauen Glas verhieß ihr ein wenig süßen Trost für später. Ein seltener Genuss. Immer waren es Noreens eigenwillige Hände, die ohne ihr Zutun diesen besten aller Sherrys aus dem Regal in der Wein- und Spirituosenabteilung nahmen und vorsichtig unten in den Einkaufswagen zwischen die übrigen Waren legten. Ohne diesen kleinen bewussten Selbstbetrug hätte sie es gar nicht fertiggebracht, ihn zu kaufen. Schon der Gedanke, irgendetwas nur für sich selbst zu tun, reichte aus, damit sie schuldbewusst nach links und rechts schielte und fürchtete, ihre seit Langem tote Mutter könnte beobachten, was sie im Schilde führte, und herüberkommen, um ihr die Leviten zu lesen.

Eine Kasse war frei. Gut. Sie fing an, ihre Einkäufe auf das Transportband zu legen.

»Hallo«, flötete das junge Mädchen an der Kasse, das noch neu in diesem Job war und erst vor zwei Tagen das Trainingsvideo gesehen hatte. Deshalb war ihr noch deutlich vor Augen, dass es ein wichtiger Aspekt der Politik ihres Unternehmens war, jeden ihrer Kunden auf diese Weise fröhlich zu begrüßen.

»Hallo, meine Liebe«, lächelte Noreen, die nie irgendeine Politik verfolgte, aber ausnahmslos zu jedem Menschen freundlich war, dem sie begegnete.

Lances Depressionen waren nie so schlimm gewesen wie die seines Vaters – nun ja, jedenfalls bisher nicht. Zum ersten Mal waren sie ernsthaft aufgetreten, als er kurz vor dem Schulabschluss stand. Nachdem er sich wochenlang wie üblich in seine Arbeit gekniet hatte, hatte ihn mit erschreckender Plötzlichkeit wie eine Besessenheit die Überzeugung gepackt, das alles sei doch nur Zeitvergeudung, er werde wahrscheinlich doch nur mit Pauken und Trompeten durchfallen, also was sollte das Ganze überhaupt? Anfangs hatte sich diese pessimistische Sichtweise Tag für Tag als eine Art dumpfe Niedergeschlagenheit gezeigt, doch nachdem Noreen eines Samstagmorgens ihrem Sohn am Küchentisch gegenübergesessen, seine beiden Hände gehalten und hilflos zugesehen hatte, wie ihm die Tränen übers Gesicht strömten, hatte sie bestürzt erkannt, dass etwas geschehen musste. Der Doktor, inzwischen ein neuer, seit Derek gestorben war, war auf der Höhe der Zeit. Er hatte einen geschulten Therapeuten und eine Krankenschwester in seiner Praxis angestellt. Nach einer langen Unterhaltung mit dem bedrückten Jugendlichen hatte der Doktor einige Sitzungen bei dem Therapeuten angesetzt, die binnen Kurzem beginnen sollten.

Bald zeigte sich, dass Lance seine Gefühle über den Tod seines Vaters nie richtig ausgedrückt hatte, oder zumindest nicht so, dass es ihn weitergebracht hätte. Jetzt, am Ende seiner Schulzeit, wünschte er sich seinen Vater an seiner Seite, als Helfer, Unterstützer und Ratgeber.

Unterstützt und abgelenkt von seiner eigenen Therapie vergrub sich Lance bald wieder im Lernen, auch wenn er auf Steves Vorschlag hin die Sitzungen noch einige Wochen lang fortsetzte, nachdem die schlimmste Phase seiner Depression vorbei war.

Das nächste Mal war es um den Beginn seines zweiten Jahres auf der Universität so weit gewesen – in einer Zeit, in der etliche Studenten den sogenannten »Drittsemesterblues« durchlebten, wie man Noreen erklärt hatte. Diesmal erfuhr sie eigentlich erst davon, als es schon mehr oder weniger bewältigt war. Beth erzählte ihr viel später davon. Offenbar ging es irgendwie um Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Repressive Regime. Kriminellen Missbrauch von Entwicklungsgeldern. Das Wohl des Volkes als Ganzes wurde an die erste Stelle gestellt und die dringenden Bedürfnisse echter einzelner Menschen hatten das Nachsehen. Das Elend des Welthungers. Kleinkarierte Psychopathen, denen die totale Macht auf dem Silbertablett gereicht wurde. Und unter alledem anscheinend, für Noreen völlig unerklärlich, wieder jene Angst vor dem Versagen. Das Grauen davor, mit nichts in den Händen aus dem Westen zurückzukehren. Keine Beute. Nichts für den Topf. Wie konnte es auch anders kommen bei jemandem, der gar kein richtiger Mann war?

Diesmal keine Psychiater oder Therapeuten. Nur Freunde. Olly und Tom und Beth. Hauptsächlich aber, so erfuhr Noreen, Olly, der stundenlang mit Lance im Café des Kunsthandwerkerviertels saß oder zuschaute, wie das Wetter an stürmischen Tagen das Wasser der Cardigan Bay aufpeitschte. Am Ende wurde alles gut. Das zweite Jahr ging vorbei und das dritte kam. Lance hatte ein erstklassiges Examen hingelegt. Olly natürlich ebenso. Beth und Tom, die beide Englisch als einziges Fach belegt hatten, hatten mit Zwei abgeschlossen. Während jener drei Jahre war Olly manchmal während der Ferien bei Lance zu Besuch gewesen. Noreen vergötterte Olly. Er behandelte sie wie eine Königin und er hatte den Kniff heraus, sich mitten im tiefen Herzen ihrer Küche breitzumachen, als hätte er schon immer dort gewohnt. Als Lances Studium zu Ende ging, hatte Noreen die endlose und endlos komplizierte Eisenbahnreise hinunter nach Aberystwyth unternommen, um sie alle bei der Abschlussfeier in ihren gemieteten Roben zu sehen, wie sie ihre akademischen Hüte in die Luft schleuderten, während die stolzen Eltern, die es geschafft hatten zu kommen, Bilder schossen.

Ja, auf lange Sicht war alles gut gegangen, aber seit der Universität war dann die ganze Sache mit den Regenwäldern und der globalen Erwärmung und alledem gekommen. Der Himmel wusste, worum es dabei in Wirklichkeit gegangen war. Jene finstere Wolke hatte sich Gott sei Dank wieder aufgelöst, bevor die Natur und der Ursprung ihres Kerns offenbar wurden. Noreen war es nie gelungen, das Gefühl abzuschütteln, dass möglicherweise sie an allem schuld war. Vielleicht hatte sie irgendeinen Fehler gemacht, als Lance klein war, ohne zu merken, was sie da tat. Hatte sie ihn irgendwie verkorkst? Gewollt hatte sie das auf keinen Fall.

Und jetzt ging es wieder los. Sie konnte es einfach nicht glauben. Noreen packte ihren Einkaufswagen ein bisschen fester, biss sich auf die Unterlippe und blinzelte heftig, um die Tränen zu unterdrücken, die plötzlich in ihr aufstiegen. Jetzt bloß nicht albern werden. Reiß dich lieber zusammen und tu etwas Nützliches. Etwas, das hilft. Sie schlug die Augen auf, zog ein Taschentuch aus dem Ärmel ihres Mantels, putzte sich die Nase und stieß einen kleinen Seufzer aus. Dann zog sie den Wagen mit einer Hand näher zu sich, nahm ihre Handtasche heraus und fischte darin herum, bis sie ihr kleines Notizbuch mit den Telefonnummern hinten drin gefunden hatte. Jetzt noch ein bisschen Kleingeld. Zehn Pence reichten heute nicht einmal mehr aus, um durchzukommen, und selbst zwanzig Pence waren im Nu verbraucht. Aber zwei Fünfzig-Pence-Stücke müssten reichen. Ja, gut. Sie fand noch vier davon zwischen dem anderen Kleingeld in dem kleinen Reißverschlussfach ihrer Handtasche.

Mit einem stummen, entschlossenen Nicken packte sie den Einkaufswagen mit beiden Händen, schwenkte ihn vorsichtig um hundertachtzig Grad und machte sich auf den Weg zum Hauptausgang. Soweit sie sich erinnerte, befanden sich dort in einer Nische neben jener großen Drehtür ein paar Telefonsäulen an der Wand.

2

Beth war bei Tom, als Noreens besorgter Anruf vom Supermarkt kam.

In gewisser Weise war der Anlass der Unterbrechung eine große Erleichterung. Schon seit über einer Stunde hatten die beiden trübsinnig über ihren teilweise geleerten Kaffeebechern und teilweise verzehrten Keksen gehockt. Endlos hatten sie Toms unerklärliches Erlebnis im Zug in allen Einzelheiten auseinandergenommen und erörtert, in dem verzweifelten Bemühen, sich einen Reim auf diesen Wachalbtraum zu machen, der doch anscheinend keinerlei Sinn hatte und der zutiefst und nachhaltig erschreckend war.

Beth fand Toms bedrohliche Zeitlupenkatastrophe tief beunruhigend; teilweise natürlich wegen der möglichen körperlichen Gewalt, die ihrem Freund in der Zukunft drohen könnte. Zugleich aber war ihr sehr deutlich bewusst, dass jenes Erlebnis im Zug Wasser auf die Mühle von Toms Furcht vor seiner eigenen Hilflosigkeit angesichts von Gewalt war, die ihm ohnehin schon immer sehr zu schaffen gemacht hatte. Gab es irgendetwas, was er und Beth praktisch tun konnten, irgendetwas, was wirklich helfen konnte?

»Angenommen, das war alles von irgendjemandem geplant«, hatte Tom gerade gesagt, bevor das Telefon klingelte. »Das macht die Sache doch nur noch merkwürdiger, findest du nicht? Ich meine, lieber Himmel, was habe ich denn an mir, was habe ich getan oder was könnte ich tun, das diesen ganzen Aufwand rechtfertigen könnte? Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn. Es ist Wahnsinn! Absoluter Wahnsinn!«

Nachdem sie das Telefon zum Schweigen gebracht hatte, indem sie den Hörer von der Gabel an der Wand nahm, hörte Beth drei oder vier Minuten lang der Person am anderen Ende der Leitung zu. Ihr Beitrag zu dem Gespräch bestand nur aus einem gelegentlichen mitfühlend zustimmenden Gemurmel.

»Ja, Noreen«, sagte sie schließlich entschieden. »Natürlich kommen wir – sofort, nachdem ich aufgelegt habe, versprochen. Bis gleich.«

Tom hörte auf, sich mit den Händen das Gesicht zu reiben, und blickte fragend auf.

»Noreen«, sagte Beth. »Lances Mutter. Der arme alte Lance ist wieder mal dabei, in einem seiner schwarzen Löcher zu verschwinden. Ob wir mal nach ihm sehen können?«

Tom stand auf, klopfte sich auf die Taschen und sah sich in der Küche nach dem Autoschlüssel um. Er fand ihn in einer kleinen Metallpyramide hinter dem Becher, der vor ihm auf dem Tisch stand. Er griff nach dem Schlüsselbund und klingelte laut damit. Punkt.

»Okay – gehen wir.«

Beth atmete erleichtert auf. Sie war froh, dass der Kreislauf durchbrochen war, wenigstens für eine kleine Weile.