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Freiheitsbeschränkungen von der Wiege bis zur Bahre

Letzteres wurde mir wieder einmal bewusst, als ich im Herbst 2018 den Prozess gegen die Ärztin Kristina Hänel im Landgericht Gießen verfolgte. Hänel war in erster Instanz verurteilt worden, weil sie auf ihrer Webseite darauf hingewiesen hatte, sie würde Schwangerschaftsabbrüche durchführen, was nach § 219a Strafgesetzbuch (Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft) bis Anfang 2019 strikt verboten war. (Übrigens folgte die Bundesrepublik Deutschland auch hier der Nazigesetzgebung, nämlich dem »Gesetz zur Abänderung strafrechtlicher Vorschriften« vom 26. Mai 1933). Der Richter machte in der Berufungsverhandlung deutlich, dass er große Sympathien für das Anliegen Kristina Hänels hege und dass der Staat in gravierender Weise in die Grundrechte von ÄrztInnen und ungewollt schwangeren Frauen eingreife. Dies sei aber nach herrschender Rechtsmeinung (Urteile des Bundesverfassungsgerichts in den 1970er und 1990er Jahren) dadurch legitimiert, dass bereits der Embryo »Menschenwürde« besäße und Träger von Grundrechten sei, weshalb das Urteil der ersten Instanz bedauerlicherweise nicht aufgehoben werden könne.

Jetzt, da ich dies schreibe (Ende Januar 2019), hat die Bundesregierung einen »Kompromiss« ausgehandelt, um die Proteste zu entschärfen, welche die Verurteilung Kristina Hänels ausgelöst haben. Danach dürfen Ärztinnen und Ärzte zwar darüber informieren, dass sie Abtreibungen vornehmen, müssen sich dabei aber auf amtliche Informationen beschränken. Ansonsten bleibt alles beim Alten: Der Schwangerschaftsabbruch soll weiterhin als »rechtswidrig« gelten und die betroffenen Frauen müssen sich weiterhin einer Zwangsberatung unterziehen, in dessen Zentrum der »Schutz des ungeborenen Lebens« steht, um einer Strafverfolgung zu entgehen. Legitimiert werden diese Eingriffe in die Selbstbestimmungsrechte der Frauen weiterhin mit der »herrschenden Meinung«, dass schon der Embryo »Menschenwürde« besäße.

Womit aber lässt sich diese »herrschende Meinung« begründen? Der Verweis auf Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes »Die Würde des Menschen ist unantastbar« gibt dies nicht her. Im Gegenteil! Denn die »unantastbare Würde« des Menschen wird hier mit den »unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten« in Verbindung gebracht. In Artikel 1 der Menschenrechtserklärung steht aber klar und deutlich, dass alle Menschen mit gleicher Würde und gleichen Rechten geboren sind – mit gutem Grund heißt es dort nicht, dass sie mit gleicher Würde und gleichen Rechten gezeugt wurden.

Sucht man nach der eigentlichen Quelle für die merkwürdige deutsche Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch und Embryonenschutz, so landet man nicht bei der UN-Menschenrechtserklärung, sondern bei einem der größten Verächter der Menschenrechtsidee: Papst Pius IX. Dieser als besonders rückständig bekannte Pontifex hatte 1869 das Konzept der »Simultanbeseelung« (Beseelung im Moment der Befruchtung der Eizelle) zur unhinterfragbaren »Glaubens-Wahrheit« gemacht. Zuvor waren Katholiken oft von dem alternativen Konzept der »Sukzessivbeseelung« ausgegangen, welches besagt, dass sich die »Seele« in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten erst entwickelt, was Abbrüche bis zu diesem Zeitpunkt erlaubte.

Theologisch begründet war die Entscheidung des Papstes durch ein besonders obskures Dogma, das er bereits 15 Jahre zuvor erlassen hatte, nämlich das »Dogma der unbefleckten Empfängnis Mariens«, wonach nicht nur der »Heiland«, sondern schon dessen Mutter »erbsündenrein« empfangen wurde. Offenkundig litt Pius IX. nach der Verkündigung dieses Dogmas im Jahre 1854 sehr unter dem Gedanken, dass die »sündenfrei« empfangene Gottesmutter nach dem Konzept der »Sukzessivbeseelung« in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten »vernunft- und seelenlose Materie« gewesen sein könnte. Also erhob er 1869 zu Ehren der »Heiligen Jungfrau« die »Simultanbeseelung« zur verbindlichen »Glaubens-Wahrheit« – eine Posse, über die man schmunzeln könnte, würde sie nicht noch heute die Gesetze des angeblich »säkularen Staates« bestimmen!

Indem der deutsche Gesetzgeber das katholische Glaubensdogma der »Simultanbeseelung« (wenn auch in leicht abgeschwächter Form) zur allgemein gültigen Norm erhebt (nämlich in den Paragraphen 218 bis 219b Strafgesetzbuch/StGB, die den Schwangerschaftsabbruch regeln), verstößt er in empfindlicher Weise gegen das Verfassungsgebot der weltanschaulichen Neutralität. Er privilegiert Menschen, die mit den Vorgaben der katholischen Amtskirche übereinstimmen (zweifellos nur eine kleine Teilmenge der Kirchenmitglieder) und diskriminiert all jene, die diese Überzeugungen nicht teilen – nicht nur die vielen Menschen, die religiöse Konzepte per se ablehnen, sondern beispielsweise auch gläubige Juden (für die das menschliche Leben erst mit der Geburt beginnt) oder Muslime (für die der Fötus erst ab dem 120. Tag der Schwangerschaft beseelt ist).

Wie müsste demgegenüber eine Gesetzgebung aussehen, die den auch grundlegenden Anforderungen einer rationalen, evidenzbasierten, weltanschaulich neutralen Begründung genügt? Nun, zunächst einmal müsste sie die empirischen Fakten zur Kenntnis nehmen, die für die ethische und juristische Bewertung des Schwangerschaftsabbruchs relevant sind. Interessant sind dabei unter anderem die folgenden beiden Punkte:

– Erwiesenermaßen geht etwa die Hälfte der befruchteten Eizellen spontan wieder ab, was nur in knapp 20 Prozent der Fälle überhaupt bemerkt wird. Angesichts dieser Häufigkeit des natürlichen Aborts ist es geradezu absurd, dass der Gesetzgeber die Folgen des künstlichen Aborts, also des Schwangerschaftsabbruchs, derart dramatisiert, dass er den betroffenen Frauen eine »zumutbare Opfergrenze« (§ 219 StGB) abverlangt. (Nebenbei bringt diese empirische Tatsache auch die Anhänger der »Simultanbeseelung« in Bedrängnis: Denn warum sollte »Gott« jedem Embryo eine »ewige Seele« einhauchen – und sie kurz darauf der Hälfte von ihnen wieder aushauchen? Ist der »Allmächtige« etwa verwirrt oder hat er gar »Spaß« am Abort?)

– Embryonen verfügen nachweislich nicht über personale Eigenschaften (etwa Ich-Bewusstsein), sie sind nicht einmal leidensfähig, haben daher auch keinerlei Interessen, die in einem Konflikt ethisch oder gar juristisch berücksichtigt werden könnten. Erst mit der 20. Schwangerschaftswoche beginnt die Entwicklung der Großhirnrinde, so dass wir es ab einer bestimmten Entwicklungsstufe des Fötus (nicht des Embryos.) mit einem empfindungsfähigen Lebewesen zu tun haben, dessen »Interessen« in einer Güterabwägung beachtet werden können.

Daraus ist zu folgern: Der Gesetzgeber kann zwar mit rationalen, evidenzbasierten, weltanschaulich neutralen Gründen verfügen, dass Spätabtreibungen nur in Ausnahmefällen zulässig sind, um entwickelten Föten Leid zu ersparen. Derartige Gründe liegen aber nicht vor, wenn der Staat bewusstseins- und empfindungsunfähigen Embryonen »ein eigenes Recht auf Leben« einräumt und dieses vermeintliche »Recht« gegen die Selbstbestimmungsrechte der Frauen ausspielt. Deshalb sind die aktuell geltenden Bestimmungen zum Schwangerschaftsabbruch in Deutschland eindeutig verfassungswidrig – auch wenn das Bundesverfassungsgericht in den 1970er und 1990er Jahren von katholischen Lobbyisten so stark bedrängt wurde, dass es diesen klaren Verfassungsbruch nicht als solchen erkennen konnte bzw. wollte! Wenn also ungewollt schwangere Frauen weiterhin Zwangsberatungen über sich ergehen lassen müssen, wenn es dabei bleibt, dass der Schwangerschaftsabbruch als »prinzipiell rechtswidrig« eingestuft wird, so handelt es sich dabei um nichts anderes als um religiöse Schikane, die dem demokratischen Verfassungsstaat zwingend untersagt ist!

Was ich hier für die Frage des Schwangerschaftsabbruchs kurz skizziert habe, trifft in ähnlicher Form auf viele andere Bereiche unseres Lebens zu. Tatsächlich bestimmen nicht zuletzt irrationale, kontrafaktische, weltanschaulich parteiische (mit christlichen Glaubensvorstellungen begründete) Vorgaben darüber, was man uns in öffentlichen Bildungsinstitutionen beibringt, welche Rechte wir als Kinder haben, für welche Zwecke unsere Steuergelder ausgegeben werden, was in den öffentlichen Medien gesendet wird, was wir offiziell zu feiern haben, ja sogar, welche Drogen wir konsumieren dürfen und welche nicht. Auf all diese Punkte kann ich im Rahmen dieses Textes nicht eingehen. Springen wir stattdessen von der ersten Phase des Lebens zur letzten Phase.

Auch bei den Regelungen zur Sterbehilfe muss der liberale Rechtsstaat peinlich genau darauf achten, dass seine Gesetze die Pluralität der Würdedefinitionen seiner Bürgerinnen und Bürger berücksichtigen. So muss er es einem strenggläubigen Katholiken ermöglichen, den Überzeugungen von Papst Johannes Paul II. zu folgen, der meinte, man müsse als Sterbender das »Kreuz Christi« auf sich nehmen und das Leiden akzeptieren, da das Leben ein »Geschenk Gottes« sei, über das der Mensch nicht verfügen dürfe. Er muss es aber auch einem Anhänger der Philosophie Friedrich Nietzsches erlauben, »frei zum Tode und frei im Tode« zu sein.

Zwischen der Ächtung des Suizids bei Johannes Paul II. und dem Lob des Freitods bei Nietzsche gibt es ein breites Spektrum an unterschiedlichen weltanschaulich geprägten Wertehaltungen, über die seit Jahrhunderten gestritten wird. An diesem Streit darf sich selbstverständlich jedes Mitglied der Zivilgesellschaft beteiligen, der liberale Rechtsstaat muss sich dabei jedoch zurückhalten. Auf gar keinen Fall darf er sich – wie dies 2015 bei der Verabschiedung des »Sterbehilfeverhinderungsgesetzes« § 217 StGB (Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung) geschehen ist – zum Anwalt einer spezifischen, nämlich christlichen Weltanschauung machen und deren Werte zur allgemeinverbindlichen Norm erheben.

 

Man mache sich diese Ungeheuerlichkeit bewusst: Obgleich 80 Prozent der Bürgerinnen und Bürger (!) für eine Liberalisierung der Sterbehilfe votierten, beschlossen deren parlamentarische Vertreterinnen und Vertreter die Kriminalisierung, indem sie die ärztliche Freitodhilfe unter Strafe stellten. Die Parlamentarier folgten den Vorgaben der katholischen Amtskirche so weit, dass sie ein Gesetz verabschiedeten, das schwerstkranke Menschen katastrophalen Risiken ausliefert und ihnen die letzte Chance auf Selbstbestimmung nimmt, weil verantwortungsvolle Ärzte von nun an mit empfindlichen Strafen bedroht werden, wenn sie ihren Patienten in deren schwersten Stunden zur Seite stehen. (Falls Sie also irgendwann einmal qualvoll sterben müssen, wissen Sie, wem Sie das zu verdanken haben!)

Viele, die 2015 für das »Sterbehilfeverhinderungsgesetz« stimmten, begründeten dies mit ihrem »Gewissen« als Christen, wobei sie sich auf Artikel 38 Absatz 1 des Grundgesetzes beriefen, wo es heißt, dass die Abgeordneten des Deutschen Bundestages als »Vertreter des ganzen Volkes … an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen« sind. Tatsächlich aber zielt die »Gewissensformel« der Verfassung, die 1919 durch den jüdischen Sozialisten Oskar Cohn eingebracht wurde, keineswegs auf das private, womöglich gar religiös aufgeladene Gewissen des Abgeordneten ab, sondern auf das professionelle Gewissen eines Berufspolitikers, der seine Entscheidungen »nach bestem Wissen und Gewissen« treffen sollte.

Es geht hier also nicht um die religiöse »Verantwortung vor Gott«, sondern einzig und allein um die politische Verantwortung gegenüber den Menschen, deren Interessen im Parlament vertreten werden, sowie um die rechtsstaatliche Verantwortung gegenüber den Vorgaben der Verfassung, die bei jeder parlamentarischen Entscheidung zu berücksichtigen sind. Mit anderen Worten: Gerade gewissenhafte Politikerinnen und Politiker sollten sich der Tatsache bewusst sein, dass sie gar nicht das Recht besitzen, ihre privaten Glaubensüberzeugungen zur allgemeinen Rechtsnorm zu erheben, nach der sich Andersdenkende richten müssen. Gerade sie müssten dem Verfassungsgebot der weltanschaulichen Neutralität des Staates folgen – notfalls auch gegen anderslautende (weltanschaulich parteiische) Vorgaben der eigenen Fraktion.

Wie weit die Fangarme der »Kirchenrepublik Deutschland« tatsächlich greifen, zeigt der Umstand, dass man sich ihnen nicht einmal durch den Tod entziehen kann. Denn in Deutschland herrscht Friedhofszwang – auch dies ein Rückgriff auf die Gesetzgebung der Nazis, nämlich auf das von Adolf Hitler und Wilhelm Frick unterzeichnete Gesetz zur Feuerbestattung aus dem Jahr 1934. Daher dürfen Angehörige in Deutschland nicht tun, was in vielen anderen Ländern der Welt erlaubt ist, nämlich den Wunsch der Verstorbenen erfüllen, ihre Asche im eigenen Garten zu verstreuen. Theologischer Hintergrund des Friedhofszwangs ist die Vorstellung von der »leiblichen Auferstehung der Toten«, die bis zum Tag des Jüngsten Gerichts in »geweihter Erde« ruhen sollen. Wir sehen: Wie so viele andere Normen des Staates beruhen auch die Bestattungsgesetze auf einem weltanschaulich parteiischen, vordemokratischen Rechtsverständnis, das dringend der Korrektur bedarf.

Es ist Zeit für einen grundlegenden Wandel!

Nun fragt man sich vielleicht, wie es sein kann, dass so viele Gesetze gegen die Verfassung verstoßen, ohne dass dies einen Aufschrei beispielsweise in den Rechtswissenschaften hervorruft. Ich führe dies auf ein Phänomen zurück, das ich als »blinden Fleck des deutschen Rechtssystems« bezeichne. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass Deutschland lange Zeit ein genuin christliches Land war, in dem deutlich mehr als 90 Prozent der Bevölkerung der katholischen oder evangelischen Kirche angehörten (1871: 98,6 Prozent, 1939: 95 Prozent, 1970: 93,6 Prozent). Vor dem homogenen Hintergrund einer christlich geprägten Gesellschaft fiel den meisten Rechtsexperten offenbar gar nicht auf, dass weder die Gesetze des Staates noch ihre juristische Auslegung dem Gebot der weltanschaulichen Neutralität genügten. Dies ist wohl erst jetzt in einer weitgehend säkularisierten, entchristlichten, weltanschaulich pluralen Gesellschaft erkennbar geworden, weshalb sich auch jetzt erst der Druck erhöht, grundlegende Reformen einzuleiten.

Fakt ist, dass in den letzten 50 Jahren ein fundamentaler gesellschaftlicher Wandel stattgefunden hat. Die Kirchen haben einen beträchtlichen Teil ihrer Mitglieder verloren, der Bevölkerungsanteil der »praktizierenden Gläubigen« ist auf magere 12 Prozent zurückgegangen. Inzwischen leben in Deutschland deutlich mehr konfessionsfreie Menschen als Katholiken oder Protestanten. In vielen Großstädten stellen sie bereits heute über 50 Prozent der Bevölkerung, und in absehbarer Zeit wird dies auf ganz Deutschland zutreffen. Politische Mehrheiten wird es daher in Zukunft nicht mehr gegen die Interessen der konfessionsfreien Menschen geben, sondern nur noch im Einklang mit ihren Interessen.

Daher ist nun endgültig der Zeitpunkt gekommen, um die Privilegien der Kirchen abzuschaffen. Sie sollten nicht mehr Rechte besitzen als andere gesellschaftliche Organisationen auch. (Damit könnte man in eleganter Weise auch dem Bestreben der Islamverbände entgegentreten, die für sich ebenfalls »religiöse Sonderrechte« reklamieren.) Machen wir den verantwortlichen Politikerinnen und Politikern des Landes also unmissverständlich klar, dass eine weitere Missachtung des Gebots der weltanschaulichen Neutralität des Staates nicht länger toleriert werden kann!

Die Verurteilung der Ärztin Kristina Hänel hat in den letzten Monaten Tausende von Menschen dazu gebracht, auf die Straße zu gehen, um gegen die Gängelungen des § 219a StGB und für eine Stärkung des sexuellen und reproduktiven Selbstbestimmungsrechts zu demonstrieren. Aber §219a StGB ist, wie wir gesehen haben, kein Einzelfall: Es gibt in Deutschland unzählige Gesetze, die bürgerliche Freiheiten aufgrund von irrationalen, kontrafaktischen, weltanschaulich parteiischen Vorgaben beschneiden. Nutzen wir also das Jahr 2019 mit seinen Verfassungsjubiläen »70 Jahre Grundgesetz« und »100 Jahre Weimarer Verfassung«, um diesen rechtspolitischen Skandal ins öffentliche Bewusstsein zu bringen! 100 Jahre Verfassungsbruch sind wahrlich mehr als genug! Es ist an der Zeit, die »Kirchenrepublik Deutschland« hinter uns zu lassen und dafür zu sorgen, dass aus Verfassungstext endlich Verfassungswirklichkeit wird.

CARSTEN FRERK

Seid umschlungen Millionen!
Die Kirchen und unser Geld Über Vermögen, Subventionen, Immobilien – und andere zweifelhafte Besitzstände

»Die Kirche ist reich – an Menschen«, so lautete jahrzehntelang eine der beständigsten Antworten von Kirchenfunktionären, wenn sie zu den Finanzen und dem Vermögen der Kirchen in Deutschland befragt werden. Dazu passt dann auch das Sprichwort: »Arm wie eine Kirchenmaus«. Warum? Weil es in den Kirchen keine Speisekammern gibt.

Das hat in Deutschland insofern Tradition, da – im Unterschied zu den USA – nur eine arme Kirche als glaubwürdig angesehen wird, getreu dem Jesus-Wort: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt.«

Im Herbst 2013 gab es allerdings den »Finanzskandal« um den Bischof von Limburg, Franz-Peter Tebartz-van Elst, der als »Prunk- und Protzbischof« geschmäht wurde. Im Zentrum der Medien- und Empörungswelle stand vor allem die vorgeblich 15.000 Euro teure Badewanne, und der Präsident der Caritas warnte seine Kirche: »Die Spenden brechen ein!«

Dass der Bischöfliche Stuhl des Bistums Limburg, als Rechtsträger, ein institutionelles Vermögen des Bischofs von mehr als 100 Millionen Euro besitzt, ging dabei unter. Schließlich musste der Bischof seinen Platz räumen, aber die ganzen Emotionen hatten zur Folge, dass die beiden Kirchen in eine überraschende Transparenz-Offensive gingen. Hatten sie jahrzehntelang geschwiegen, so legten die meisten Bistümer und Landeskirchen in den vergangenen Jahren nun Finanzberichte bzw. Bilanzen vor.

Das ist ein Anfang, denn sie wurden nach den Prinzipien des Handelsgesetzbuches angefertigt, das heißt alle Bewertungen erfolgen nach dem Niederstwertprinzip. Bei Beteiligungen brauchen nur die Anteile an den Stammeinlagen genannt zu werden, und Immobilien werden linear abgeschrieben und stehen nach 30 bzw. 40 Jahren nur noch mit dem »Erinnerungswert« von einem Euro in der Bilanz – auch wenn es eine 1a-Geschäftslage ist, mit einem aktuellen Marktwert von beispielsweise 30 Millionen Euro. Die vielen Immobilien im Kirchenbesitz (rund 87.000 Gebäude – ohne die 38.000 Kirchengebäude, die in Deutschland stehen) sind noch nicht bewertet, und in den Finanzberichten ist also noch »viel Luft nach oben«.

Die in den Finanzberichten vorrangig genannten Kapitalvermögen waren aber bereits überraschend hoch. Das Erzbistum Paderborn nennt (2015) ein Vermögen von 4,2 Milliarden Euro, das Erzbistum Köln 3,5 Milliarden Euro, das Erzbistum München und Freising 3,3 Milliarden Euro usw. Rechnet man die bisher veröffentlichten Zahlen der katholischen Bistümer zusammen, ergibt das 20,4 Milliarden Euro. Für die evangelischen Landeskirchen sind es 4,6 Milliarden Euro (Württemberg), 3,5 Milliarden (Bayern), 1,8 Milliarden (Rheinland) usw., zusammen 12,5 Milliarden Euro. Beide Kirchen nennen also insgesamt 32,9 Milliarden Euro Vermögen – nach dem Niederstwertprinzip. Diese Angaben beziehen sich zudem nur auf die Rechtsträger Bistum bzw. Landeskirche, in ihnen sind keinerlei Finanzen und Vermögen der Kirchengemeinden, der kirchlichen Organisationen und Stiftungen oder der Ordensgemeinschaften enthalten.

Obwohl es ein lobenswerter Anfang ist, gibt es dazu auch innerkirchlichen Widerspruch, der das traditionelle Schweigen weiter erhalten will.

Ein vielzitierter bekannter deutscher Dichter, Johann Wolfgang von Goethe, stellte in seinen Gesprächen mit Eckermann am 11. März 1832 fest: »Es ist gar viel Dummes in den Satzungen der Kirche. Aber sie will herrschen, und da muss sie eine bornierte Masse haben, die sich duckt und die geneigt ist, sich beherrschen zu lassen. Die hohe reichdotierte Geistlichkeit fürchtet nichts mehr als die Aufklärung der untern Massen.« Und das zu Recht.

Als eine Recherche ergab, dass die Kirchen zur Finanzierung ihrer beiden Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie nur 1,8 Prozent beitragen (alles andere zahlen die Krankenkassen, die Pflegekassen, die Patienten und der Staat) wurden von der Forschungsgruppen Weltanschauungen in Deutschland (fowid.de) 1000 Kirchenmitglieder befragt, wie sie dazu stünden. Die Frage lautete:

»Die Kirche unterhält mit den Einnahmen aus der Kirchensteuer ja auch viele soziale Einrichtungen. Einmal angenommen, die Kirche würde von den Einnahmen aus der Kirchensteuer nur einen sehr geringen Teil oder gar nichts für soziale Zwecke ausgeben. Wäre das für Sie persönlich ein Grund, aus der Kirche auszutreten, oder wäre das für Sie kein Grund?«

Immerhin: 46 Prozent der befragten Kirchenmitglieder antworteten, dass sie aus der Kirche austreten würden, wenn es so wäre – wir wissen, dass es so ist. Also: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Das Gesamtvermögen der beiden Kirchen in Deutschland wird auf ein Volumen von bis zu rund 400 Milliarden Euro geschätzt. Der wirtschaftliche Jahresumsatz aller kirchlichen Organisationen auf rund 130 Milliarden Euro.

Wie ist es dazu gekommen, nicht nur in Deutschland, sondern generell, und gilt dieses Wirtschaftsvolumen auch in anderen Teilen der Welt? Gehen wir also zurück in die Entstehungsgeschichte des Christentums und betrachten – in aller Kürze – die Entstehung und die Eigenarten der Organisation »Christliche Kirche«. Es geht also um ihre Weltlichkeit, vor allem um das Marketing der Kirchen, insbesondere der katholischen, weltumfassenden Kirche.