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Das müssen auch Allahs Religions-Funktionäre und allerlei beseelte Imame akzeptieren, die unter uns – und manchmal auch mit uns – leben. Mohammed, ihr Prophet, steht hierzulande nicht unter Denkmalschutz. Im siebten Jahrhundert geboren, hat er die Zeiten überdauert und ist vielen Muslimen bis heute ein moralisches, religiöses und mitunter auch politisches Vorbild. Ein Abgesandter Gottes.

Seine Worte geben Millionen Muslimen Orientierung, spenden ihnen Trost und Heil. Die überlieferten Beteuerungen und Verheißungen des Propheten haben Einfluss auf die politische Situation in mehreren islamischen Staaten und auf deren Gesetzgebung, sie bestimmen noch immer die Beziehung zwischen Männern und Frauen, auch zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen – also zwischen »Gläubigen« und »Un-Gläubigen«. Viele Moslems sind noch immer der Meinung, die Beleidigung des Propheten müsse bestraft werden. Allenfalls hinsichtlich der Härte der Strafe sind sie uneins. Satire missverstehen sie als Angriff auf ihre religiöse Identität.

Ob moslemische Gottes-Fanatiker, christliche Fundamentalisten, ob Hardliner des Vatikans oder alt-testamentarische Rabbiner – sie alle müssen zur Kenntnis nehmen: Wir leben in einem säkularen Verfassungs-Staat, alle Bürger dürfen ihren Gott, auch ihre Götter haben, der Staat aber ist in einer modernen Grundrechtsdemokratie gottlos. Jeder hat das Recht, sich über »Monty Python«-Filme zu erregen, Mohammed-Karikaturisten zu verurteilen oder den von mir so geschätzten Mr. Bean in die Hölle zu wünschen. Jeder hat das Recht, sich beleidigt zu fühlen. Doch das sollte er aushalten. Den Rest klärt in einem Rechtstaat die Justiz.

Um Religion geht es in diesem Buch. Zu mächtig, zu selbstherrlich und zu arrogant tritt sie allerorten auf. Zwar gehen ihrem Bodenpersonal die Rechtfertigungen aus, zwar verliert die Institution Kirche massiv an Glaubwürdigkeit und Deutungsmacht – und doch ist es ungebrochen vorhanden: das Verlangen nach einem Gott.

Woher aber kommt die Sehnsucht nach einem Gott, einer Religion, die stets etwas huldigt, das oberhalb und jenseits des irdischen Daseins steht? Woher der Glaube an eine heilige Jungfrau Maria, der »Unbefleckten«, woher der blinde Gehorsam gegenüber einem Gott, der den Menschen so sehr misstraut, dass er ihnen die Vernunft verbietet? Warum wird überall auf der Welt so andauernd und inbrünstig zu einem Gott gebetet, in dessen Namen gemordet und gemetzelt wird, einem Gott, der die Sünde erfindet, damit er die Vergebung versprechen kann, einem Gott, der niemanden neben sich duldet und schon gar nicht den Menschen? Ist es diese »Phantasma-Orgie aus Angst, Schuld und Himmelsglocken« (Andreas Altmann), seit Jahrtausenden verkündet in Kirchen, Moscheen und Synagogen? Ist es dieses immerwährende Glücksversprechen, flankiert von einer monströsen Angstmaschine, die den Menschen zum Gläubigen machen? Wohl beides.

Dass »es Religionen vor allem darum geht, die weltliche Ordnung zu zementieren«, darauf verweist Yuval Noah Harari. Religion sei eine angstbesetzte Übereinkunft. Wohlverhalten, Demut und Gottesfürchtigkeit: Nur wer Gott gehorcht (und seinen irdischen Verkündern und Verwaltern), der findet Aufnahme im Paradies, im Himmel oder in einem bislang unbekannten göttlichen Disneyland. »Gott existiert« – das ist Drohung, Rechtfertigung und Versprechen zugleich. Er befiehlt den Gläubigen, wie sie zu leben und sich zu verhalten haben. Wer sich ihm nicht unterwirft, wer sich weigert oder zweifelt, dem droht Ungemach und Verdammnis – die Hölle.

Monotheistische Religionen behaupten, nur der Mensch verfüge über eine unsterbliche Seele. Wer gibt da dem Himmel nicht den Vorrang? Sanftes »Seelenheil forever«, – eine grandiose Versprechung. Das alles ist kein Märchen aus der Kita, sondern ein äußerst wirkmächtiger Mythos, der auch Anfang des 21. Jahrhunderts noch das Leben von Milliarden von Menschen bestimmt. Die Überzeugung, Menschen hätten eine unsterbliche Seele, bildet noch immer den Überbau unseres rechtlichen, politischen und gesellschaftlichen Lebens. »Sie reden über die Glückseligkeit im Jenseits, wollen aber die Macht im Diesseits«, sagt Christopher Hitchens.

Die wichtigsten Stützen für den Machterhalt sind nicht evolutionäre Fakten, auch nicht moralische Prinzipien (die am wenigsten), sondern Tatsachenbehauptungen, wie: »Gott existiert« oder »Der Papst ist unfehlbar« oder auch »Allah ist der Allmächtige«. Nicht wissen soll der Mensch (der Sünder), sondern glauben. Dieses Modell – man darf es Geschäftsmodell nennen – hat sich seit Jahrtausenden in allen Religionen bewährt. Die Macht der Kirche nährt sich seit Jahrtausenden vom schlechten Gewissen der Gläubigen.

Augenfällig ist: Für alles Schöne und Gute im Basar der Glückseligkeit reklamiert der Liebe Gott gerne die Urheber- und Patenschaft. Für Unglück, Katastrophen und Scheußlichkeiten jeder Art ist der sündhafte Mensch verantwortlich. Erdbeben, Überschwemmungen und Tsunamis gehen auf das Konto teuflischer Kräfte. Ein moderates Erklärungsmodell. Gott ist immer der Gewinner.

Immerhin: Der Einfluss schwindet. Wo die Religion einst durch völlige Kontrolle der Weltsicht in der Lage war, das Aufkommen der Rivalen, der Abtrünnigen und Zweifler zu verhindern oder zu bekämpfen – hat sie ihr Angst-Instrumentarium verloren. Ob Menschen, gerade geboren, durch das Entfernen der Vorhaut traktiert werden, andere sich auf den beschwerlichen Weg nach Lourdes machen, wieder andere in die richtige Himmelsrichtung beten oder eine Hostie zu sich nehmen, um »errettet« zu werden – es darf und sollte nur für den Einzelnen bedeutungsvoll sein. Für den Lauf der Zeit ist es völlig irrelevant. Der Glaube kann Gläubige im Sinne des Wortes glückselig machen. Er kann für Menschen etwas Wunderbares sein: als Privatsache.

Welche Rolle also soll die Religion heute spielen? So wenig wie möglich – wenn es nach den Autorinnen und Autoren dieses Bandes geht. So vielfältig die Themen, so unterschiedlich die Tonalität der Texte – es gibt eine große Übereinkunft: Wir brauchen weniger Religion in dieser Welt. Nach wie vor lehrt sie vor allem das Fürchten, steht für Gewalt, Intoleranz und Unterdrückung. Ungläubige und Gottlose werden in vielen Ländern noch immer verfolgt, bestraft, getötet. Der Irrsinn himmlischer Bodentruppen ist grenzenlos. Noch immer ist ihr Einfluss auf Politik und Gesellschaft stark und unheilvoll. Ob als autoritäre Staatsdoktrin oder gesellschaftliches Sinnstiftungsangebot – es braucht keine Religion für ein friedvolles Zusammenleben und einen furchtlosen Ausblick in die Zukunft. Die Welt dreht sich weiter – ohne Gott. Die Autorinnen und Autoren sind sich einig: Der Bürger kommt vor dem Gläubigen!

»Die Religion vergiftet alles«, konstatiert Christopher Hitchens. Die Texte auf den folgenden Seiten verstehen sich als Entgiftungs-Lektüre.

MICHAEL SCHMIDT-SALOMON

Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich
70 Jahre Grundgesetz – 100 Jahre Verfassungsbruch Warum wir die Kirchenrepublik überwinden müssen

Eineinhalb Jahrtausende waren Thron und Altar miteinander vermählt, seit 100 Jahren leben Staat und Kirche in Deutschland voneinander getrennt. Zumindest ist dies die offizielle Version. In Wahrheit jedoch wurden die Scheidungspapiere der beiden »Elitepartner« niemals unterzeichnet. Denn die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker haben es seit 1919 nicht gewagt, einen Schlussstrich unter die gescheiterte Beziehung von Staat und Religion zu ziehen und reinen Tisch zu machen. Dies ist der Grund dafür, dass der deutsche Staat noch immer Milliardenbeträge an die Kirchen zahlt, dass der Schwangerschaftsabbruch noch immer als »Unrecht« gilt und dass schwerstkranken Patienten die Chance verwehrt wird, selbstbestimmt zu sterben.

Fakt ist: Die Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger werden noch immer in beträchtlichem Maß durch religiöse Normen beschnitten – und zwar von der Wiege bis zur Bahre, ja sogar darüber hinaus, nämlich vom Embryonenschutz bis zum Friedhofszwang. Dies wiederum geht zwingend mit einem Verstoß gegen das Verfassungsgebot der weltanschaulichen Neutralität des Staates einher – wodurch die beiden Jubiläen, die der demokratische Verfassungsstaat 2019 feiern kann, einen bitteren Beigeschmack erhalten. Denn »70 Jahre Grundgesetz« und »100 Jahre Weimarer Verfassung« bedeuten nicht zuletzt auch 70 bzw. 100 Jahre Verfassungsbruch.

Die Spitze des Eisbergs

Am einfachsten lässt sich dies wohl an den Artikeln 136 bis 141 der Weimarer Verfassung (WRV) aufzeigen, die 1949 in das Grundgesetz (GG) der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen wurden (Art. 140 GG). Die Väter und Mütter der Weimarer Verfassung, die 1919 den Grundstein für die Demokratie in Deutschland legten, hatten wirklich versucht, die überkommene, für nicht wenige Menschen tödliche Verbindung von Politik und Religion zu beenden. Daher verfügten sie nicht nur, dass es keine Staatskirche gibt und dass Religions- und religionsfreie Weltanschauungsgemeinschaften gleichberechtigt sind (Art. 137 WRV), sie forderten auch, die finanziellen Verflechtungen von Staat und Kirche aufzulösen. Dazu heißt es in Artikel 138 der Weimarer Reichsverfassung (bzw. in Art. 140 des Grundgesetzes): »Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf.«

Es ist bemerkenswert, dass dieser »Ablösebefehl« der Verfassung bis zum heutigen Tag nicht erfüllt wurde, was zur Folge hat, dass die Gehälter katholischer und evangelischer Bischöfe nicht zuletzt auch mit den Steuergeldern konfessionsfreier Menschen bestritten werden. Allein 2018 lagen diese aus dem allgemeinen Steuertopf aufgebrachten Staatsleistungen an die Kirchen bei über 538 Millionen Euro. Warum, so fragt man sich, werden diese Staatsleistungen noch immer gezahlt? Einige Politikerinnen und Politiker behaupten, der Staat könne sich eine Ablösung gar nicht leisten, da er auf einen Schlag eine sehr hohe Summe aufbringen müsste. Doch dieses Argument ist völlig abwegig. Denn durch die Milliardenbeträge, die der Staat den Kirchen – gegen den Auftrag der Verfassung – seit 100 Jahren gezahlt hat, ist jede Ablösesumme, die man 1919 theoretisch hätte veranschlagen können, längst schon abgegolten.

 

Nun sind diese jährlichen Zahlungen von mehr als 500 Millionen nur Peanuts, wenn man sie mit den jährlichen Kirchensteuereinnahmen in Höhe von zehn Milliarden Euro vergleicht. Allerdings kommen für diese Einnahmen – im Unterschied zu den »Staatsleistungen« – nicht alle Steuerzahler auf, sondern bloß diejenigen, die Kirchenmitglieder sind. Wo also liegt das Problem? Ganz einfach: In Artikel 136 der Weimarer Verfassung (und damit auch in Art. 140 des Grundgesetzes) heißt es: »Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren. Die Behörden haben nur soweit das Recht, nach der Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft zu fragen, als davon Rechte und Pflichten abhängen.« Die Weimarer Republik hat sich an diese Verfassungsvorgabe gehalten – nicht jedoch die Bundesrepublik Deutschland, die stattdessen auf eine Nazi-Regelung aus dem Jahr 1934 zurückgegriffen hat, nämlich auf den Eintrag der Konfessionszugehörigkeit auf der Lohnsteuerkarte, durch den nicht nur staatliche Behörden, sondern auch sämtliche Arbeitgeber von der etwaigen Religionszugehörigkeit oder Konfessionsfreiheit ihrer Arbeitnehmer in Kenntnis gesetzt werden.

Dieser seit 70 Jahren bestehende Verfassungsbruch hat gravierende Folgen – nicht zuletzt deshalb, weil die kirchlichen Sozialkonzerne Caritas und Diakonie die größten nichtstaatlichen Arbeitgeber Europas sind. Dank der massiven Unterstützung des Staates dominieren sie seit Jahrzehnten die sogenannte »freie Wohlfahrtspflege« von der Medizin über die Kinder- und Jugendhilfe bis hin zur Altenpflege. Menschen, die in diesen Segmenten tätig sind, unter anderem ErzieherInnen, AltenpflegerInnen, ÄrztInnen, PsychologInnen und PädagogInnen, können es sich in vielen Fällen gar nicht leisten, aus der Kirche auszutreten, da sie befürchten müssen, von einem kirchlichen Arbeitgeber entweder entlassen oder gar nicht erst angestellt zu werden. Für sie steht das Recht auf Religionsfreiheit nur auf dem Papier. Dieses Problem ließe sich jedoch leicht entschärfen, wenn der Staat sich endlich an seine Verfassung halten und den automatischen Einzug der Kirchensteuer über den Arbeitgeber abschaffen würde. Dass er stattdessen zugunsten der Kirchen auf eine verfassungswidrige Nazi-Regelung zurückgreift, ist ein Skandal, der viel zu wenig Beachtung findet.

Der milliardenschwere Wohlfahrtsmarkt, auf dem Caritas und Diakonie Umsätze erzielen, vor denen Dax-Unternehmen neidvoll erblassen, zeigt in besonderem Maße, wie intim das Verhältnis der angeblich getrennten Partner Staat und Kirche noch immer ist: Nicht ohne Grund hat die Monopolkommission der Bundesregierung bereits vor 20 Jahren die »kartellartigen Absprachen« zwischen dem Staat und den Wohlfahrtsverbänden angeprangert, da sie den Wettbewerb blockieren und den Status quo schützen, in dem die kirchlichen Anbieter den Markt beherrschen. Geändert hat sich durch die scharfe Rüge der Monopolkommission kaum etwas: In vielen ländlichen Regionen gibt es noch immer keine Alternativen zu Caritas und Diakonie, was dazu führt, das religionsfreie Menschen ausgerechnet in besonders schwierigen Phasen ihres Lebens auf die Unterstützung von Institutionen angewiesen sind, denen sie möglicherweise zutiefst misstrauen. Man denke nur an die vielen Tausende von Heimkindern, die in konfessionellen Einrichtungen als billige Arbeitskräfte ausgebeutet, körperlich und psychisch misshandelt oder sexuell missbraucht wurden – und nun befürchten müssen, ihre letzten Jahre ausgerechnet in einem konfessionellen Altersheim zu verbringen.

Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte der Heimkinder hat gezeigt, dass in kirchlichen Heimen die wohl schwersten Menschenrechtsverletzungen auf deutschem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg stattgefunden haben. Doch der Staat griff nicht ein. Statt die Opfer zu schützen, schützte er die Täter – damals (durch die Verletzung der Aufsichtspflicht) wie heute (durch das Aushandeln von »Entschädigungen«, die im internationalen Vergleich empörend gering sind!). Hier zeigen sich die Folgen der Missachtung eines weiteren 100-jährigen Verfassungsgebots, nämlich des Artikels 137 Absatz 3 der Weimarer Verfassung (über Art. 140 ebenfalls Bestandteil des bundesdeutschen Grundgesetzes), der da lautet: »Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.« Wichtig ist in diesem Fall der oft vernachlässigte Zusatz »innerhalb des für alle geltenden Gesetzes«, denn er besagt, dass die Religionen keineswegs über dem Gesetz stehen und dass der Staat es unter keinen Umständen zulassen darf, dass Religionsgemeinschaften Verstöße gegen allgemeine Gesetze als »interne Angelegenheiten« regeln. Letzteres geschieht jedoch immer wieder, wie der jüngste Missbrauchsskandal der katholischen Kirche gezeigt hat. Klar ist: Hätte die Mafia einen anonymisierten Forschungsbericht über den massenhaften sexuellen Missbrauch innerhalb der eigenen Organisation vorgelegt, wäre schon am nächsten Morgen ein ganzes Bataillon von Polizisten ausgerückt, um die Archive zu durchsuchen. Als jedoch die Katholische Kirche im September 2018 einen Bericht veröffentlichte, der nachwies, dass sich in ihren Reihen 1670 Kleriker befinden, die in mehr als 6000 Fällen sexuellen Missbrauch begangen haben, geschah rein gar nichts! Es bedurfte schon bundesweiter Strafanzeigen durch das Institut für Weltanschauungsrecht (ifw) sowie sechs renommierte Juraprofessoren, bis zumindest einige Staatsanwaltschaften in Erwägung zogen, in dieser Angelegenheit vielleicht doch einmal tätig zu werden. Mit rechtsstaatlichem Handeln hat dies wenig zu tun.

So skandalös all dies ist, es handelt sich bloß um die Spitze des Eisbergs. Denn die weltanschauliche Schieflage des deutschen Staates zeigt sich nicht nur in den offenkundigen Privilegien der Kirchen, die als »Körperschaften des öffentlichen Rechts« als »Staaten im Staate« agieren können, mit öffentlichen Geldern Kinder indoktrinieren dürfen (»Missionsbefehl«) und in nahezu allen öffentlichen Gremien (vom Ethikrat bis zum Rundfunkrat) stark überrepräsentiert sind. Die Greifarme der »Kirchenrepublik Deutschland« reichen tiefer: Sie haben Einfluss auf fast alle Aspekte des menschlichen Lebens.

Vor dem Gesetz sind alle gleich? Nicht in Deutschland!

Um den gesamten Umfang der religiös bedingten Beschneidungen der bürgerlichen Freiheiten zu erfassen, müssen wir uns die Grundprinzipien des liberalen Rechtsstaates vor Augen führen. Im Kern sind sie bereits in Artikel 1 der UN-Menschenrechtserklärung von 1948 enthalten, auf die sich das deutsche Grundgesetz von 1949 stützt: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.« Wir alle kennen den Wortlaut dieses ersten Menschenrechtsartikels, vermutlich aber ist nur wenigen bewusst, dass er gleich drei fundamentale Rechtsprinzipien enthält, die für den modernen Rechtsstaat verbindlich sind:

– das Prinzip der Liberalität, das mit dem Wort »frei« angesprochen wird. Es besagt, dass mündige Bürgerinnen und Bürger tun und lassen dürfen, was immer sie wollen, solange sie nicht gegen geschützte Interessen Dritter verstoßen. (Im deutschen Grundgesetz spiegelt sich dies in Artikel 2 wider, der die »freie Entfaltung der Persönlichkeit« zum Inhalt hat)

– das Prinzip der Egalität, das mit dem Wort »gleich« angedeutet wird. Es verbietet jegliche Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Religion oder Weltanschauung, ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung. (Im Grundgesetz wird dies in Artikel 3, der »Gleichheit vor dem Gesetz«, abgehandelt.)

– das Prinzip der Individualität, welches mit dem Begriff der »Würde« einhergeht. Denn die unantastbare Menschenwürde, deren Achtung und Schutz nach Artikel 1 des Grundgesetzes »Verpflichtung aller staatlichen Gewalt« ist, kann nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg definiert werden. Vielmehr gilt: Die Würde des Einzelnen ist dadurch bestimmt, dass der Einzelne über seine Würde bestimmt – nicht der Staat oder eine wie auch immer geartete Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft.

Aufgrund dieser Verfassungsvorgaben darf der Gesetzgeber nur dann in die bürgerlichen Freiheiten eingreifen, wenn er hierfür eine rationale, evidenzbasierte und weltanschaulich neutrale Begründung vorlegen kann. Was heißt das? Nun, der Staat muss bei jeder Rechtsnorm nachweisen können, a) dass diese widerspruchsfrei aus der Verfassung abgeleitet wurde (würde der Gesetzgeber aus der »Gleichheit vor dem Gesetz« die Ungleichbehandlung von Mann und Frau folgern, wäre dies nicht »rational«), b) dass ein unterstellter Sachverhalt auch empirisch feststellbar ist (wenn keine Belege dafür vorliegen, dass eine angeblich justiziable Handlung reale Interessen verletzt, ist das Eingreifen des Staates nicht »evidenzbasiert«) und c) dass die Rechtsnorm nicht auf spezifischen weltanschaulichen Überzeugungen beruht (wenn ein Gesetz nur vor dem Hintergrund der »katholischen Sittenlehre« verständlich erscheint, ist es nicht »weltanschaulich neutral«). Gelingt dem Gesetzgeber ein solcher dreifacher Nachweis nicht, so darf er die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger in keiner Weise einschränken.

So weit, so klar. Leider aber wird diese Verfassungsvorgabe häufig ignoriert. Tatsächlich wird der Rechtsgrundsatz »In dubio pro libertate« (»Im Zweifel für die Freiheit«) in Deutschland oft in ein »In dubio pro ecclesia« (»Im Zweifel für die Kirche«) umgemünzt. Aus diesem Grund sind vor dem deutschen Gesetz auch längst nicht alle Menschen gleich. Denn das Gesetz ist in vielen Fällen parteiisch zugunsten der Vertreterinnen und Vertreter überholter christlicher Sittlichkeitsvorstellungen – zwar nicht mehr so offenkundig wie noch in den 1950er Jahren, als das Bundesverfassungsgericht (!) die staatliche Verfolgung der Schwulen mit dem »christlichen Sittengesetz« begründete, aber dennoch in einem Ausmaß, das atemberaubend ist. Eine Folge dieser weltanschaulichen Schieflage des Staates ist, dass Richter mitunter gezwungen sind, Menschen zu verurteilen, deren Anliegen sie eigentlich teilen, und denen Recht zu geben, die nach rationalen Kriterien objektiv im Unrecht sind.