Die erste Umsegelung Asiens und Europas

Text
Aus der Reihe: Edition Erdmann
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

IM »EISKELLER« SIBIRIENS

Bei der Überfahrt nach der Waigatsch-Insel begegnete ich der Lena, welche jetzt erst nach dem vereinbarten Sammelplatz fuhr. Ich gab ihrem Kapitän Befehl, unverzüglich bei Chabarowa vor Anker zu gehen, Kohlen von der Express einzunehmen und sich fertig zu machen, sofort nach meiner Rückkehr von dem Ausflug gleichzeitig mit den übrigen Fahrzeugen die Anker zu lichten und weiter zu segeln.

Am 31. Juli abends kehrte ich an Bord der Vega zurück, sehr froh und zufrieden mit dem, was ich auf meinem Ausflug nach der Waigatsch-Insel gesehen und eingesammelt hatte. Die Lena war jedoch noch nicht ganz in Ordnung, weshalb die Abreise bis zum Morgen des 1. August verschoben wurde. Hierauf lichteten alle Fahrzeuge die Anker und segelten oder dampften durch die Waigatsch-Straße oder Jugor-Schar in das Karische Meer ein.

In den ältesten Berichten ist viel von hohen, mit Eis und Schnee bedeckten Bergen die Rede, welche in der Nähe der Straße zwischen der Waigatsch-Insel und dem Festland vorkommen sollen, sowie auch, dass dort die höchsten Berge der Erdoberfläche sein sollten, deren Spitzen sich bis zu einer Höhe von hundert deutschen Meilen erheben sollten. Die Ehre, die höchsten Berge der Erde zu besitzen, ist später von den Einwohnern im nördlichen Russland der Umgebung von Matotschkin-Schar zugeteilt worden, »wo die Berge sogar höher sind als der Bolschoj-Kamen«, ein einige Hundert Fuß hoher Hügel an der Mündung der Petschora – eine orographische Auffassung, welche einen neuen Beweis zu dem alten Satz liefert, dass »in dem Reiche der Blinden der Einäugige König ist«.

Die meisten Fahrzeuge, welche durch Jugor-Schar in das Karische Meer segeln wollen, müssen dort einige Tage vor Anker liegen, um günstige Winde und Eisverhältnisse abzuwarten. Gute Häfen gibt es jedoch nicht in der Nachbarschaft des Sunds, brauchbare Ankerplätze kommen aber vor, teils in der Bucht bei Chabarowa am westlichen Eingang des Sunds und teils, nach den alten holländischen Karten, auf der östlichen Seite zwischen der Mestni-Insel und dem Festland. Von dem letztgenannten Ankerplatz habe ich jedoch keine eigene Erfahrung, und ebenso wenig habe ich gehört, dass norwegische Fangmänner dort geankert haben.

Als wir 1878 durch Jugor-Schar segelten, war der Sund völlig eisfrei. Das Wetter war herrlich, aber der Wind so schwach, dass die Segel nur wenig Dienste leisteten. Infolgedessen ging die Fahrt nur langsam vorwärts, besonders, da ich die vier Fahrzeuge zusammenhalten wollte und das Segelschiff Express, dass es nicht zurückbleibe, von dem Dampfer Fraser bugsiert werden musste. Außerdem ging viel Zeit mit Dreggen und dem Heraufholen von Wasserproben verloren.

Am Nachmittag des 1. August hatten wir den Sund passiert und dampften in das östliche davor gelegene Meer, welches das Ziel so vieler Spekulationen, Vermutungen und Schlusssätze umsichtsvoller Regierungen, gewinnlustiger Kaufleute und gelehrter Kosmographen schon seit dem 16. und 17. Jahrhundert gebildet hat und welches auch für die Geographen und Gelehrten unserer Zeit bis in die unmittelbarste Gegenwart ein Mare incognitum gewesen ist. Gerade dieses Meer ist es, welches den Wendepunkt aller früheren Nordostfahrten gebildet hat.

Wenn man die kleine neuentdeckte Insel »Einsamkeit« nicht mit in Betracht zieht, so ist das Karische Meer nach Nordosten hin offen. Es wird im Westen von Nowaja Semlja und der Waigatsch-Insel, im Osten von der Halbinsel Taimur und im Süden von dem nördlichsten Teil des europäischen Russland, Beli-Ostrow und den bedeutenden Mündungsbuchten des Ob und des Jenissej begrenzt.

Wo die Berge anfangen, zeigen sich zwischen denselben einige wenige oder nur äußerst unbedeutende Eisansammlungen, und selbst die Bergspitzen sind im Sommer frei von Schnee. Erst weiter nach Norden hin fangen die Gletscher an, welche noch weiter nördlich an Zahl und Größe zunehmen, bis sie schließlich ein zusammenhängendes Inlandeis bilden, welches, gleich dem Inlandeis auf Grönland und Spitzbergen, mit seiner gewaltigen Eishülle Berg und Tal ausgleicht und das Innere des Landes zu einer Eiswüste verwandelt und einen der Bildungsherde für die Eisberge und Gletscherblöcke bildet, welche in den Schilderungen von Seefahrern in den Polarmeeren eine so große Rolle spielen. Ich selbst habe das Inlandeis auf dem nördlichen Teil von Nowaja Semlja nicht besucht, aber ganz sicher kann die Erfahrung, welche ich auf Grönland gewonnen habe, auch auf die Eiswüsten Nowaja Semljas angewandt werden.

Ebenso wie auf Spitzbergen ist auch hier ganz sicher das Eisfeld durch tiefe, bodenlose Klüfte unterbrochen, über welche die Schneestürme des Winters zerbrechliche Schneebrücken schlagen, welche die Öffnungen der Abgründe so vollständig bedecken, dass man unmittelbar am Rande stehen kann, ohne eine Ahnung davon zu haben, dass ein Schritt weiter unvermeidlicher Tod für denjenigen ist, welcher, ohne die gewöhnliche Vorsichtsmaßregel zu beobachten, durch ein Tau mit seinen Begleitern verbunden zu sein, seinen Weg über diese hart gepackte, aber durch keine gefrorene Schneerinde verbundene, blendend weiße, beinahe samtartige Fläche des Schneefeldes sucht. Wenn man, nach Beobachtung der nötigen Maßregeln zum Schutz gegen die Gefahr des Herabstürzens in diese Klüfte, sich weiter über das Eisfeld hin begibt, in der Hoffnung, dass die scheinbar ebene Fläche des Schnees gute Tagesmärsche gestatten werde, findet man sich leicht in seiner Hoffnung getäuscht. Man kommt nämlich an Stellen, wo das Eis überall von schmalen, durch gefährliche Klüfte begrenzten Talgängen mit bis zu fünfzehn Meter hohen steilen Wänden durchschnitten wird, über welche man erst nach endlosen Zickzackwanderungen an Stellen kommen kann, welche mit Schnee gefüllt und dadurch passierbar geworden sind.

Im Sommer wiederum, nach dem Schmelzen des Schnees, erhält die Eiswüste ein ganz anderes Aussehen. Der Schnee ist verschwunden, und der Boden wird jetzt von einem grauen, tonartigen Staub beschmutzt, den Wind und Regen, wahrscheinlich von entfernten Berghöhen, auf die Gletscherfläche geführt haben. Zwischen dieser Tonerde und auch unmittelbar auf dem Eis selbst findet sich eine dünne Decke geringer Pflanzenorganismen. Die Eiswüsten der Polarländer bilden also auch die Heimat einer eigentümlichen Art von Flora, welche, so unansehnlich sie auch zu sein scheint, doch eine wichtige Bedingung für den Ausgang des Kampfes bildet, welcher hier Jahr auf Jahr und Jahrhundert auf Jahrhundert zwischen Sonne und Eis vor sich geht.

Das Inlandeis auf Nowaja Semlja hat indessen eine zu unbedeutende Ausdehnung, als dass sich größere Eisberge bilden könnten. Deshalb kommen auch derartige Eisberge im Karischen Meer nicht vor, und selten trifft man auch nur größere, herumtreibende Gletschereisblöcke.

Der Name »Eiskeller«, welchen das Karische Meer von einem berühmten russischen Forscher erhielt, war deshalb nicht durch die Menge der Eisberge, sondern dadurch veranlasst, dass die Eisdecke, welche im Winter infolge der strengen Kälte und des geringen Salzgehalts des oberen Wassers sehr mächtig wird, obgleich früh gebrochen, nicht von den Meeresströmungen fortgeführt und über ein auch im Winter offenes Meer verteilt werden kann. Der größte Teil des Eises, welches sich im Winter im Karischen Meer bildet, und vielleicht auch ein Teil von dem, welches von dem Polarbassin dort hinuntertreibt, wird im Gegenteil gegen die Ostküste Nowaja Semljas angehäuft, wo es während des Sommers die drei Sunde versperrt, welche das Karische Meer mit dem Atlantischen Ozean verbinden. Es sind diese Eisverhältnisse, welche das Missglücken aller älteren Nordostfahrten verursacht und dem Karischen Meer seinen schlechten Ruf und den Namen »Eiskeller« eingetragen haben. Jetzt wissen wir, dass es sich nicht so gefährlich damit verhält, wie man früher glaubte, dass das Eis des Karischen Meeres größtenteils schmilzt und dass man deshalb dieses Meer während des Sommers sehr wohl für die Schifffahrt benutzen kann.

Im Allgemeinen war unsere Kenntnis des Karischen Meeres noch vor einigen Jahrzehnten nicht nur unvollständig, sondern auch unrichtig. Man glaubte, dass sein Tierleben äußerst arm wäre und dass alle Meerespflanzen fehlten; man hatte keine Senkbleiuntersuchungen, außer unmittelbar an der Küste, veranstaltet; die Richtigkeit der Karten wurde mit Recht stark in Zweifel gezogen. Jetzt ist dies alles sehr wesentlich verändert. Die Küstenlinien, welche das Meer begrenzen, sind auf den Karten festgestellt; man kennt die Eisverhältnisse, die Strömung, die Tiefe der verschiedenen Teile des Meeres, und man weiß, dass die alte Vorstellung über seine Armut an Tieren und Pflanzen völlig unrichtig ist.

Zunächst will ich zu dem Bericht über unsere Fahrt durch das Karische Meer zurückkehren. Hierüber enthält mein Tagebuch Folgendes:

2. August. Fortdauernd herrliches Wetter und kein Eis. Die Lena scheint sich von den übrigen Fahrzeugen entfernen zu wollen und bemerkt nicht die Flagge, die als übereingekommenes Zeichen gehisst ist, dass ihr Kapitän an Bord der Vega kommen oder sich wenigstens mit seinem kleinen Fahrzeug bis auf Hörweite nähern soll. Die Fraser wird deshalb entsandt, um die Lena einzuholen, was auch gegen Abend gelingt.

3. August. Am Morgen kam Kapitän Johannesen an Bord der Vega. Ich gab ihm Befehl, Dr. Almqvist sowie die Leutnants Hovgaard und Nordqvist an Bord zu nehmen und mit denselben nach Beli-Ostrow abzugehen, wo sie während sechsunddreißig Stunden Freiheit hatten, zu jagen und Volk, Tiere und Pflanzen nach ihrem Belieben zu studieren; darauf sollte die Lena, wenn möglich, durch die Straße zwischen der Insel und Jalmal nach Dicksonshafen weiterfahren, wo auch die übrigen Fahrzeuge zusammentreffen sollten.

 

Im Laufe des Tages hatten wir viel verteiltes und zerfressenes Eis angetroffen, welches uns durch seinen dämpfenden Einfluss auf den Seegang nur hätte von Nutzen sein können, wenn es nicht den gewöhnlichen Begleiter des Grenzeises, einen dichten Nebel, im Gefolge gehabt hätte, welcher sich jedoch mitunter etwas aufklärte.

Gegen Abend bekamen wir Beli-Ostrow in Sicht. Diese Insel bildet, vom Meer aus gesehen, eine ganz gleichmäßige Ebene, welche sich nur wenig über das Wasser erhebt.

4. August. Ein leises Schaukeln gab am Morgen zu erkennen, dass das Meer, wenigstens für eine bedeutende Strecke luvwärts, wieder eisfrei war. Schon gestern nahm der Salzgehalt im Wasser ab und der Tongehalt zu, und jetzt ist das Wasser nach Filtrierung beinahe trinkbar. Es hat eine gelbgraue Tonfarbe angenommen und ist fast undurchsichtig, sodass das Schiff in Tonschlamm zu segeln scheint. Wir sind offenbar im Stromgebiet des Ob und des Jenissej.

5. August. Noch immer unter Segel im Karischen Meer, in welchem das eine oder andere Stück Eis umhertrieb. Das Eis hörte vollständig auf, als wir nordwestlich von Beli-Ostrow waren. Mehrere Male während des Tages hatten wir nur neun Meter Tiefe, was jedoch infolge der ebenen Beschaffenheit des Meeresbodens nicht gefährlich ist. Nebel, starker Seegang und eine knappe, aber ziemlich harte Brise verzögerten unser Fortkommen.

Am 6. August um 3 Uhr morgens bekamen wir Land in Sicht. Im Nebel waren wir ein Stück in den Auslaufbusen des Jenissej hineingefahren, sodass wir umwenden mussten, um nach unserem Bestimmungsort Dicksonshafen zu kommen. Die Mastspitzen der Express waren über die Eilande nach Norden hin sichtbar, und bald lagen beide Fahrzeuge südlich von einem Eiland vor Anker, von dem wir annahmen, dass es die Dickson-Insel sei; als aber kurz darauf auch die Fraser an unsere Seite kam, erfuhren wir, dass dies ein Missverständnis war. Der Strand, welcher, von unserem ersten Ankerplatz aus gesehen, zum Festland zu gehören schien, gehörte in Wirklichkeit zu dieser ziemlich ausgedehnten Insel, innerhalb derer der Hafen selbst gelegen war.

Der Hafen, welcher jetzt von Leutnant Bove auf der Karte verzeichnet ist, wurde 1875 von mir entdeckt und Dicksonshafen genannt [zu Ehren seines Mäzens Oskar Dickson]. Es ist der beste bekannte Hafen an der ganzen Nordküste Asiens und wird in Zukunft sicher eine große Bedeutung für die Ein- und Ausfuhr Sibiriens erlangen.

Bei unserer Ankunft sahen wir sechs wilde Rentiere auf der Dickson-Insel weiden, von denen eins von Palander erlegt, die anderen aber vergebens gejagt wurden. Außerdem sahen wir einige Bären, und überall zwischen den Steinhaufen fand man Überbleibsel von Lemmingen und Füchsen. Im Übrigen war das höhere Tierleben ziemlich armselig.

Ich bin überzeugt, dass noch der Tag kommen wird, wo es große Magazine und viele das ganze Jahr hindurch bevölkerte Wohnstätten am Dicksonshafen geben wird. [Der Hafen ist heute ein bedeutender Umschlagplatz für das Hinterland des Jenissej-Gebietes.] Jetzt aber ist die Gegend bis nach Goltschicha völlig unbewohnt, obgleich früher zahlreiche, das Fluss- und Meeresufer entlang über die Jenissej-Mündung hinaus bis an die Pjäsina aufgeführte Wohnhäuser vorhanden waren. Diese sind seit langer Zeit verlassen, an erster Stelle wohl infolge des Abnehmens der Jagd, wahrscheinlich aber auch deshalb, weil die einfachen und anspruchslosen Sitten der alten Zeit auch hier an der fernen Nordküste Sibiriens neuen Bedürfnissen gewichen sind, welche schwer in einer Zeit zu befriedigen waren, in der noch keine Dampfboote den Verkehr auf dem Flussgebiet des Jenissej vermittelten.

Die Simovien an der Mündung des Jenissej bildeten seinerzeit die am weitesten nach Norden vorgeschobenen festen Wohnstätten der europäischen Völkerstämme. Gelegen, wie sie es waren, am Fuße der kahlen Tundra, beständigen Schneestürmen im Winter und schweren Nebeln während des größeren Teils des hier so kurzen Sommers ausgesetzt, scheint es, als ob dieselben ihren Bewohnern nicht viele Gelegenheiten zu Genüssen hätten bieten können, und der Anlass, warum man gerade diese Gegend zum Aufenthalt gewählt hatte, besonders in einem an ausgezeichnetem Boden so reichen Land wie Sibirien, scheint sich schwer erklären zu lassen.



Für die Einwohner dieser Gegenden soll kein besonders guter Vorrat an russischen Frauen vorhanden sein, wenigstens beklagte sich der Kosak Theodor, welcher in den Jahren 1875 und 1876 einige verunglückte Versuche machte, mir als Lotse zu dienen, und welcher selbst ein schon ältlicher, runzelig gewordener Junggeselle war, dass das schöne oder schwächere Geschlecht unter den Russen sehr wenig vertreten wäre. Er lenkte das Gespräch sehr oft auf die Vorteile gemischter Ehen, indem er – ich weiß nicht, ob von Erinnerungen oder Hoffnung inspiriert – meinte, dass ein Dolganenweib die wünschenswerteste Partie für einen heiratslustigen Mann in jener Gegend wäre.

Etwas weiter nach Süden, aber noch weit nördlich von der Waldgrenze, gibt es jedoch ganz wohlhabende Bauern, welche große, aus vielen Häusern bestehende Simovien bewohnen, in denen ein gewisser Luxus herrscht, wo man auf Teppichen von Pelzwerk geht, wo die Fenster ganz sind, die Heiligenbilder mit Gold- und Silberplatten bedeckt, die Wände mit Spiegeln versehen und mit zierlich gemalten Kupferstichporträts russischer Kaiser und Generale bekleidet sind. Diesen Wohlstand erwarben sie sich durch ihren Handel mit den Eingeborenen, welche mit ihren Rentierherden auf der Tundra nomadisieren.

Treibholz, teils kleinere Zweige und Wurzelstücke, teils ganze Bäume mit noch daran sitzenden Teilen von Zweigen und Wurzeln, kam im innersten Teil einiger geschützter Buchten des Dicksonshafens in solcher Menge vor, dass sich der Seefahrer dort ohne Schwierigkeit mit dem erforderlichen Brennmaterial versehen kann. Die Hauptmasse des Treibholzes, welches der Fluss herabführt, bleibt jedoch nicht an dessen eigenen Ufern liegen, sondern schwimmt in die See hinaus und treibt dort mit den Meeresströmungen umher, bis das Holz so viel Wasser eingesaugt hat, dass es sinkt, oder bis es an die Ufer von Nowaja Semlja, der Nordküste Asiens, Spitzbergens oder vielleicht Grönlands geworfen wird. Ein Teil des Treibholzes sinkt, ehe es das Meer erreicht, oft so, dass die Stämme aufrecht auf dem Boden des Flusses mit dem einen Ende gleichsam wie mit Wurzeln im Sand festgehalten stehen. Sie können in dieser Weise für die Schifffahrt, wenigstens an den flacheren Stellen des Stromes, sehr unbequem werden. Eine Bucht gleich außerhalb Dicksonshafen war sogar beinahe abgeschlossen durch ein natürliches Palisadenwerk von Treibholzstämmen.

7. August. Die Vega nahm Kohlen von der Express ein. Am Abend kam die Lena, sechsunddreißig Stunden, nachdem die Vega in diesem Hafen Anker geworfen hatte, d. h. genau zu der bestimmten Zeit.

Als die Fraser und die Express am Morgen des 9. August nach der höher den Fluss hinauf gelegenen Stelle abfuhren, wo ihre Ladung aufgestapelt war, waren auch die Vega und die Lena, segelfertig. Ich ließ jedoch die Fahrzeuge noch einen Tag länger in Dicksonshafen verweilen, teils, um Leutnant Bove Gelegenheit zu geben, seine kartographische Aufnahme desselben abzuschließen, teils, um womöglich eine Ortsbestimmung dieser wichtigen Stelle zu erhalten. Infolge des beständig mit Wolken bedeckten Himmels bekam ich jedoch diesmal ebenso wenig wie während der Reise von 1875 Gelegenheit dazu, was als Beleg dafür dienen kann, welcher Art das Wetter zur Sommerzeit an diesem Platz ist, wo sich das warme Wasser des Jenissej in das Meer ergießt. Die Vega und die Lena lichteten also am Morgen des 10. August die Anker, um ihre Fahrt fortzusetzen. Der Kurs wurde nach der westlichsten der Inseln gestellt, welche alte Karten außerhalb des Mündungsgebietes der Pjäsina verlegen und Kammenni-Ostrow [Stein-Insel] benennen, ein Name, welcher anzudeuten scheint, dass die ihrer Naturbeschaffenheit nach mit den steinigen Inseln um Dicksonshafen herum übereinstimmen. Der Himmel war bedeckt, die Lufttemperatur bis + 10,4°C und das Wasser anfangs bis + 10°, später bis + 8° erwärmt sowie der Salzgehalt der Meeresoberfläche unbedeutend. Während des Tages war kein Eis sichtbar. Von einem frischen Südostwind begünstigt, konnte die Vega ihre Fahrt mit voll gespannten Segeln antreten. Kleinere Felseninseln, die auf der Seekarte nicht verzeichnet sind, erinnerten uns jedoch bald an die Unzuverlässigkeit der Karten. Dies sowie eine dicke Luft zwangen Kapitän Palander, mit großer Vorsicht sowie unter scharfer Ausschau und beständigen Untersuchungen mit dem Senkblei vorwärtszusegeln. Warmes Wetter und ein eisfreies Meer begünstigten auch am folgenden Tag unsere Fahrt; dann wurde aber der Nebel so dicht, dass die Vega schon am Morgen bei einer der vielen kleinen Inseln, welche wir auf unserem Weg antrafen, beilegen musste.

Am Nachmittag hatte sich das Wetter wieder so weit aufgeklärt, dass wir weitersegeln konnten. Hin und wieder zeigten sich Eisstücke, und während der Nacht nahm das Eis in beunruhigender Weise zu; doch kam es auch jetzt noch nicht in so großer Masse vor, dass es bei klarem Wetter oder in bekannten Fahrwassern der Seefahrt hätte hinderlich werden können.

Am 12. August segelten wir fortwährend zwischen umfangreichen Feldern zerstreuten Treibeises, das teils aus grobem, altem Eis, teils aus stark zerfressenem Jahreseis bestand. Es bildete jedoch kein ernstliches Hindernis gegen das Vorwärtskommen, und wahrscheinlich würden wir in größerer Nähe des Strands sogar völlig eisfreies Wasser gehabt haben; natürlich war es aber, außer im wirklichen Notfall, nicht ratsam, in dem Nebel und dem unbekannten Fahrwasser uns allzu sehr dem Land zu nähern. Am Fuß eines großen Grundeisblocks, an dem wir für einige Stunden beigelegt hatten, waren viele Fische sichtbar; und während des folgenden Tages sahen wir an einer der Inseln, wo das Wasser sehr klar war, den Meeresboden mit unzähligen toten Fischen derselben Art bedeckt. Vermutlich waren sie aus gleicher Ursache umgekommen, wie so oft Fische im Ob in solch großer Menge getötet werden, dass die Luft dadurch verpestet wird, wenn nämlich ein größerer Zug Fische vom Eis in einem engen Loch eingeschlossen worden ist, wo das Wasser nach dem Zufrieren seiner Oberfläche nicht mehr durch Absorption aus der Luft den verbrauchten Sauerstoff hat ersetzen können und wo die Fische selbst in dieser Weise erstickt oder buchstäblich ertrunken sind.

Am 13. August segelten wir wieder an einer Menge kleiner Klippen und Inseln vorbei. Das Meer war anfangs ziemlich eisfrei, bedeckte sich aber später mit gleichmäßigen dünnen Eisstücken, welche nicht aufeinander »geschraubt« und also während des Winters keinem Eisdruck ausgesetzt gewesen waren. Dieses Eis hatte keine besonderen Übelstände für die Seefahrt zur Folge, gleichzeitig aber wurde alles von einem äußerst dichten Nebel eingehüllt, welcher uns bald nötigte, in einer kleinen Bucht an der Küste Anker zu werfen. Ich versuchte vergebens, irgendeine Ortsbestimmung der Stelle zu erhalten. Am Ufer lag beinahe überall noch ein ziemlich hoher Schnee- und Eisrand, welcher im Nebel das Aussehen mächtiger Gletscher hatte; im Übrigen war das Land frei von Schnee.

Während der ganzen Zeit unseres Aufenthalts hier herrschte ein äußerst anhaltender Nebel, welcher jedoch am 18. September sich endlich etwas aufklärte. Wir lichteten sogleich die Anker und dampften den westlichen Strand der Taimur-Insel entlang weiter; dieselbe ist von einer Menge Inseln umgeben, welche auf den Karten nicht bezeichnet sind [sie tragen heute den Namen Nordenskiöld-Archipel], und möglicherweise ist die Taimur-Insel selbst durch Sunde in mehrere Teile geteilt. Auf unserer weiteren Fahrt hinderte uns jedoch der noch immer dichte Nebel, die Inseln, zwischen denen hindurch die Vega ihren Weg suchte, anders als nur ganz oberflächlich aufzunehmen. Soviel konnten wir aber doch sehen, dass die Nordspitze der Taimur-Insel nicht so weit nach Norden hinaufreicht, wie die Karten gewöhnlich angeben.

Eis trafen wir nur in geringer Menge, und was wir davon sahen, war äußerst zerfressenes Buchten- oder Flusseis. Ich glaube kaum, dass wir während des ganzen Tages eine einzige Scholle erblickten, die groß genug war, um darauf einen Seehund auszuweiden. Wirkliches altes Treibeis, wie man es an der Nordküste Spitzbergens antrifft, hatten wir noch nicht gesehen. In Bezug auf die Beschaffenheit des Eises findet zwischen dem Karischen Meer und dem Meer nördlich und östlich von Spitzbergen eine vollständige Ungleichheit statt. Eine andere auffallende Verschiedenheit liegt in dem Mangel an warmblütigen Tieren, welcher in dieser bisher von aller Jagd verschont gebliebenen Gegend vorherrscht. Im Laufe des Tages hatten wir nicht einen einzigen Vogel gesehen, ein Umstand, der mir vorher nie während einer Sommerfahrt in den arktischen Gegenden begegnet ist, und ebenso war kaum ein Seehund zu erblicken gewesen.

 

Am 19. August fuhren wir fort, längs der Küste teils zu segeln, teils zu dampfen, meist in einem äußerst dichten Nebel, welcher sich nur zeitweise soweit zerteilte, dass die Küstenlage unterschieden werden konnte. Um nicht getrennt zu werden, mussten beide Fahrzeuge oft mit der Dampfpfeife Signale geben. Das Meer war glatt wie ein Spiegel. Nur wenig und stark zerfressenes Eis zeigte sich ab und zu; im Laufe des Tages aber dampften wir an einem ausgedehnten, ungebrochenen, landfesten Eisfeld vorbei, welches eine Bucht an der westlichen Seite der Tscheljuskin-Halbinsel einnahm. Das Eis, aus dem dasselbe bestand, erschien im Nebel ungeheuer stark und hoch, obgleich es in Wirklichkeit beinahe ebenso zerfressen war wie das, welches die Eisstreifen bildete, die uns hier und da auf dem Meer begegneten.

Der Nebel hinderte alle weite Aussicht über das Meer, und ich fürchtete bereits, dass die nördlichste Spitze Asiens so eisumschlossen sein würde, dass wir nicht an derselben würden landen können. Bald aber schimmerte eine dunkle, eisfreie Landspitze im Nordosten aus dem Nebel hervor. Ein nach Norden offener Busen schnitt hier in das Land hinein, und in diesem warfen beide Fahrzeuge am 19. August um 6 Uhr nachmittags Anker.

Wir hatten jetzt ein jahrhundertelang vergebens erstrebtes Ziel erreicht: Zum ersten Mal lag ein Fahrzeug an der nördlichsten Landspitze der Alten Welt vor Anker. Es ist deshalb nicht zu verwundern, dass dieses Ereignis durch Aufhissen der Flaggen und durch Kanonensalute sowie später, nachdem wir von unserem Ausflug ans Land zurückgekehrt waren, durch eine Festlichkeit an Bord mit Wein und Toasten gefeiert wurde.


Die Vega und die Lena, das Kap Tscheljuskin salutierend

Ebenso wie bei unserer Ankunft am Jenissej wurden wir auch hier von einem großen Eisbären empfangen, den wir schon vor dem Ankern der Fahrzeuge am Strand auf- und abgehen und dann und wann unruhig ausschauen und nach dem Meer zu schnüffeln sahen, um zu erforschen, welch merkwürdige Gäste jetzt zum ersten Mal in sein Reich eingedrungen waren. Ein Boot wurde ausgesetzt, um ihn zu erlegen; Brusewitz war der auserkorene Schütze, der Bär aber hütete sich, diesmal mit unseren Gewehren nähere Bekanntschaft zu machen. Die Kanonensalute veranlassten ihn so vollständig zur Flucht, dass er nicht einmal, wie die Bären sonst zu tun pflegen, am folgenden Tag wiederkam.

Die Nordspitze Asiens bildet eine niedrige, durch einen Busen in zwei Teile getrennte Landzunge, deren östlicher Arm sich ein wenig weiter nach Norden erstreckt als der westliche Arm. Ein Bergrücken mit allmählich abfallenden Seiten zeigt sich von der östlichen Spitze in südlicher Richtung in das Land hinein und scheint bereits innerhalb des Gesichtskreises eine Höhe von dreihundert Metern zu erreichen. Gleich dem darunterliegenden Flachland war seine Krone beinahe schneefrei; nur an den Seiten des Berges oder in tiefen, von Schneebächen ausgegrabenen Furchen und kleinen Tälern auf der Ebene waren große weiße Schneefelder sichtbar. Ein niedriger Eisrand stand noch an den meisten Stellen längs des Strands. Aber kein Gletscher wälzte seine blauweißen Eismassen an den Seiten der Berge herab, und keine Eisseen, keine hervorspringenden Felsblöcke, keine hohen Bergspitzen verschönerten das Bild der Landschaft, welche die einförmigste und ödeste war, die ich im hohen Norden gesehen habe.

Überall war der Boden, ebenso wie auf dem Eiland, an welchem wir am 11. August vor Anker lagen, in mehr oder weniger regelmäßige Sechsecke zersprungen, deren inneres Feld gewöhnlich von Wachstum entblößt war, während aus den Sprüngen verkrüppelte Blumengewächse, Flechten und Moose hervorsprossen. An einigen Stellen war der Boden jedoch mit einer aus Moosen, Flechten, Gras und Halbgras gebildeten Pflanzenmatte bedeckt; doch waren die Blumengewächse hier weniger zahlreich, die Moose verkrüppelter und weniger fruchttragend. Auch die Flechtenflora war, nach Dr. Almquists Untersuchung, einförmig, obgleich häufig ganz üppig entwickelt. Am reichsten an Gewächsen war der äußerste Vorsprung der Landspitze. Es hatte beinahe das Aussehen, als ob viele der Gewächse des Taimurlandes versucht hätten, von hier aus weiter nach Norden zu wandern, dabei aber, als sie das Meer angetroffen, dort geblieben wären, außerstande weiterzukommen und nicht geneigt, wieder umzukehren.

Alle Flüsse waren jetzt ausgetrocknet, aber ausgedehnte flache Flussbetten gaben zu erkennen, dass zur Zeit der Schneeschmelze ein reicher Wasserfluss hier stattfand. Das Gemurmel der Schneebäche und das Vogelgeschrei durchbrechen dann gewiss die Einsamkeit und das Schweigen, welches jetzt über den kahlen, beinahe allen Wachstums entblößten Lehmbetten des Flachlands ausgebreitet liegt. Wahrscheinlich kann man jedoch etwas weiter im Land, in irgendeinem gegen die Winde des Nordmeers geschützten Talgang ganz andere Naturverhältnisse, ein reicheres Tier- und Pflanzenleben finden, welches Letztere während der Sommerzeit ebenso blumenreich sein mag wie das, welches uns in den Talgängen des Eisfjords und der »Namenlosen Bucht« [der Besimannaja-Bai] entgegentritt [Spitzbergen]. Menschenspuren sahen wir hier nicht. Die Erzählungen, welche bereits um das Jahr 1600 herum über die Beschaffenheit der Nordspitze Asiens im Umlauf waren, machen es jedoch wahrscheinlich, dass die sibirischen Nomaden ihre Rentierherden auch manchmal bis hier hinaus getrieben haben. Es ist sogar nicht unmöglich, dass russische Fangmänner von Chatanga auf der Nordspitze des Taimurlandes gejagt haben; und dass Tscheljuskin [russischer Forscher, der 1742 als Erster diesen Punkt auf dem Landweg erreichte] wirklich hier gewesen ist, davon zeugt die auf russischen Karten ganz richtige Darstellung des Vorgebirges, welches jetzt mit Recht seinen Namen trägt.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?