Abgelenkt

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Adam Wutkowski

Abgelenkt

Wer bin Ich?

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1: Verloren in einer fiktiven Welt

Kapitel 2: Wer bin ich?

Kapitel 3: Arthur Schopenhauer

Kapitel 4: Der Mensch

Kapitel 5: Hinter der Fassade

Kapitel 6: Das Produkt der Natur

Kapitel 7: Die Erkenntnis

Impressum neobooks

Kapitel 1: Verloren in einer fiktiven Welt


Abgelenkt

Für meine Frau und meine Kinder

Danke

Impressum

Abgelenkt

Untertitel: Wer bin ich?

von Adam Wutkowski

Text Copyright: © Adam Wutkowski

Cover Copyright: © Karolin Wutkowski

Alle Rechte,

einschließlich des Nachdrucks in jedweder Form,

sind vorbehalten.

Kiel 2015

„Der Mensch scheitert im Leben nicht an anderen Menschen,

sondern an seinen eigenen Vorstellungen

von dem eigenen ich und der Welt.“

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Verloren in einer fiktiven Welt

Kapitel 2: Wer bin ich?

Kapitel 3: Arthur Schopenhauer

Kapitel 4: Der Mensch

Kapitel 5: Hinter der Fassade

Kapitel 6: Das Produkt der Natur

Kapitel 7: Die Erkenntnis

«Ruhig mein Junge! Du weißt doch, dass du gut bist.»

Langsam und ohne jede Hast schleiche ich mich heran. Die Umgebung verhüllt mich und das ist auch gut so. Stopp! Bis hierhin und nicht weiter. Eine perfekte Position. Das Gelände lässt sich aus dieser Stellung genau überblicken. Das Dickicht zu meiner Linken sowie der Schatten eines nah gelegenen Baumes, erzeugt durch das Mondlicht verhüllen meine Gestalt. Gut! Rechts von mir, auf zwei Uhr, ca. in 200 m Entfernung stehen zwei Gebäude. Das Kleinere besteht aus einem Stockwerk und das Dach ist mit Schilf bedeckt. Früher diente es bestimmt als eine Art Schuppen. Vielleicht auch als Stall. Egal! Nun stellt es den Zufluchtsort für die Zielperson dar. Und das allein zählt! Das große Gebäude daneben, ca. 10 Meter von dem Schuppen entfernt, wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit erst vor kurzem errichtet. Darauf lassen die Bau- und Schuttreste in der Nähe schließen. Im Gegensatz zu dem ersten Gebäude besteht dieses aus massivem Stein. Das Gebäude umfasst drei Stockwerke und schließt mit einer Flachdach-Konstruktion ab. Auf dem Dach des Gebäudes ragt eine 5 m hohe Funkantenne in den Himmel. Neben der Funkantenne steht ein kleinerer Aussichtsturm auf dem Dach, in der die Silhouette einer Wache zu erkennen ist. Die Wache stellt jedoch keine Bedrohung bezüglich einer Entdeckung dar. Dafür ist meine Position einfach zu gut gewählt. Soweit so gut. Links vom Gebäude, ungefähr auf elf Uhr, reihen sich mehrere provisorisch aufgebaute Zelte in das Bild des Lagers ein. Dahinter steht ein Schuppen unter dem zwei geländetaugliche Fahrzeuge parken. Die Ladefläche der Fahrzeuge und damit die Ausstattung ist aus dieser Position nicht einschätzbar. Zweitrangig. Im Falle einer Entdeckung habe ich sowieso nicht vor, länger hier zu bleiben als nötig.

Neben dem Schuppen mit den Geländefahrzeugen stehen ein Paar Benzinkanister, Kisten mit Munition sowie weitere Ausrüstungsgegenstände bereit. Im Gegensatz zu dem restlichen Teil des Lagers wirkt das Zentrum aufgeräumt. Alle Gerätschaften, die im Falle einer Landung eines Hubschraubers im Weg stehen könnten, wurden zur Seite geschafft.

Das Haupttor zum Lager besteht aus zusammengehauenen Brettern, versehen mit Stacheldraht. Diese Bauweise spiegelt sich in der Befestigung des Lagers wider. Mit Stacheldraht umwickelte Holzpfähle bilden eine provisorische Umzäunung. Neben dem Haupttor steht ein Wärterhäuschen sowie links davon eine Art Aussichtsturm, ausgestattet mit einer MG. Am Tor sind zwei Wachen postiert. Alles in allem würde ein direkter Angriff mit einem schwer gepanzerten Fahrzeug ausreichen, um diese Verteidigungslinie schnell zu überwinden. Doch darum geht es heute nicht!

Insgesamt kann ich bis dahin fünf Wachposten ausmachen: Zwei am Haupttor, einer auf dem Dach des Gebäudes und zwei weitere Soldaten, die um das Lager patrouillieren. Perfekt. Das Scharfschützengewehr liegt bereit in meiner Hand. Das Zielfernrohr ist eingestellt. Waffe ist geladen und entsichert. Somit ist alles für den Zugriff bereit. Gut! Das Gewehr samt Zielfernrohr ist das Beste, was der Markt zurzeit hergibt. Selbst im schwachen Dämmerlicht sind die Wachen durch das Zielfernrohr zum Greifen nah und jeder Schritt kann genaustens nachverfolgt werden. Sie sind so nah, dass selbst die Gesichtszüge erkennbar sind.

Ich bin bereit! Es fehlt nur noch das Zielobjekt. Ein Blick auf die Uhr. 0200. Das Zielobjekt müsste also, nach den Informationen der Kontaktperson, schon bald herausgeflogen werden.

Da! Erst ganz leise, dann immer stärker. Das Donnern der Rotorblätter kommt immer näher. Meine Aufmerksamkeit gilt nun vollständig dem Schilf bedeckten Gebäude. Doch noch immer ist keine Bewegung auszumachen. Ein hastiger Blick auf den Eingang des dreistöckigen Hauptgebäudes weist auf eine erhöhte Alarmbereitschaft hin. Aus der Eingangstür des Gebäudes treten bewaffnete Soldaten auf den Innenhof. Ein Blick auf das Zielgebäude zeigt immer noch keine Veränderung. Doch da! Plötzlich. Die Tür geht einen Spalt auf, verharrt jedoch in dieser Position. Aus dem Türspalt dringt kein Licht nach außen, so dass das Innere des Gebäudes sich im Schweigen der Dunkelheit hüllt.

Im Briefing wurde die Zielperson als klein und korpulent beschrieben. Das auffälligste Merkmal an der Zielperson ist jedoch das zum Teil fehlende linke Ohr. Codename: Mittelsmann.

Das Donnern der Rotorblätter kommt immer näher, während die Person oder die Personen hinter der Tür keine Anzeichen machen, herauszukommen. Nur noch ein wenig mehr Geduld! Der Hubschrauber wird gleich zur Landung ansetzen. Das Fernrohr des Scharfschützengewehrs visiert weiter das Zielgebäude an. Plötzlich öffnet sich die Tür und eine große, schlanke Person tritt aus dem Gebäude in das helle Mondlicht hinaus. Ein Augenblick später erscheint im Rahmen der Tür eine weitere Person, die es jedoch vermeidet ganz aus der schützenden Dunkelheit des Hauses herauszutreten. Nach der Silhouette zu urteilen, handelt es sich hierbei um die Zielperson. Den Finger am Abzug, zum Schießen bereit …

Grade als ich dabei bin, meine Mission erfolgreich abzuschließen, geht die Tür zu meinem Zimmer auf und reißt mich aus meinem Einsatz heraus. Aus der Dunkelheit des Flurs tritt meine Mutter in ihrem gestreiften Pyjama in mein Zimmer. Sichtlich überrascht, mich vor dem Computer zu sehen, richtet sie schließlich das Wort an mich: «Wieso bist du noch wach? Es ist kurz vor 1 Uhr nachts! Du musst doch morgen zur Schule. Mach den Computer sofort aus und geh ins Bett!» befehlt sie.

Von einem Augenblick auf den anderen ändert sich plötzlich meine Gefühlswelt. Unvermittelt baut sich Zorn und Wut auf und beginnt, die Kontrolle über mein Handeln zu übernehmen. Mit letzter Willensanstrengung gelingt es mir jedoch, noch einmal ruhig zu bleiben.

Immer kommt sie zur falschen Zeit in mein Zimmer. Fast will ich...

Aber da! Aus heiterem Himmel wird mir bewusst, dass ich bereits seit 18:00 Uhr, seitdem das alltägliche langweilige Abendessen sein Ende nahm, am Computer sitze. Ich war so vertieft, dass ich nicht bemerkt habe, wie die Zeit an mir vorbei ging. Doch noch bevor ich dieser Tatsache weiter Aufmerksamkeit schenken kann, fordert wieder etwas meine Aufmerksamkeit und bringt meine schwer gewonnene Beherrschung wieder zum Bröckeln. Die Mission scheiterte aufgrund meiner Mutter.

«Na super!» höre ich mich in Richtung Computer sagen und schau enttäuscht zu Boden.

Da meine Mutter immer noch keine Anstalten macht, aus meinem Zimmer zu verschwinden, füge ich mich meinem Schicksal, mache verärgert den Computer aus und lege mich ins Bett. Im Dunkel liegend, kreisen meine Gedanken um die Mission. Noch einmal erscheint die Zielperson vor meinem inneren Auge. «Morgen hat dein letztes Stündlein geschlagen.» sage ich leise in die Dunkelheit meines Zimmers hinein. Ich will nach Möglichkeit die volle Punktzahl für die Mission erhalten. Denn ich weiß, ich bin gut. Und ein Blick auf die Punktetafel beweist es mir auch.

 

Meine Schulkameraden hatten wirklich Recht! Die neue Grafik und Steuerung verschaffen der Umgebung und den Personen soviel Agilität, dass sie schon fast real wirken. Ach. Was für ein Glück habe ich doch, in dieser Zeit leben zu können!

7:00 Uhr. Der Wecker klingelt. Die Müdigkeit steckt in jedem Winkel meines Körpers. Es fällt mir schwer, mich aufzuraffen. Wieder zur Schule zu müssen. Wie Schrecklich! Wer hat sich bloß die Schule ausgedacht? Na ja. Das einzig Gute an dem heutigen Schultag ist die Tatsache, dass diese nur aus zwei Schulstunden besteht und das bedeutet mehr Zeit zum Spielen.

«Und dieses Mal wird mich keiner aufhalten!» sage ich in mein Zimmer hinein, in Gedanken an den gestrigen Abend.

Immer noch nicht ganz bei Bewusstsein füge ich mich meinem Schicksal, stehe auf und vollführe dieselben morgendlichen Rituale wie immer. Nachdem das, von wenig Aufregung begleitete, morgendliche Frühstück schließlich zu Ende geht, stehe ich vom Tisch auf, nehme das Pausenbrot in die eine Hand, die Schultasche in die andere, öffne die Haustür und mache mich auf den Schulweg.

«Hey Sven.» begrüßt mich, wie jeden Morgen, Johannes auf dem Weg zur Schule.

«Hey Johannes! Du hör mal. Ich hatte gestern wieder etwas Zeit gehabt, „Die Helden des Krieges“ zu spielen. Das Spiel ist ja so was von cool und so authentisch. Ich bin bereits bei der neunten Mission angelangt. Hätte diese auch erfolgreich beendet, wenn nicht meine Mutter in mein Zimmer rein gekommen wäre und mich genervt hätte, von wegen dass ich endlich schlafen gehen soll. Aber Schwamm drüber.» winke ich mit meiner rechten Hand ab und fahre fort. «Aber sag! Bei welcher Mission bist du grade?».

«Ich bin erst bei der Fünften. Hatte gestern nicht so viel Zeit zum Spielen. Mein Vater musste am Computer arbeiten. Ich war wirklich stinksauer, als er mir mitteilte, dass er selbst den Computer braucht, um zu arbeiten. Mein Ärger verflog aber, als ich sah, dass er mir ein neues Spiel vom Supermarkt mitgebracht hatte. „Der Strategische Krieg“ nennt sich das. Ich habe es, nachdem er endlich fertig war, kurz angespielt. Aber ich sag dir: Das Spiel ist der Hammer!», sagt Johannes, breit grinsend meine Neugier weckend. «In dem Spiel geht es um eine Welt, die du mit deinen Armeen erobern sollst. Zu Beginn des Spiels steht dir eine Festung zur Verfügung, auf der du deine Truppen ausbildest. Du bekommst ebenfalls zu Anfang des Spiels einen besonderen Charakter, mit dem du „Quests“ ausführen kannst. Zusätzlich besitzt dieser Charakter die Fähigkeit, Armeen anzuführen und verleiht ihnen somit einen zusätzlichen Bonus im Kampf. Mit den Artefakten, die du durch die „Quests“ bzw. durch siegreiche Kämpfe gegen andere Armeen eroberst, machst du dich und deine Armeen stärker. Ich sag’s dir: So ein cooles Spiel habe ich bisher noch nicht gesehen.»

«Das Spiel hört sich wirklich interessant an.» erwidere ich interessiert.

«Ja, das ist es auch.» sagt Johannes und fügt hinzu, «Das Interessante an dem Spiel ist auch, dass man es gleichzeitig mit bis zu acht Personen spielen kann. Hey! Meine Eltern sind heute Nachmittag nicht da. Wenn du nichts Besseres vorhast, kannst du gern vorbeikommen und dir das Spiel anschauen.» schlägt Johannes vor.

Von Neugier auf das Spiel getrieben, setze ich zum Sprechen an. Doch im gleichen Augenblick verharre ich kurz und versinke für einen Moment in meinen Gedanken. Nach den Erzählungen von Johannes zu urteilen, macht das Spiel einen soliden Eindruck. Doch die Lust „Krieg der Kriege“ weiter zu spielen, meine Mission zu beenden, lässt mich zögern.

Doch zu meiner Freude erscheint mir plötzlich die Lösung für mein Dilemma vor meinem inneren Auge. «Das hört sich gut an!» sage ich und fahre fort, meinen Lösungsansatz umzusetzen. «Lass uns so gegen 15:00 Uhr bei dir treffen. Vorher bin ich leider etwas verhindert, da ich noch ein paar Dinge mit meinen Eltern zu erledigen habe. Aber um 15:00 Uhr sollte ich wieder frei sein. Was sagst du dazu?» frage ich, meine Eltern als Vorwand benutzend, um etwas Zeit für „Die Helden des Krieges“ zu schinden.

«Ja. Super.» erwidert Johannes und setzt mit mir den Weg zur Schule fort.

Der Schultag beginnt genauso zäh wie sonst auch. Während die Lehrer kommen und gehen, bin ich mit meinen Gedanken bei „Die Helden des Krieges“. Die einzige Abwechslung in dem Schultag bringen einzig die Pausen zwischen den Unterrichtsstunden.

„Hast du schon von dem neuen Spiel gehört? In welcher Mission bist du grade? Wie hast du diese oder jene Mission durchgespielt?“ Die Pause wird intensiv genutzt, um die wichtigsten Tipps und Tricks für die bevorstehenden Gefechte am Nachmittag auszutauschen, damit nach Möglichkeit auch die höchste Punktzahl für jede Mission erreicht werden konnte.

Das Läuten der Pausenglocke markiert dabei nicht nur den Beginn einer neuen Unterrichtsstunde, sondern gleichzeitig auch das Ende jeglichen Interesses an der Schule.

Zu meinem immer wiederkehrenden Erstaunen wirkt der Weg von der Schule nach Hause nicht so lästig wie der Hinweg, obwohl diese sich in keinster Weise unterscheiden.

«Also bis später.» verabschiede ich mich von Johannes an der Einfahrt zu der Mietwohnung von meinen Eltern. «Sollte die Sache mit meinen Eltern schneller zu Ende gehen als erwartet, dann komme ich schon früher zu dir als abgemacht!»

«Alles klar. Kein Problem. Ich werde solange die Zeit nutzen und selbst ungestört von meinem Vater, etwas am Computer zu spielen.» erwidert Johannes und lässt für einen Moment den Kopf hängen. «Ich wünschte, ich hätte meinen eigenen Computer. Genauso wie du. Dann würde mich mein Vater beim Spielen nicht ständig nerven.»

Zu Hause angekommen, werfe ich die Schultasche in die Ecke und gehe in die Küche, wo, wie immer, meine Mutter mit dem Essen auf mich wartet.

«Na, wie war die Schule?» fragt meine Mutter wie gewohnt.

So wie immer, völlig Sinn frei. Doch anstelle dessen höre ich mich erwidern: «Gut! Was gibt es zu Essen?»

«Fisch mit Spinat und Kartoffeln.» erwidert meine Mutter, mit sich selbst zufrieden.

Na super! Du sitzt den ganzen Tag von morgens bis abends zu Hause und bringst nur so etwas wie „Fisch mit Spinat und Kartoffeln“ hervor. Egal. Ich habe besseres vor, als mich noch über dieses Essen zu ärgern. In Gedanken schon längst bei „Die Helden des Krieges“ beginne ich, das Mittagessen zu verspeisen.

«Iss doch nicht so hastig! Das ist nicht gesund.» seufzt meine Mutter, wie an jeden anderen Tag beim Mittagessen.

«Sorry, Mama. Aber ich würde gern noch etwas Computer spielen, bevor ich mich nachher mit Johannes treffe. Deswegen muss ich mich jetzt beeilen.»

«Sag mal, Sven! Habt ihr keine Hausaufgaben für die Schule zu machen?»

«Nein!» erwidere ich knapp und hoffe, dass die Sache damit erledigt ist. Aber die Rechnung habe ich ohne meine Mutter gemacht.

«Was ist das für eine Schule, in der ihr nie Hausaufgaben aufbekommt?» hakt meine Mutter nach.

«Ja. Äh. Keine Ahnung. Das ist halt so.» sage ich, wobei mir gleichzeitig auffällt, dass ich überhaupt nicht weiß, ob wir Hausaufgaben nun aufhaben oder nicht.

Um der mühsamen Unterhaltung ein Ende zu bereiten, lege ich schließlich Messer und Gabel hin, stehe auf und sage, «So, Mama. Danke fürs Essen. Aber ich muss jetzt weiter.»

Nachdem der Computer endlich die Mission gestartet hat und ich mich wieder in der gleichen Position befinde wie gestern Abend, fühle ich endlich Entspannung meinen Körper durchströmen.

Der Hubschrauber nährt sich seinem Bestimmungsort. Die Zielvorrichtung des Scharfschützengewehrs visiert die Tür des Gebäudes an, in dem sich die Zielperson befindet. Gleich bist du fällig. Der Finger am Abzug…

Doch genauso wie gestern geht die Tür auf und meine Mutter tritt in den Türrahmen.

«Mann!» sage ich gereizt und schaue meine Mutter an, «Was willst du denn schon wieder!».

«Aber Hallo.» erwidert meine Mutter, wie vor den Kopf gestoßen, während Wut und Ärger meine Gefühlswelt übernehmen. «Nun beruhige dich erstmal. Was ist los mit dir? Hier ist ein Telefonat für dich!» sagt sie und reicht mir den Telefonhörer.

Wer nervt denn jetzt wieder?

Den Hörer am Ohr haltend, werfe ich meiner Mutter einen verärgerten Blick hinterher und sehe, wie sie sich in Richtung des Wohnzimmers aufmacht. Auf ihrem Weg macht sie ihrem Ärger Luft und brabbelt ein wenig vor sich hin. Außer den Bruchstücken „so kann man sich doch nicht benehmen“ und „es wird Zeit, dass sein Vater mit ihm ein Wörtchen spricht“ lässt sich nichts Sinnvolles aus dem ganzen Gefasel heraushören.

Egal. Soll sie doch reden, mit wem sie will.

«Ja!» erwidere ich gereizt in den Telefonhörer hinein.

«Hallo Sven! Hier ist Sebastian.» sagt die Stimme an der anderen Seite der Leitung.

Oh nein, was will der schon wieder?

«Ich wollte fragen, ob du Lust hast, mit mir rüber zum Fußballplatz zu fahren, um ein wenig Fußball zu spielen.» beendet dieser seinen Satz.

«Nee, du. Also ehrlich. Momentan passt es mir gar nicht. Aber vielleicht morgen!» erwidere ich und hoffe inständig, Sebastian so schneller loszuwerden.

«Oh! OK. Dann vielleicht morgen. Falls du es dir doch anders überlegst, dann kannst du jederzeit zum Fußballplatz kommen.» seufzt Sebastian traurig in den Hörer hinein.

«Ja, das mach ich. Also, dann. Bis morgen.» schließe ich das Gespräch ab und lege den Telefonhörer zur Seite, noch bevor Sebastian etwas sagen kann.

Nerv doch jemand anderen!

Also, jetzt noch einmal von vorne. Ein Blick auf die Uhr zeigt 12:00 Uhr. Gut. Noch drei Stunden bis zu der Verabredung mit Johannes. Der Hubschrauber fliegt wieder sein Ziel an….

Zwei Missionen später zeigt die Uhr auf halb drei. Bis zur Verabredung sind es also noch 30 Minuten, die es sinnvoll zu füllen gibt. Ein Blick auf den Bildschirm lässt den Handlungsstrang der nächsten Mission erahnen:

Ein Konvoi aus vier Fahrzeugen…. Bla bla bla. Muss sein Ziel erreichen. Bla bla bla. Sorgen Sie dafür, dass dieser Konvoi unbeschadet seinen Bestimmungsort erreicht. Bla bla bla. Sie sind der MG-Schütze…

Nach dieser kurzen Zusammenfassung ist die Vorfreude auf die nächste Mission so groß, dass ich mich kurzerhand entschließe, noch eine Mission zu spielen, ohne mir über die Spieldauer weitere Gedanken zu machen.

Gegen halb vier klingle ich schließlich an der Haustür von Johannes.

«Da bist du ja endlich. Was hat dich so lange aufgehalten?» fragt dieser, im Türrahmen stehend.

«Ach, meine Eltern wollten noch einmal mit mir über die Schule reden. Nichts Wichtiges!», wiegle ich ab und überlege mir eine Frage, um von dem Thema abzulenken. «Und wie ist das Spiel?».

«Super. Hab grade einen meiner Feinde niedergestreckt. Das Spiel basiert auf einem Rundensystem, d.h. du kannst dir während deines Zugs Zeit nehmen, um deinen nächsten Zug zu planen. Aber komm rein und sieh es dir doch selbst an.» sagt Johannes und macht die Tür für mich frei. Im Zimmer angekommen, setzen wir uns auf die beiden Stühle neben dem Computer.

«Das ist das Spiel.» sagt Johannes und weist auf den Bildschirm des Computers.

Die Grafik des Spiels ist nicht unbedingt auf dem neusten Stand der Technik, aber sie ist auch nicht so schlecht, dass man sich von vornherein mit dem Spiel nicht weiter auseinandersetzen möchte.

Nach diesem ersten Eindruck setzt sich Johannes zu mir und beginnt, das Spiel im Detail zu erläutern.

«Es ist also ein Strategiespiel.» gebe ich begeistert, auf den Bildschirm schauend, von mir. «Du sagtest, dass man das Spiel mit mehreren Personen gleichzeitig spielen kann. Wollen wir vielleicht ein neues Spiel starten, in dem wir zusammen gegen den Computer spielen?»

«Aber sicher.» erwidert Johannes. «Warte. Ich speichere nur schnell einmal ab.»

Während Johannes sein eigenes Spiel absichert und anschließend ein neues Spiel startet, sagt er: «Sebastian hat vorhin angerufen.»

«Ach, ja.» erwidere ich, immer noch auf den Bildschirm schauend. «Und was wollte er?»

«Er fragte, ob ich nicht Lust hätte, Fußball zu spielen?» antwortet Johannes.

«Und was hast du ihm geantwortet?»

«Nun. Ich teilte ihm mit, dass ich keine Lust hätte, Fußball zu spielen. Außerdem sei das Wetter nicht so gut, sagte ich weiter, um ihn abzuwimmeln.» antwortet Johannes. Dreht sich im nächsten Augenblick um und fügt mit einem spöttischen Lächeln hinzu: «Fußball spielen! Wer hat schon Lust raus zu gehen? Außerdem spielen nur noch die Asozialen draußen! So. Das Spiel ist geladen. Du bist dran.» sagt Johannes und schiebt mir die Maus zu, «Such dir dein Königreich aus, mit dem du spielen möchtest. Ich geh uns noch eine Packung Chips holen.»

 

«Ja, ist gut.» antworte ich und widme mich dem Spiel.

Acht Spielrunden später sind Johannes und ich voll in das Spiel vertieft. Neben dem strategischen Geschick, sind Planung und Logistik die entscheidenden Faktoren, um seinen Gegner zur Strecke zu bringen. Das Einzige, was an dem Spiel stört, ist Johannes. Die Durchführung eines jeden einzelnen Zugs von Johannes nimmt unheimlich viel Zeit in Anspruch. Jedes Mal, wenn dieser am Zug ist, verspüre ich eine gewisse Gereiztheit in mir aufsteigen. Wenn ich bloß das Spiel hätte, dann könnte ich noch gezielter, noch schneller meinen Sieg erringen. «Wo hat dein Vater das Spiel gekauft?» frage ich schließlich genervt Johannes, während dieser sich zum x-ten Mal ein und dieselbe Burg anschaut.

«Das Spiel gibt es im Supermarkt, hier bei uns um die Ecke. Sogar im Angebot. Mein Vater erwähnte etwas von 10 Mark, wenn ich mich recht erinnere.»

10 Mark! Das Geld liegt noch bei mir zu Hause. Es steht also nichts im Wege, das Spiel zu kaufen. Moment. Meine Mutter hat mir doch Geld gegeben, bevor ich das Haus verließ, damit ich Brot kaufen kann. Anstatt das Brot zu kaufen, kann ich gleich zum Supermarkt gehen und das Spiel holen. Und falls jemand zu Hause fragt, wo das Brot ist, dann behaupte ich einfach, dass es ausverkauft war.

Dann kann ich endlich in Ruhe, ohne das Johannes dazwischen funkt, entspannt spielen. Jetzt muss ich aber hier erst einmal wegkommen.

«Du bist am Zug.» sagt Johannes und reißt mich aus meinen Gedanken.

«Oh ja.» sage ich und nehme die Maus entgegen, um meinen Zug auszuführen. «Weißt du, wie spät es ist?»

«Zehn nach fünf.»

«Was. So spät schon? Oh nein.» sage ich in gespieltem Ton. «Ich muss leider gleich nach Hause. Die Deutsch-Hausaufgaben, wenn du verstehst, was ich meine.» antworte ich auf einer bedauernden Art und Weise.

«Aber die müssen wir erst Donnerstag vorzeigen!» erwidert Johannes verdutzt.

Wir haben Hausaufgaben auf? So ein Mist! «Jaaaa.» erwidere ich, verzweifelt nach einer Ausrede in meinem Kopf suchend. «Da hast du Recht. Aber mein Vater will, dass ich ihn morgen zum Einkaufen begleite.» erwidere ich und ärgere mich im selben Moment über die schlechte Ausrede.

«Wobei sollst du ihm da behilflich sein?» fragt Johannes verwundert.

«Ehrlich. Ich weiß es selber nicht. Aber weißt du was, ich hab irgendwann einfach aufgehört, bei meinem Vater nach dem Sinn für seine Pläne zu fragen! Das erspart viel Zeit und lästige Diskussionen. So!» gebe ich bestimmt von mir und erhebe mich vom Stuhl. «Jetzt muss ich aber los.»

«Ah, bevor ich es vergesse.» sagt Johannes, an der Haustür angekommen. «Ich habe heute in einer Zeitschrift für Computerspiele gelesen, dass nächsten Monat zwei richtig gute Spiele auf den Markt kommen sollen. „Die 6 Armada“ ein Flugsimulationsspiel und „Die dunklen Tore von Hall“ ein Rollenspiel. Beide erhielten eine ausgezeichnete Rezession in den Vorabtests.»

«Wirklich. Das ist ja super. Kannst du die Zeitschrift morgen zur Schule mitbringen, dann kann ich mir im Unterricht die Artikel zu den Spielen durchlesen.»

«Ich kann dir die Zeitschrift auch jetzt mitgeben, wenn du willst?»

«Nee Du. Lass mal. Heute schaffe ich es sowieso nicht mehr, mir die Zeitung anzuschauen. Bring sie einfach morgen mit.»

«Wie du willst.» erwidert Johannes und fügt nach einem Moment hinzu. «Das Spiel, das wir grade gespielt haben. Ich werde es abspeichern, so dass wir es ein anderes Mal zu Ende spielen können.»

«Mach das.» sage ich wohlwissend, dass ich mich hüten werde, dieses Spiel mit Johannes noch einmal zu spielen.

Im Supermarkt um die Ecke stehen verschiedene Computerspiele zum Verkauf, darunter „Der Strategische Krieg“ für den Preis von 10 Mark. Genauso wie Johannes sagte.

Vor der Haustür zu der Wohnung meiner Eltern verstecke ich das Spiel unter dem Pullover und öffne erst dann die Haustür. Kaum dass die Tür auf ist, da raunt auch schon die Stimme meines Vaters durch die Wohnung, «Sven, komm bitte her!»

Dieser Ton verheißt nichts Gutes. «Ja, ich komme sofort.» erwidere ich höflich.

Doch zuerst haste ich in mein Zimmer und verstecke das Spiel in meinem Kleiderschrank. Anschließend mache ich mich auf in das Wohnzimmer. Dort angekommen, sehe ich neben meinem Vater, meine Mutter sitzen und mich mit ernster Miene beäugen.

«Was ist los mit dir?» richtet mein Vater ohne Wenn und Aber das Wort an mich. «Du hast deine Mutter heute angefahren, als sie dir das Telefon gebracht hat. Was sollte das? Hast du kein Benehmen! Verhalten wir uns jetzt wie irgendwelche Wilden?»

«Ach, Papa. Du kennst doch Mama. Sie schaukelt sich gern in etwas herein. Das Ganze war gar nicht so, wie Mama das darstellt. Zugegeben, ich war grade in dem Moment, als Mama in das Zimmer herein kam, etwas aufgebracht. Aber ich war nicht auf Mama wütend, sondern auf den Computer. Mama hat das fälschlicherweise auf sich bezogen.» antworte ich und hoffe, damit die Sache im Keim zu ersticken, bevor die ganze Sache mehr Zeit in Anspruch nimmt als nötig. Schließlich war der Tag heute stressig genug. Auch ohne meine Eltern.

«Das ich nicht lache!» gibt meine Mutter, unglaubwürdig lächelnd zurück. «Du hast mich Wut entbrannt mit zugekniffenen Augen beäugt und angeschrien. Du hast keine Sekunde lang dabei den Computer angeblickt, sondern nur mich. Und so hast du dich auch am Telefon aufgeführt. Schroff und abweisend. Du hättest dich sehen sollen. So geht das nicht. Was ist in letzter Zeit mit dir los? Du gehst nur noch selten raus, sitzt den ganzen Tag vor dem Computer und spielst deine dummen Spiele bis spät in die Nacht.»

Das sind keine dummen Spiele. Du hast doch keine Ahnung. Wieso urteilen Menschen über etwas, dass sie nicht verstehen. Langsam spüre ich, wie die Wut in mir aufsteigt. Mit letzter Willenskraft schaffe ich es noch, mich zu beherrschen. Eine Konfrontation würde nur zu einem langen sinnlosen Gespräch führen. Und das hätte wiederum zufolge, dass ich noch später zum Spielen kommen würde, als ohnehin schon. Es bleibt also, nur noch eins zu tun. Mundhalten und abwarten.

«Wie stellst du dir das vor? Wie soll es hier weiter gehen mit dir?» bringt sich mein Vater wieder ins Gespräch. «Du selbst merkst es vielleicht nicht, aber du hast dich verändert. Wie deine Mutter bereits sagte, du gehst nur noch selten raus. Schottest dich in deinem Zimmer ab und verbringst den ganzen Tag entweder vor dem Computer oder vor dem Fernseher. Stellst du dir etwa so deine Zukunft vor?» fragt er und starrt mich erneut an. «Apropos Zukunft. Deiner Mutter und mir ist aufgefallen, dass wir schon lange nicht mehr gesehen haben, wie du Hausaufgaben machst. Gibt es an eurer Schule keine Hausaufgaben mehr?»

Nicht das Thema schon wieder. «Das habe ich Mama heute Mittag bereits versucht, zu erklären. Wir haben in der letzten Zeit einfach keine Hausaufgaben aufbekommen. Da kann ich doch nichts für, oder?» erwidere ich, mir eines anderen Sachverhaltes bewusst werdend.

Schließlich bin ich in den letzten ein oder zwei Malen durch nicht gemachte Hausaufgaben in der Schule aufgefallen. Das wiederum war aber einfach nur doof gelaufen. Blöder Zufall. Sonst hatte ich immer meine Hausaufgaben gemacht. Aber das erwähne ich an dieser Stelle lieber nicht und fahre statt dessen fort, die Sache schnell zu Ende zu bringen. «Momentan sind nicht viele Jugendliche draußen unterwegs. Und jene die draußen sind, die öden mich an. Es macht also momentan keinen Sinn für mich hinauszugehen, um draußen zu spielen.»

«Ach, so ist das also. Die Menschen draußen auf der Straße öden dich an.» sagt mein Vater in einem gehässigen Ton und fährt fort. «Wer ödet dich noch so an? Wir vielleicht oder die Schule?»

Als ich in deinem Alter war, höre ich plötzlich eine Stimme in meinem Kopf erklingen, und höre so gleich meinen Vater, wie so oft, dieselbe Geschichte vortragen. «Als ich in deinem Alter war, musste ich Verantwortung tragen, Geld verdienen. Wir hatten es nicht so gut wie du! Genug zu Essen, Kleidung und all die Annehmlichkeiten, die du in deinem Leben hast. Ich habe damals Modelle zusammengebaut, Fahrräder aus alten Fahrrädern zusammengebaut und sie immer wieder geflickt. Das Geld für alles musste ich selbst erarbeiten, z.B. durch Flaschen und Schrott sammeln und verkaufen. Und du? Du bekommst von uns Taschengeld und hast sonst nicht viel im Haushalt zu tun. Aber selbst mit diesen wenigen Aufgaben bist du überfordert.»

«Und Respekt hat er überhaupt keinen mehr. Für niemanden.» fügt meine Mutter eilig hinzu, während mein Vater grade Luft holt.