Handbuch Ius Publicum Europaeum

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Erster Teil Offene Staatlichkeit › § 19 Offene Staatlichkeit: Niederlande

Ramses A. Wessel / Wim E. van de Griendt

§ 19 Offene Staatlichkeit: Niederlande

I.Die Stellung der Europäischen Union in der niederländischen Rechtsordnung1 – 11

1.Das Verhältnis zwischen der niederländischen Rechtsordnung und dem Völkerrecht1 – 6

2.Die Haltung der Niederländer gegenüber der Europäischen Union7 – 11

II.Die Mitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften und in der Europäischen Union12 – 44

1.Das besondere verfassungsrechtliche Verhältnis zum Europarecht12 – 16

2.Die nationalen Interessen im Kontext der Ratifikationsdebatten17 – 25

a)Die Ratifikation des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl17 – 20

b)Die Ratifikation des Vertrages zur Gründung der Europäischen Union21

c)Die Ratifikation der Verträge von Amsterdam und Nizza22 – 24

d)Die Ratifikation des Vertrages über eine Europäische Verfassung25

3.Die Annahme von gegen die Verfassung verstoßenden Verträgen26 – 36

4.Die Offenheit der Verfassung und die Probleme der demokratischen Legitimation37 – 44

III.Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Verfassung der Niederlande45 – 55

1.Die Stellung der Europäischen Menschenrechtskonvention im niederländischen Recht45, 46

2.Das Verhältnis der Europäischen Menschenrechtskonvention zum niederländischen Verfassungsrecht47 – 51

3.Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und das niederländische Verfassungsrecht52 – 55

IV.Zusammenfassung56 – 60

Bibliographie

Erster Teil Offene Staatlichkeit › § 19 Offene Staatlichkeit: Niederlande › I. Die Stellung der Europäischen Union in der niederländischen Rechtsordnung

I. Die Stellung der Europäischen Union in der niederländischen Rechtsordnung

Übersetzt von Philipp Graf; redaktionell bearbeitet von Andreas Engel und Dr. Ferdinand Wollenschläger. Abkürzungen (in Ergänzung zu dem Beitrag von Leonard Besselink, § 6 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Niederlande): EHRR European Human Right Reports SEW SEW Tijdschrift voor Europees en economisch recht.

1. Das Verhältnis zwischen der niederländischen Rechtsordnung und dem Völkerrecht

1

Die Niederlande nehmen gegenüber dem Völkerrecht traditionell eine offene Haltung ein. Seit dem 17. Jahrhundert ist die internationale Stellung der Niederlande geprägt durch eine Kultur des Welthandels, was dazu führte, dass fremde (kulturelle) Einflüsse von den Niederländern vorbehaltlos angenommen wurden. Einige Autoren bringen diese offene Grundhaltung sogar mit dem nur schwach ausgeprägten Nationalgefühl der Niederländer in Verbindung, bei denen auch die Nationalsymbole (wie die Landesflagge und die Nationalhymne) vielleicht etwas weniger in Ehren gehalten werden als in anderen Ländern. Der niederländische Außenminister von 1956 bis 1971, Joseph Luns, scherzte gerne, dass die offene Haltung gegenüber dem Ausland schlicht und einfach auf die Tatsache zurückzuführen sei, dass das Ausland aus der Sicht der kleinen Niederlande verhältnismäßig groß ist. Jedenfalls wird der starke Rückhalt, den das Völkerrecht bei den Niederländern findet, auf die Verbindung zweier Eigenschaften der Niederländer zurückgeführt: Sie sind ein gesetzestreues Volk. Als kleiner Handelsstaat mit nur unzureichenden militärischen Fähigkeiten sind sie jedoch auch auf den durch das Völkerrecht gewährten Schutz angewiesen.[1] Die Offenheit der Verfassung ist ein fester Bestandteil der niederländischen Rechtskultur, was zum einen erklärt, dass über dieses Thema kaum (oder sogar überhaupt nicht) diskutiert wird. Zum anderen liegt es daran, dass die Verfassung für viele Rechtsinstitute keine Regelungen enthält.[2] Weder die Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft noch die damit einhergehende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zur unmittelbaren Geltung und zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts nahm die communis opinio zum Anlass, über diese Fragen ernsthaft zu diskutieren.

2

Die Außenbeziehungen sind in den Art. 90 bis 96 der niederländischen Verfassung (Grondwet) geregelt. Bezeichnenderweise bezieht sich die erste Regelung dieses Abschnitts nicht auf die nationale, sondern auf die internationale Rechtsordnung. In Art. 90 heißt es: „Die Regierung fördert die Weiterentwicklung des Völkerrechts.“ Diese Bestimmung wurde zwar 1953 in die Verfassung eingefügt, doch verlieh sie nur dem traditionellen Selbstverständnis der Niederlande als Mitglied der Völkerrechtsgemeinschaft Ausdruck.[3] Schon die Verfassung aus dem Jahre 1922 enthielt eine ähnliche Bestimmung.[4] Ansonsten sind Bestimmungen mit Bezug zur Weiterentwicklung des Völkerrechts ausgesprochen selten. Sie finden sich nur in der Verfassung von Surinam und in dem Vertrag über eine Verfassung für Europa (VVE) aus dem Jahre 2004.[5]

3

Das Königreich der Niederlande besteht gegenwärtig aus dem europäischen Teil der Niederlande sowie den Hoheitsgebieten Niederländische Antillen und Aruba. Als Staat ist das Königreich der Niederlande einschließlich seiner überseeischen Hoheitsgebiete Mitglied in der Völkerrechtsgemeinschaft. Nur das Königreich der Niederlande kann Partei eines völkerrechtlichen Vertrages sein, nicht dagegen der europäische Teil oder die Hoheitsgebiete. Die Verträge werden im Namen der Krone geschlossen und im niederländischen Gesetzblatt (Tractatenblad) bekannt gemacht. Im Hinblick auf die Mitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften bestanden die Niederlande – in einem Protokoll zum EG-Vertrag – auf einer Ausnahme von der allgemeinen Regel des Völkerrechts, nach welcher Verträge grundsätzlich für das gesamte Staatsgebiet des Königreichs der Niederlande gelten (Art. 299 Abs. 1 EG). Der EG-Vertrag wurde ursprünglich nur für den europäischen Teil des Königreichs der Niederlande sowie Niederländisch Neu-Guinea ratifiziert (somit nicht für die Hoheitsgebiete Surinam und Niederländische Antillen). Heute besteht das Königreich der Niederlande nur noch aus den Hoheitsgebieten Niederländische Antillen und Aruba. Das Rechtsverhältnis dieser „überseeischen Länder und Hoheitsgebiete“ zur Europäischen Union ist in Art. 299 Abs. 3 EG-Vertrag geregelt, demzufolge das besondere Assoziierungssystem gilt, das im Vierten Teil des EG-Vertrages festgelegt ist.[6] Auch der Abschluss des EU-Vertrages und die Änderungen des EG-Vertrages erfolgten im Namen des Königreichs der Niederlande. Sie wurden jedoch nicht für die Hoheitsgebiete Niederländische Antillen und Aruba ratifiziert. Da sich Entscheidungen auf europäischer Ebene auch auf die überseeischen Hoheitsgebiete auswirken können, sieht das Gesetz über das Königreich der Niederlande in diesen Fällen vor, dass die überseeischen Hoheitsgebiete unterrichtet werden müssen, bevor die niederländische Regierung ihre Zustimmung erteilt.[7] Aufgrund der offenen Haltung gegenüber dem Völkerrecht sind Verträge und Beschlüsse internationaler Organisationen gemäß der niederländischen Verfassung Bestandteil der niederländischen Rechtsordnung. In Art. 93 Grondwet heißt es: „Bestimmungen von Verträgen und Beschlüssen internationaler Organisationen, die ihrem Inhalt nach allgemeinverbindlich sein können, haben Verbindlichkeit nach ihrer Verkündung.“

4

Die Grenzen dieser Bestimmung liegen auf der Hand. Zum einen umfasst sie nicht alle Regeln und Grundsätze des Völkerrechts. Während zuweilen behauptet wird, dass es nach der monistischen Theorie keinen Sinn mache, zwischen Vertrags- und Gewohnheitsrecht zu unterscheiden, gilt jedoch gemäß Art. 93 Grondwet nur geschriebenes Völkerrecht in Form völkerrechtlicher Verträge und Beschlüsse internationaler Organisationen unmittelbar in der niederländischen Rechtsordnung. Im Jahre 1959 entschied der oberste Gerichtshof der Niederlande (Hoge Raad) im Fall Nyugat, dass aus der ausdrücklichen Bezugnahme der niederländischen Verfassung auf Verträge und Beschlüsse internationaler Organisationen e contrario folge, dass diesen eine andere Stellung als dem Gewohnheitsrecht zukomme.[8] Die Regierung wie auch das Parlament schlossen sich dieser einschränkenden Auslegung an, als die Verfassung im Jahre 1983 geändert wurde. Und in der Tat entschied der Hoge Raad im Jahre 2001, dass der Befehlshaber der surinamischen Armee, Désiré Delano Bouterse, nicht in den Niederlanden verfolgt werden könne, da eine geschriebene Bestimmung des innerstaatlichen Rechts (das strafprozessuale Gesetzlichkeitsprinzip) nicht von einer ungeschriebenen völkerrechtlichen Regel (dem Folterverbot, welches zum Tatzeitpunkt im Jahre 1982 noch nicht kodifiziert war) verdrängt werden könne.[9] Zum anderen unterliegt Art. 93 Grondwet dem einschränkenden Merkmal der unmittelbaren Anwendbarkeit der Bestimmungen („die allgemeinverbindlich sein können“). Voraussetzung hierfür ist, dass die Bestimmung des Völkerrechts überhaupt vor niederländischen Gerichten geltend gemacht werden kann, wodurch jedoch nicht die Geltung anderer völkerrechtlicher Bestimmungen in der niederländischen Rechtsordnung in Frage gestellt wird. Bedeutung hat dieses Merkmal insbesondere in Verbindung mit einem anderen Rechtsgrundsatz, welcher das Verhältnis zwischen dem niederländischen Recht und dem Völkerrecht regelt, nämlich dem des Vorrangs des Völkerrechts. So heißt es in Art. 94 Grondwet: „Innerhalb des Königreichs geltende gesetzliche Vorschriften werden nicht angewandt, wenn die Anwendung mit allgemeinverbindlichen Bestimmungen von völkerrechtlichen Verträgen und Beschlüssen internationaler Organisationen nicht vereinbar ist.“

 

5

Dieser Grundsatz war erstmals in der Verfassungsänderung aus dem Jahre 1953 enthalten. Die Einschränkung auf „Bestimmungen von Verträgen, die ihrem Inhalt nach allgemeinverbindlich sein können“ wurde ausdrücklich in die Verfassung aufgenommen, damit die Gerichte Verträge nicht auch dann zulasten des niederländischen Rechts anwenden, wenn keine individuellen Interessen berührt sind. Ob eine bestimmte Vertragsbestimmung unmittelbar wirksam ist, entscheiden die Gerichte. Bei der Entscheidungsfindung stützen sie sich auf die Rechtsnatur des Vertrages und die seiner einzelnen Bestimmungen.

6

Kurz gesagt kann auf diese Weise das Völkerrecht aufgrund der Offenheit der niederländischen Verfassung im anhängigen Gerichtsverfahren angewendet und das niederländische Recht verdrängt werden, falls es von Bestimmungen des geschriebenen Völkerrechts abweicht. Das Völkerrecht bildet somit einen Bestandteil des niederländischen „Verfassungsrahmens“ im weitesten Sinne des Wortes und nimmt einen höheren Rang ein als das geschriebene Verfassungsrecht der Niederlande. Bislang sind die niederländischen Gerichte gemäß Art. 120 Grondwet nicht berechtigt, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und Verträgen zu prüfen.[10] Die Verfassungsmäßigkeit wird jedoch nach einer auf Art. 93 und 94 Grondwet basierenden Meinung dadurch gewährleistet, dass das niederländische Recht und das Völkerrecht übereinstimmend ausgelegt und letzterem im Falle von voneinander abweichenden Bestimmungen Vorrang eingeräumt wird. Die Art. 93 und 94 Grondwet garantieren somit die Offenheit der niederländischen Rechtsordnung. Daher vertreten einige Autoren die Auffassung, dass diese Bestimmungen nicht so ausgelegt werden sollten, als würden sie den strengen Monismus der niederländischen Rechtsordnung durchbrechen. Dieser Ansicht zufolge haben die niederländischen Gerichte das Völkerrecht als festen Bestandteil des niederländischen Rechts zu betrachten. Durch die Einheit von niederländischem Recht und Völkerrecht würden sogar die Art. 93 und 94 Grondwet erst richtig zur Geltung kommen. In der Rechtsprechung der niederländischen Gerichte finden sich in der Tat einige Anhaltspunkte für diese Ansicht. Während der Fall Grenstractaat Aken aus dem Jahre 1919 bereits in diese Richtung wies, scheint eine Richtlinie aus jüngerer Zeit (2004) der Abteilung für Verwaltungsrecht des Staatrats diese Ansicht dadurch zu bestätigen, dass sie die Befugnis der niederländischen Gerichte zur Anwendung von völkerrechtlichen (Umwelt-) Bestimmungen unter anderem auf die Art. 93 und 94 Grondwet zurückführt.[11] Dadurch würde die allgemeine Unterscheidung zwischen dem Völkerrecht und dem Europäischen Gemeinschaftsrecht, was die Frage nach ihrem Geltungsgrund in der niederländischen Rechtsordnung betrifft, hinfällig.[12]

2. Die Haltung der Niederländer gegenüber der Europäischen Union

7

Es lag stets im niederländischen wie im europäischen Interesse, dass die Institutionen der Europäischen Gemeinschaften/Union eine starke Stellung einnehmen.[13] Einerseits bringen Europa und dessen Binnenmarkt nach allgemeiner Auffassung Vorteile für den Handel und folglich auch für die niederländische Volkswirtschaft. Andererseits wird die Europäische Union aber auch zunehmend als eine riesige bürokratische und verschwenderische Organisation wahrgenommen, welche immer stärkeren Einfluss auf die Politik der Niederlande sowie ihre Gesetze und Rechtsverordnungen ausübt.

8

Ein starkes Europa erfordert jedoch nach Auffassung der niederländischen Regierung sowie des Parlaments nicht per definitionem die Übertragung von Hoheitsrechten auf die europäische Ebene. Die europäischen Institutionen müssten jedoch in die Lage versetzt werden, schnell und effektiv zu handeln, und auf diese Weise den in sie gesetzten Erwartungen gerecht werden. Dies ist auch für den Rückhalt der EU in der Bevölkerung wichtig, da nach Ansicht der Regierung die Legitimität der EU auf der Fähigkeit zu effektivem Handeln beruht.[14]

9

Die Regierung der Niederlande betrachtet die EU zunehmend auch als einen unverzichtbaren Rahmen zur Durchführung von Maßnahmen der Regierungen in den Mitgliedstaaten. Sie sei keine Organisation, welche die niederländische Regierung ersetzt, sondern vielmehr deren ergänzende und notwendige Erweiterung. Es ist daher notwendig, dass das europäische Rahmenwerk einen ausreichenden Grundrechtsschutz, transparente Entscheidungsprozesse und eine Begrenzung der Macht auf der Grundlage der Gewaltenteilung gewährleistet.[15] Folglich muss mit Hilfe starker und wirkungsvoller Kontrollmechanismen auf dem Gebiet des Rechts, der Wirtschaft und der Politik eine beherrschende Stellung einzelner Mitgliedstaaten oder deren Interessen verhindert werden.

10

Nach Auffassung der Regierung hat die Gemeinschaftsmethode, der zufolge die Kommission, der Rat sowie das Europäische Parlament gemeinsam handeln, ihre Effektivität in der Vergangenheit unter Beweis gestellt. Durch sie wird die Transparenz der Entscheidungsprozesse in hohem Maße gewährleistet, wenngleich in dieser Beziehung noch Verbesserungen möglich sind. Die Gemeinschaftsmethode gewährleistet zugleich eine konsistente Politik, die meist auf einem sorgfältigen Interessenausgleich beruht, weil die Kommission auf verschiedenen Stufen des Entscheidungsprozesses Konsultationsmechanismen einsetzt. Außerdem bietet die Gemeinschaftsmethode – mit einer starken Stellung der Kommission, einem rechtlich geregelten Mächtegleichgewicht und dem Grundsatz der Staatengleichheit – im Vergleich zur zwischenstaatlichen Methode eine bessere Sicherung gegen Machtmissbrauch.[16]

11

Die Europäische Union hat sich in der Vergangenheit in einem beeindruckenden und bedeutenden Maße weiterentwickelt. Hoheitsrechte sind von der nationalen auf die europäische Ebene übertragen worden. Eigentlich waren verfassungsrechtliche Konflikte zu erwarten – nicht aber im Fall der Niederlande. Die Grundlage für die Übertragung von Hoheitsrechten wurde bereits im Jahre 1953 geschaffen. In jenem Jahr wurde die niederländische Verfassung durch einen neuen Art. 92 Grondwet ergänzt. Auf der Grundlage dieser Bestimmung können Befugnisse im Bereich der Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung auf völkerrechtliche Organisationen übertragen werden. Nachdem der Gründungsvertrag einer völkerrechtlichen Organisation angenommen ist, erhalten die Beschlüsse, welche nach dem Willen der Organisation für die Parteien verbindlich sein sollen, soweit dies vom Gründungsvertrag vorgesehen ist, unmittelbare Geltung in der niederländischen Rechtsordnung.[17] Art. 92 Grondwet gilt nicht nur für bestimmte Arten von völkerrechtlichen Organisationen.[18] Mit seiner Einführung sollte jedoch hauptsächlich die Möglichkeit geschaffen werden, Hoheitsrechte auf die Europäischen Gemeinschaften zur Förderung der europäischen Integration zu übertragen. Das Parlament erklärte sogar in dem Annahmeverfahren zu den Verfassungsänderungen im Jahre 1983, dass diese Verfassungsbestimmung so auszulegen ist, dass sie den europäischen Integrationsprozess nicht erschwert.[19]

Erster Teil Offene Staatlichkeit › § 19 Offene Staatlichkeit: Niederlande › II. Die Mitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften und in der Europäischen Union

II. Die Mitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften und in der Europäischen Union

1. Das besondere verfassungsrechtliche Verhältnis zum Europarecht

12

Da in der niederländischen Verfassung ausdrücklich weder auf die Europäische Union noch auf die Europäische Gemeinschaft Bezug genommen wird, sind die allgemeinen Prinzipien der innerstaatlichen Geltung und der unmittelbaren Wirkung des Völkerrechts anwendbar. Viele Verfassungsrechtsexperten sind jedoch der Ansicht, dass die Besonderheiten des Europarechts in der niederländischen Verfassung nicht ausreichend berücksichtigt werden. Es lässt sich schließlich nicht bestreiten, dass das Europarecht auf noch nie da gewesene Weise die niederländische Rechtsordnung beeinflusst und die EG sowie die EU folglich nicht mit anderen internationalen Organisationen vergleichbar sind. Dennoch bezieht sich Art. 90 Grondwet ausdrücklich nur auf die „Völkerrechtsordnung“, wodurch die Tatsache zu kurz kommt, dass die Europäische Union „eine eigenständige Rechtsordnung“[20] bildet, durch welche die niederländische Rechtsordnung in vielen Fällen verdrängt wird.

13

Da in der niederländischen Verfassung jeglicher Bezug zum Europarecht fehlt, stellt sich die Frage, ob dessen Geltung in der niederländischen Rechtsordnung auf die in den einschlägigen Verfassungsbestimmungen (insbesondere Art. 93 und 94 Grondwet) enthaltenen allgemeinen Prinzipien oder auf das Recht der EU/EG selbst zurückzuführen ist.[21] In der Diskussion wurde zur Begründung der ersten Ansicht darauf hingewiesen, dass diese Verfassungsbestimmungen schon im Hinblick auf die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen in die niederländische Verfassung aufgenommen wurden, und zwar einschließlich der nur kurz zuvor gegründeten Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Zudem könnten die niederländischen Gerichte aufgrund von Art. 94 Grondwet feststellen, ob das innerstaatliche Recht mit dem Völkerrecht übereinstimmt, einschließlich des von internationalen Organisationen geschaffenen Sekundärrechts. In den Debatten zur Verfassungsänderung im Jahre 1983 konnte die niederländische Regierung das Parlament wiederum überzeugen, dass Änderungen der Verfassung schon deswegen nicht erforderlich seien, weil das Europarecht durch eine entsprechende Auslegung der Bestimmungen einbezogen werden kann. Der Gesetzgeber verweist in der Tat allgemein auf die Art. 93 und 94 Grondwet, wenn Gesetze zur bloßen Umsetzung von Gemeinschaftsrecht verabschiedet werden. Auch in der niederländischen Rechtsprechung finden sich häufig Beispiele für diese Vorgehensweise.[22]

14

Die Art. 93 und 94 Grondwet lassen sich jedoch nicht völlig problemlos auf das Europäische Gemeinschaftsrecht anwenden. Erstens heißt es in Art. 93 Grondwet, dass Verträge und Beschlüsse internationaler Organisationen nur „nach ihrer Bekanntmachung“ verbindlich sind. Weitergehende Regelungen zur parlamentarischen Zustimmung und Vertragsveröffentlichung sind in dem Gesetz über die Zustimmung zu und Bekanntmachung von Verträgen (Rijkswet goedkeuring en bekendmaking verdragen) enthalten. Auf der Grundlage dieses Gesetzes können internationale Organisationen (deren Gründungsvertrag im niederländischen Gesetzblatt zuvor veröffentlicht wurde) ihre Beschlüsse durch eigene Einrichtungen bekannt geben. Die Bekanntmachung von Entscheidungen wird aber nicht in allen Fällen auf der Grundlage des EG-Vertrages vorgenommen. Eine Ausnahme bilden vor allem Entscheidungen, welche auf Grundlage von Assoziierungsabkommen ergehen. Einige Autoren halten es daher für erforderlich, dass im niederländischen Gesetz über die Zustimmung zu und Bekanntmachung von Verträgen neben dem üblichen Hinweis auf das niederländische Gesetzblatt auch auf das offizielle Amtsblatt der Europäischen Union verwiesen wird.[23]

 

15

Im Zusammenhang mit Art. 94 Grondwet stellt sich ebenfalls die Frage, ob auch die nicht unmittelbar wirksamen Bestimmungen des primären und sekundären Gemeinschaftsrechts Vorrang vor dem innerstaatlichen Recht haben. Schließlich ist gemäß Art. 94 Grondwet der Vorrang des Völkerrechts eindeutig auf unmittelbar wirksame Bestimmungen eingeschränkt. Zudem wird von einigen Autoren die Auffassung vertreten, dass Art. 94 Grondwet aufgrund seiner Entstehungsgeschichte nur bei Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch die rechtsprechende Gewalt, nicht jedoch bei Anwendung durch die vollziehende Gewalt gilt. Dies steht im Widerspruch zu der vom Europäischen Gerichtshof vertretenen Auffassung, nach welcher auch die vollziehende Gewalt das nationale Recht im Falle eines Konflikts mit Gemeinschaftsrecht außer Acht lassen kann.[24] Schließlich könnte die Tatsache, dass Art. 94 Grondwet nur für das geschriebene Völkerrecht gilt, der Auffassung des Europäischen Gerichtshofes entgegenstehen, nach welcher auch die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts ein Bestandteil des europäischen Rechtssystems und folglich der innerstaatlichen Rechtsordnungen sind.

16

Die im Jahre 2002 erfolgte Verfassungsänderung, welche sich im Wesentlichen auf die Mitwirkung des Parlaments bei Auslandseinsätzen der niederländischen Armee bezog, wurde nicht für die erforderlichen Änderungen der Verfassung hinsichtlich der Mitgliedschaft der Niederlande in der EU/EG genutzt. Während die Regierung eine Empfehlung der Ersten Kammer annahm und in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung prüfte, kamen einige Verfassungsrechtsexperten zu dem Ergebnis, dass eine Änderung der Verfassung nicht unbedingt erforderlich sei, auch wenn vieles dafür spreche, Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit wieder in Einklang zu bringen.[25] Diese Auffassung entspricht tatsächlich der herrschenden Meinung in der wissenschaftlichen Diskussion, nach welcher die Art. 93 und 94 Grondwet hinsichtlich der Geltung des Gemeinschaftsrechts in der niederländischen Rechtsordnung keine Relevanz haben, weil dies auf der Grundlage des Gemeinschaftsrechts selbst geregelt ist. Demzufolge hätte das Gemeinschaftsrecht selbst dann die ihm heute zuerkannte Geltung, wenn diesbezüglich gar keine Verfassungsbestimmungen bestehen würden. Während der Hoge Raad ursprünglich die Auffassung vertrat, dass das Gemeinschaftsrecht über die Art. 93 und 94 Grondwet in die niederländische Rechtsordnung aufgenommen wird,[26] scheint ein erst kürzlich ergangenes Urteil die Diskussion zu diesem Thema nun entschieden zu haben. Der Hoge Raad hat in seinem Urteil vom 2. November 2004 ausdrücklich bestätigt, dass die Geltung einer Verordnung der EU nicht auf Art. 93 und 94 Grondwet beruht, sondern auf dem EG-Vertrag.[27] In diesem Fall argumentierte der oberste Gerichtshof, dass eine Person nicht aufgrund Art. 8 der EG-Verordnung 3820/85, welche die Harmonisierung einiger Sozialgesetze bezüglich des Straßengüterverkehrs regelt,[28] verurteilt werden könne, da diese Bestimmung keine unmittelbare Geltung im Sinne von Art. 93 Grondwet habe. Der Bestimmung komme keine Geltung in der niederländischen Rechtsordnung zu, weil Art. 93 Grondwet ausdrücklich beschränkt sei auf „Bestimmungen von Verträgen und Beschlüssen internationaler Organisationen, die ihrem Inhalt nach allgemeinverbindlich sein können“. Was die Rechtskraft der Verordnung betrifft, bezieht sich das Verfassungsgericht auf Art. 249 EG-Vertrag sowie auf eine ähnliche Bestimmung, welche in Art. 19 der Verordnung selbst enthalten ist. Darüber hinaus wird auf die hierzu einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Bezug genommen.[29] In ihren offiziellen Stellungnahmen zur Europäischen Verfassung aus dem Jahre 2004 ließ die niederländische Regierung erkennen, dass sie die gleiche Auffassung vertritt, und legte in Bezug auf Art. I-6 VVE dar, dass die niederländische Verfassung von Beginn an die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EG vorsah. Dabei bezog sich die Regierung auf die Fälle Van Gend & Loos und Costa/ENEL und behauptete, dass die niederländische Verfassung keine Probleme mit dem neuen Art. I-6 VVE habe.[30]