Handbuch Ius Publicum Europaeum

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

2. Die verfassungsrechtliche Grundlage der Mitgliedschaft Italiens in den Europäischen Gemeinschaften und in der Europäischen Union

17

Im Kontext der Ratifizierung der Verträge von Paris und Rom wurde von einigen Autoren und in der politischen Debatte die These vertreten, dass ein verfassungsänderndes Gesetz zur Ratifizierung bzw. zur Umsetzung dieser Verträge erforderlich sei, weil sie in der Tat eine Änderung der Verfassung darstellten, indem sie auf die europäischen Gemeinschaften Hoheitsrechte übertrugen, die die Verfassung ursprünglich staatlichen Organen zugewiesen hatte. Trotzdem folgte das Parlament der entgegengesetzten Auffassung, nämlich dass eine Ratifizierung und Umsetzung durch einfaches Gesetz ausreiche, weil die Übertragung von Hoheitsrechten schon in Art. 11 Cost. ihre Rechtfertigung finde. Diese Auffassung wurde auch von der Corte costituzionale in ihrem ersten „europäischen“ Urteil Costa gegen ENEL, Nr. 14 vom 7.3.1964, bestätigt. In dieser Entscheidung hat das Verfassungsgericht Art. 11 Cost. als „norma permissiva“ (Öffnungsklausel) definiert und damit bestätigt, dass er dazu ermächtigt, „Verträge abzuschließen, die Souveränitätsbeschränkungen mit sich bringen und die im Wege eines einfachen Gesetzes umgesetzt werden können“. Seitdem ist Art. 11 Cost. vom Verfassungsgericht und der h.L. als verfassungsrechtliche Grundlage der Mitgliedschaft Italiens in den EG und später in der EU verstanden worden.

18

Schwieriger war es allerdings zu rechtfertigen, wie eine Verfassungsbestimmung, die anderen Zwecken dienen sollte, nämlich dem Beitritt Italiens zum neu zu schaffenden Völkerbund (den jetzigen Vereinten Nationen), und die auf Werte wie „Frieden und Gerechtigkeit unter den Nationen“ Bezug nimmt, inhaltlich so verstanden werden konnte, dass sie als verfassungsrechtliche Grundlage für ein Phänomen wie die europäische Integration herangezogen werden konnte, die nichts mit der ursprünglichen ratio dieser Norm zu tun hat. Am deutlichsten wurde diese Frage im Urteil Frontini gegen Ministero delle Finanze, Nr. 183 vom 27.12.1973, beantwortet, in dem die Corte costituzionale klargestellt hat, dass Art. 11 Cost. „[…] Beschränkungen der Hoheitsgewalt des Staates zur Wahrnehmung der legislativen, exekutiven und rechtsprechenden Gewalt rechtfertigt, wenn sie zur Schaffung einer Gemeinschaft zwischen den europäischen Staaten erforderlich werden […]“ und dass „Italien und die anderen Staaten der EWG […], die der Integration der Mitgliedstaaten zum Zweck der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung und folglich auch zur Verteidigung des Friedens und der Freiheit [Hervorhebung vom Verf.] dienen soll, bestimmte Hoheitsbefugnisse übertragen und sie damit als eine mit einem eigenen und unabhängigen Rechtssystem ausgestattete Institution geschaffen haben.“ Die Ziele der Aufrechterhaltung des Friedens und der Freiheit, die Art. 11 Cost. prägen, sind also als der EWG eigene Ziele verstanden worden, die von ihr im Wege der gemeinsamen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Mitgliedstaaten verfolgt werden.

19

Dogmatisch wird eine solche „interpretative Entstellung“ von der h.L. mit dem Argument für verfassungsmäßig gehalten, dass die Vorschriften die besondere Eigenschaft haben, sich von dem Willen des Normgebers und von der occasio legis ihrer Entstehung zu trennen und ihr eigenes Leben in der Rechtsordnung zu führen. Das kann durchaus zu Interpretationen bzw. Anwendungen führen, die für den historischen Verfassunggeber (noch) unvorstellbar waren.[20]

3. Europarecht und nationales Recht: Die Entwicklung der Judikatur des italienischen Verfassungsgerichts

20

Der „cammino comunitario“[21] der Corte costituzionale hat sich in drei Phasen entwickelt: Die erste lag in den Jahren 1964–1973, die zweite in den Jahren 1973–1984 und die noch andauernde dritte hat 1984 begonnen.

a) Zunächst: Reiner Dualismus

21

Das Verfassungsgericht hat in einer ersten Phase mit dem schon erwähnten Urteil Costa gegen ENEL Nr. 14 vom 7.3.1964 den Vorrang des Europarechts vor dem nationalen Recht kategorisch ausgeschlossen. Der Fall betraf einen Konflikt zwischen dem Gesetz über die Verstaatlichung der Erzeugung elektrischer Energie[22] und einigen Vorschriften des EWG-Vertrags, d.h. zwischen einem nachfolgenden einfachen nationalen Gesetz und dem einfachen Gesetz, das den Anwendungsbefehl des EWG-Vertrags enthielt. Die Corte costituzionale schloss insbesondere aus, dass ein dem Gemeinschaftsrecht widersprechendes späteres nationales Gesetz wegen eines mittelbaren Widerspruchs zu Art. 11 Cost. für verfassungswidrig gehalten werden konnte. Sie wandte hingegen das zeitliche Kriterium lex posterior derogat legi priori mit der Folge an, dass ein späteres einfaches Gesetz eine vorhergehende gemeinschaftsrechtliche Norm innerhalb des nationalen Rechts aufheben konnte. Zur Begründung führte sie an, dass Art. 11 Cost. als „norma permissiva“ (Öffnungsklausel) zwar eine Beschränkung der Souveranität durch einfaches Gesetz (d.h. das Umsetzungsgesetz zum EWG-Vertrag) zulässt, diesem Gesetz aber keinen besonderen Status im Verhältnis zu allen anderen einfachen Gesetzen zuweist mit der Folge, dass eine eventuelle Verletzung der Gemeinschaftsverträge durch ein späteres einfaches Gesetz die Verfassungsmäßigkeit und die Anwendbarkeit eines solchen Gesetzes nicht berührt, auch wenn dies eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit auslösen würde. Das Verfassungsgericht ordnete damit die europäische Integration ausschließlich dem Bereich des Völkerrechts zu und wandte die für die Beziehung zwischen nationalem Recht und Völkerrecht geltende streng dualistische Theorie auch auf die Beziehungen zwischen der nationalen Rechtsordnung und der der Gemeinschaft an.

22

Anders als die Corte costituzionale hat der EuGH dagegen von Anfang an auf das Verhältnis zwischen den beiden Rechtssystemen die monistische Theorie angewendet und den Vorrang des Europarechts vor dem nationalen Recht bekräftigt. Nach seiner Auffassung sind das Europarecht und das nationale Recht Bestandteile eines einzigen Rechtssystems, das auf den europäischen Verträgen beruht. Deshalb erkannte der Gerichtshof, der im Wege einer Vorlage zur Vorabentscheidung mit dem Fall Costa gegen ENEL befasst wurde, nur wenige Monate nach der Entscheidung des italienischen Verfassungsgerichts mit Urteil vom 15.7.1964[23] den Vorrang des Europarechts vor dem nationalen, auch zeitlich späteren, Recht an.

b) Später: Zunehmend moderater Dualismus

23

In einer zweiten Phase, ausgehend von den Urteilen Frontini Nr. 183 vom 27.12.1973 und ICIC Nr. 232 vom 30.10.1975, ist der Vorrang des Europarechts vor dem nationalen Recht von der Corte costituzionale ausdrücklich anerkannt worden. In diesen Entscheidungen hat sie – anders als der EuGH – diesen Vorrang zwar noch aus einer dualistischen Sicht begründet. Namentlich lehnte sie die monistische Konzeption der europäischen und der nationalen Rechtsordnung als Bestandteile eines einzigen Rechtssystems ab und begriff die europäische und die nationale Rechtsordnung als zwei „autonome und unterschiedliche, aber auf der Grundlage der im Vertrag niedergelegten und garantierten Kompetenzzuteilung koordinierten Rechtssysteme“[24]. Das Verfassungsgericht gab jedoch zugleich die streng völkerrechtliche Zuordnung der Beziehung zwischen nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht mit der Feststellung auf, dass die nationale Rechtsordnung auf der Grundlage von Art. 11 Cost. mit Annahme der europäischen Verträge Souveranitätsbeschränkungen zugestimmt habe, mit der Folge, dass – und hier liegt der wesentliche Unterschied zur Entscheidung Costa gegen ENEL – immer dann, wenn ein späteres einfaches Gesetz mit einer vorhergehenden Verordnung der Gemeinschaft nicht vereinbar sei, das Gesetz wegen mittelbarer Verletzung von Art. 11 Cost. verfassungswidrig sei. Die wesentlichen Folgen dieser Neuorientierung waren, dass ausschließlich das Verfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit des nationalen Gesetzes – d.h. den Vorrang des Europarechts vor dem nationalen Recht – feststellen konnte[25] und dass der ordentliche Richter infolgedessen nicht befugt war, ohne entsprechende Entscheidung des Verfassungsgerichts von der Anwendung des nationalen Gesetzes abzusehen[26].

24

Diese Feststellung der Corte costituzionale ist jedoch vom EuGH mit Entscheidung vom 9.3.1978 im Fall Simmenthal[27] kritisiert worden. In dieser Entscheidung hat der EuGH gefordert, dass jedes nationale Gericht unmittelbar und ohne eine Entscheidung des Verfassungsgerichts herbeizuführen, den Vorrang des Europarechts durch Nichtanwendung des nationalen gemeinschaftswidrigen Rechts gewährleisten müsse. Nach Ansicht des Gerichtshofes werden die Normen des EWG-Vertrags über die unmittelbare Anwendbarkeit von Verordnungen (ehemaliger Art. 189, jetzt Art. 249 EG) verletzt, wenn die Fachgerichte im Fall eines Konflikts zwischen einer nationalen Norm und einer europäischen Verordnung letztere nicht unmittelbar anwenden und damit die darin dem einzelnen Bürger übertragenen Rechte unmittelbar gewährleisten könnten.

25

Weiter ist bemerkenswert, dass das Verfassungsgericht (siehe auch schon ein obiter dictum im Urteil Frontini Nr. 183 von 1973, aber vor allem das Urteil ICIC Nr. 232 von 1975) nicht nur diejenigen nationalen Gesetze, die Verordnungen oder sonstigen europarechtlichen Normen widersprechen, für verfassungswidrig hält, sondern auch diejenigen, die den Inhalt von Verordnungen zum Zweck der Durchführung im nationalen Recht nur reproduzieren. Diese Praxis – die in Italien zu Beginn der europäischen Integration sehr verbreitet war – verletzte offensichtlich Art. 189 und 177 des EWG-Vertrags (heutige Art. 249 und 234 EG) und deshalb mittelbar auch Art. 11 Cost. Die unmittelbare Anwendbarkeit von Verordnungen (vgl. Art. 249 Abs. 2 EG) würde durch diese Praxis verhindert und ihre konkrete Anwendbarkeit vom Erlass der nationalen Umsetzungsnormen abhängig gemacht; das Inkrafttreten der Verordnungen würde auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens der nationalen Norm verschoben, die Zuständigkeit zur Auslegung der Umsetzungsnormen – die nationale Normen sind (obwohl mit demselben Inhalt wie die europäischen Verordnungen) – dem EuGH entzogen und den nationalen Gerichten (und in letzter Instanz den nationalen Obergerichten) zugewiesen.[28]

 

26

Im Urteil Granital Nr. 170 vom 8.6.1984 hat die Corte costituzionale ihre Auffassung schließlich im Ergebnis – nicht aber in den theoretischen Grundlagen – an die des EuGH angepasst und damit die noch andauernde dritte Phase ihrer Judikatur zum Verhältnis zwischen Europarecht und nationalem Recht eingeleitet. Sie hat darin zwar noch an einer dualistischen Anschauung festgehalten, aber gleichzeitig, von einigen Ausnahmefällen abgesehen (siehe unten, Rn. 31ff.), darauf verzichtet, die Verfassungswidrigkeit einfacher, dem Europarecht widersprechender Gesetze zu erklären. Im Urteil Granital, in dem es um einen Konflikt zwischen einem nationalen Gesetz und einer Gemeinschaftsverordnung ging, stellte sie fest, dass in dem Fall, in dem eine rechtmäßige Verordnung (d.h. eine unmittelbar anwendbare, der im Vertrag geregelten Kompetenzverteilung zwischen nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht entsprechende Gemeinschaftsnorm) eine bestimmte Materie regelt, das nationale Recht zurücktritt, und der Widerspruch zu einer vorhergehenden oder nachfolgenden nationalen Norm durch Nichtanwendung der nationalen und Anwendung der Gemeinschaftsnorm direkt durch das streitentscheidende Gericht gelöst werden muss, ohne dass es erforderlich wäre, die Corte costituzionale zur Feststellung der Nichtigkeit des nationalen Gesetzes einzuschalten. Die Überprüfung eines Umsetzungsaktes durch das Verfassungsgericht am Maßstab der unionsrechtlichen Vorgaben ist damit in aller Regel unzulässig.

27

Auch andere wichtige Äußerungen liegen auf der Linie der Leitentscheidung Granital und belegen, wie das Verfassungsgericht seine Judikatur immer mehr der Judikatur des EuGH angepasst hat. So hat es z.B. die Nichtanwendungspflicht der nationalen Normen nicht auf Gerichte beschränkt, sondern mit Urteil Nr. 389 vom 11.7.1989 auch auf die öffentliche Verwaltung erstreckt und seine Judikatur damit an das Urteil des EuGH vom 22.6.1989 im Fall Fratelli Costanzo SpA gegen Stadt Mailand angepasst.[29]

aa) Die Frage der unmittelbaren Geltung der europarechtlichen Normen in der nationalen Rechtsordnung

28

Die Corte costituzionale hat darüber hinaus ihre Judikatur an das für die europäische Integration grundlegende Prinzip der unmittelbaren Geltung der europarechtlichen Normen angepasst. Die unmittelbare Geltung der Normen des EWG-Vertrags war vom EuGH seit dem Urteil Van Gend & Loos vom 5.2.1963 unter bestimmten Voraussetzungen anerkannt worden.[30] Das Verfassungsgericht hat dann in dem schon erwähnten Urteil Nr. 389 von 1989 die unmittelbare Geltung der Art. 52 und 59 des EWG-Vertrags – gemäß der Auslegung des EuGH in der Entscheidung Kommission gegen Italien vom 14.1.1988[31] – bestätigt.

29

Die vertikale, d.h. im Verhältnis zwischen Staat und Bürger bestehende unmittelbare Geltung von nicht fristgerecht umgesetzten Richtlinien wurde vom Verfassungsgericht mit den Urteilen Nr. 64 vom 2.2.1990 (Entscheidung über die Zulassung des Volksentscheids über Schädlingsbekämpfungsmittel) und Giampaoli Nr. 168 vom 18.4.1991 anerkannt. Damit hat die Corte costituzionale auch insofern die seit dem Urteil van Duyn vom 4.12.1974[32] ständige Rechtsprechung des EuGH übernommen. Den im vertikalen Verhältnis unmittelbar geltenden Richtlinien wird demnach die gleiche aktive bzw. passive Wirkungskraft wie Verordnungen zuerkannt, mit der Konsequenz der Nichtanwendung entgegenstehender nationaler Normen durch alle nationalen Behörden.

30

Die Corte costituzionale hat darüber hinaus die unmittelbare Geltung der Urteile des EuGH anerkannt. Mit Entscheidung SpA BECA Nr. 113 vom 23.4.1985 hat sie festgestellt, dass die Urteile, die vom EuGH nach Art. 177 des EWG-Vertrags (heutiger Art. 234 EG) im Wege der Vorabentscheidung zur Auslegung der normativen Akte der Gemeinschaft erlassen werden, unmittelbar gelten.[33] Mit dem schon zitierten Urteil Nr. 389 aus dem Jahr 1989 hat sie dann die Tragweite dieser ratio decidendi ausgedehnt und allen Urteilen des EuGH unmittelbare Geltung zuerkannt, einschließlich derer, die – wie der Ausgangsfall dieser Entscheidung – Klagen wegen Verletzung von Art. 169 EWG-Vertrag (jetzt Art. 226 EG) betreffen.

bb) Ausnahmefälle, in denen die Feststellung der Verfassungsmäßigkeit durch das Verfassungsgericht weiterhin zulässig ist

31

Auf der Grundlage dieser Entwicklung ist die Feststellung der Verfassungsmäßigkeit durch die Corte costituzionale nur in folgenden Ausnahmefällen weiterhin zulässig:

(1) Wenn die europarechtliche Norm nicht direkt anwendbar ist bzw. keine unmittelbare Geltung hat, unterliegt die nationale Norm – da sie nicht Gegenstand der Nichtanwendung durch den ordentlichen Richter oder die Verwaltung sein kann – der Verfassungswidrigkeitserklärung durch das Verfassungsgericht wegen mittelbarer Verletzung von Art. 11 Cost.[34]

(2) Wenn die nationale Norm darauf abzielt, die „dauerhafte Beachtung des Vertrages mit Blick auf das Vertragssystem oder den wesentlichen Kern seiner Grundprinzipien“ zu verhindern bzw. zu beeinträchtigen.[35] Ein solcher Ausnahmefall steht – trotz seiner Anwendbarkeit in vermutlich nur seltenen Grenzfällen – deutlich in Widerspruch zur Entscheidung des EuGH im Fall Simmenthal. Die mögliche Erklärung hierfür ist, dass diese Ausnahme vom Verfassungsgericht im Urteil Nr. 170 wahrscheinlich vor allem eingefügt wurde, um den radikalen Wechsel seiner Judikatur abzumildern.[36]

(3) Die Corte costituzionale hat außerdem ausdrücklich festgehalten, dass im Anwendungsbereich von Art. 127 Cost.[37] ein Konflikt zwischen einem nationalen Gesetz und einer auch unmittelbar anwendbaren europarechtlichen Norm von der nationalen Regierung oder einer Region dem Verfassungsgericht vorgelegt werden kann.[38]

cc) Der nur indirekte Dialog zwischen dem Verfassungsgericht und dem EuGH

32

Der EuGH ist zuständig, im Wege der Vorabentscheidung die europarechtlichen Normen zu interpretieren (vgl. Art. 234 lit. a und b EG) und gegebenenfalls die unmittelbare Geltung einer europarechtlichen Norm festzustellen, sofern eine derartige Frage vor einem Gericht eines Mitgliedstaates entscheidungserheblich wird. Damit hängen der Sache nach sowohl die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit eines einer Gemeinschaftsnorm widersprechenden nationalen Gesetzes[39] als auch die Kompetenz der Corte costituzionale von der Vorabentscheidung des EuGH ab. Die Corte costituzionale wollte jedoch nicht akzeptieren, in „Gemeinschaftsangelegenheiten“ eine dem EuGH so deutlich untergeordnete Rolle zu spielen und lehnt es daher ab, als ein „Gericht eines Mitgliedstaats“ im Sinne von Art. 234 EG verstanden zu werden.[40] Sie begründet dies damit, dass sie wegen der erheblichen Unterschiede zwischen ihrer Funktion und derjenigen anderer Gerichte nicht zu den ordentlichen oder besonderen Gerichten gerechnet werden könne (siehe Beschluss Nr. 536 vom 29.12.1995). Das Verfassungsgericht fordert daher, dass jede „Gemeinschaftsfrage“, die die strittige Norm betrifft, zunächst vom direkt befassten Gericht entschieden wird; andernfalls droht die Unzulässigkeit der Vorlage zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit und die Rückverweisung der Sache an das zunächst befasste Gericht, damit dieses sich im Wege der Vorabentscheidung an den EuGH wendet. Nur in dem Fall, in dem die Gemeinschaftsnorm unmissverständlich scheint und die unmittelbare Geltung ebenfalls eindeutig auszuschließen ist, nimmt das Verfassungsgericht die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit vor.

33

Diese Auffassung ist kritisiert worden, nicht nur, weil das Verfassungsgericht in jeder Beziehung als ein „Gericht eines Mitgliedstaats“ anzusehen ist, sondern auch weil es ein Gericht letzter Instanz ist, das als solches nicht nur befugt, sondern verpflichtet ist, sich im Wege der Vorabentscheidung an den EuGH zu wenden (vgl. Art. 234 Abs. 3 EG). Die Auffassung der Corte costituzionale wird zudem heftig kritisiert, weil bei Kompetenzkonflikten zwischen Staatsorganen oder zwischen Staat und Regionen oder bei der abstrakten Normenkontrolle eine Rückverweisung an das zunächst befasste Gericht nicht in Betracht kommt, weil es in diesen Fällen kein vorher befasstes Gericht gibt. Zumindest in diesen letztgenannten Fällen habe das Verfassungsgericht bei Fragen über die Auslegung von Gemeinschaftsnormen keine andere Möglichkeit, als dem EuGH die Frage über die Auslegung des Gemeinschaftsrechts zur Vorabentscheidung vorzulegen.[41]

c) Die so genannte „controlimiti“-Lehre

34

Die Anerkennung des Vorrangs des Europarechts vor dem nationalen Recht durch das Verfassungsgericht im Urteil Frontini und noch deutlicher im Urteil Granital warf das Problem der Identifizierung von möglichen Grenzen – den so genannten „controlimiti“ – dieses Vorrangs auf. Das Fehlen eines Katalogs von Grundrechten in den europäischen Verträgen beinhaltete die Gefahr einer Verletzung der in der italienischen Verfassung garantierten Grundrechte durch das Gemeinschaftsrecht. Die Corte costituzionale hatte schon mit dem Urteil Acciaierie San Michele Nr. 98 vom 27.12.1965 festgestellt, dass Art. 11 Cost. nur Beschränkungen der Souveranität zulässt, die die unverletzlichen Menschenrechte des Art. 2 Cost. nicht verletzen. Die „controlimiti“-Lehre ist dann durch die Urteile Frontini, Granital und Fragd gegen Amministrazione delle Finanze Nr. 232 vom 21.4.1989 weiter entwickelt und präzisiert worden. Wenn eine europarechtliche Norm verfassungsrechtliche Grundprinzipien („principi fondamentali dell’ordinamento costituzionale“) oder unveräußerliche Menschenrechte („diritti inalienabili della persona umana“) verletzt, ist das Verfassungsgericht nach der „controlimiti-Lehre“ nicht nur befugt, sondern verpflichtet, den in dem einfachen Ausführungsgesetz zu dem entsprechenden europäischen Vertrag enthaltenen Rechtsanwendungsbefehl aufzuheben.[42] Um jedoch zu verhindern, dass die Aufhebung des Anwendungsbefehls die einschneidende Folge hat, die Mitgliedschaft Italiens in der Gemeinschaft in Frage zu stellen, betrifft die Aufhebung nicht den gesamten Anwendungsbefehl, sondern wird nur mit Bezug auf den Teil wirksam, der den Eingang der spezifischen, mit einem Verfassungsprinzip oder einem unverletzlichen Recht in Widerspruch stehenden Gemeinschaftsnorm in die nationale Rechtsordnung ermöglicht. Dieses Vorgehen erlaubt es, die Feststellung der teilweisen Verfassungswidrigkeit des Anwendungsbefehls praktisch unbegrenzt zu wiederholen, nämlich jedes Mal für den Teil, der den Eingang einer bestimmten Norm in die italienische Rechtsordnung ermöglicht. Durch die Erfindung dieses Mechanismus hat sich die Corte costituzionale die Zuständigkeit verliehen, normative Akte der Gemeinschaft aufzuheben, allerdings nur mit auf das italienische Staatsgebiet begrenzter Wirkung und in praktisch nur seltenen Grenzfällen. Die Begründung für diese Zuständigkeit entnimmt das Verfassungsgericht Art. 11 Cost., der es zwar zulässt, die nationale Souveränität zu „beschränken“, nicht aber den Gemeinschaftsorganen die Zuständigkeit zu übertragen, den unantastbaren Kern der Verfassung zu verletzen, den die „grundlegenden Prinzipien der Verfassungsordnung“ und „die unverletztlichen Rechte des Menschen“ darstellen.[43]

 

35

Nach der Durchsetzung des Schutzes der Grundrechte in der Judikatur des EuGH durch die allgemeinen Grundsätze und vor allem nach der Einfügung von Art. F Abs. 2 (jetzt Art. 6 Abs. 2) des EU-V scheint eine Verletzung dieser Grundprinzipien bzw. Menschenrechte sehr unwahrscheinlich, und in der Tat ist die Nichtigerklärung (eines Teiles) des Rechtsanwendungsbefehls durch das Verfassungsgericht bislang noch nie vorgekommen.

36

Letztlich haben also die europarechtlichen Normen Vorrang vor allen nationalen, auch verfassungsrechtlichen Normen, mit der einzigen Ausnahme der Grundprinzipien der Verfassung und der unveräußerlichen Menschenrechte.