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Die Mühle zu Husterloh

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»So rein wie dies Blatt hier, ist die Seele, die du nun in die Fremde trägst, und rein und sauber sollst du nach Jahr und Tag mir beides wiederbringen, deine Seele und das Buch. Vor allen Dingen aber, kleiner Künstler, male mir keine Dackel da hinein, das ist die Bedingung, unter der du das Lexikon mitnehmen kannst.«

Hans nickte zustimmend. »Büblein,« fuhr der Priester fort, und eine Wolke von Trauer legte sich über seine buschigen Augenbrauen, »es kommen nun harte Jahre für dich. Dich packt der Ernst des Lebens, und alle Kindereien müssen jetzt hinter dir liegen.«

Vielleicht reute es ihn, so drohend harte Worte gesprochen zu haben, denn er lenkte ein: »Wenn du dir aber das Dackelmalen durchaus nicht abgewöhnen kannst, nun denn meinetwegen, beschmiere das Schlussblatt. Irgendeine Dummheit macht schließlich jeder, aber deine Seele bewahre mir weiß und rein.«

Damit legte er dem Knaben segnend die Hand aufs Haupt, und schob ihn mit freundlichem Lächeln vor die Tür. Auf der Dorfgasse erhoben die Gänse ein begehrliches Geschrei, als sie den angehenden Studenten wie mit Futterkörben beladen über das Pflaster schreiten sahen.

8. Kapitel

Während Hans seine Abschiedsbesuche machte, hatte sich in der Mühle ein bisher ganz unerhörtes Ereignis vollzogen. Mutter Höhrle, die den Abgang ihres Einzigen zu einem Tage gestalten wollte, der in der Erinnerung aller Dorfbewohner haften sollte, hatte den Auftrag gegeben, die Pferde vor den Viktoriawagen zu spannen. Diesem Ansinnen widersetzte sich Suse mit der Bemerkung: ›Die Pferde seien beim Umbau der Mühle unentbehrlich, und Hans und seine Sachen könnten recht gut mit einer Gelegenheitsfuhre nach der Bahnstation gebracht werden.‹

Mutter Höhrle war zunächst starr vor Staunen über die Kühnheit ihrer Tochter und fiel dann in eine ihrer komfortablen Ohnmachten, die sie allmählich recht täuschend herzustellen gelernt hatte. Aber als sie erwachte und sah, dass dieses letzte Mittel, ihren Willen durchzusetzen, niemand erschüttert hatte, geriet sie in Wut, und eine Lawine von Schmähungen ergoss sich über das tapfere Mädchen. Suse aber stand kaum bewegt wie eine Tanne im Föhn, schüttelte sich nur ein wenig und erklärte ihrer Mutter, dass von jetzt ab sich vieles ändern müsse. Sie kenne die Lage des Vaters und werde an seiner Seite stehen, und was die Pferde angehe, so sollten sich diese ihr Futter verdienen; lange vor Tag habe sie dieselben in den Wald geschickt, um Steine für den Wasserbau zu holen. Hansens Koffer sei dem Frachtfuhrmann übergeben, und wenn er selber zeitig zurückkäme, so könne er mit der gleichen Gelegenheit auf seinen Sachen sitzend bequem genug die Bahnstation erreichen.

Hans aber verspätete sich, und als er endlich das Elternhaus erreichte, war der Frachtwagen mit seinem auf Reifen gespannten Zelttuch schwankenden Ganges längst über alle Berge. Also musste der Junge laufen. Suse befestigte die Strickleiter, die er ja nun nicht mehr entbehren konnte, an einem Riemen und hing diesen mit manchem Worte ernster Ermahnung über seine Schulter. Derweilen stopfte Liese die Taschen des Bruders mit hart gesottenen Eiern und Butterbrot. Reisefertig bot er Vater und Mutter die Hand, den Schwestern die Lippen zum Kuss, und rüstig wanderte er einsam am Bache hin, der ihm wichtige Dinge erzählte aus den Kindertagen: Vom Dompfaffen, der im Strauch der wilden Rose sein Nest hatte, und vom Eichhorn, das vom Baume hinter der Scheune die Nüsse stahl.

Bald bog der Pfad vom Bache nach aufwärts ab und erreichte einen mit Erlen bestandenen Klingen. Die Sonne brannte heiß vom Himmel nieder, und der Riemen, der die Strickleiter zusammenhielt, hatte auf den Schultern des Knaben brennendrote Furchen eingegraben. Hans warf die Last ab, setzte sich darauf und sah sich um. Unten lag, von dem langen Morgenschatten des Berges noch teilweise überdeckt, sein Heimatdorf schöner, als er es je gesehen hatte, und vor der reizvollen Wirklichkeit im Tale verblassten hier zum ersten Male die Illusionen, die er sich von der großen Welt gemacht und die seine Kinderseele mit jubelndem Entzücken erfüllt hatten. Tiefe Trauer um die Gewissheiten, die er verließ, und Furcht vor dem Unbekannten, dem er entgegen ging, quälten ihn und drückten die frohe Zuversicht auf eine glänzende Zukunft merklich herab. Hans wurde unsicher.

Der Winkel eines Kranichzuges, der gleich ihm in die Fremde steuerte, gab ihm neue Zuversicht, und bald wieder machte er einen Schritt nach dem anderen, der Stadt entgegen, die ihm Geist und Körper umgestalten sollte.

Um ihn war eine unendliche Stille ausgebreitet, die in seinem Inneren ein Gefühl der Verlassenheit erzeugte. Er sehnte sich nach einem Begleiter, und seine Blicke kehrten oftmals den Weg zurück, den seine Füße soeben gegangen waren, um auszuschauen, ob nicht irgendeiner des Weges käme. Er sah nichts, aber er hörte mit einem Male den stolpernden Hufschlag eines Pferdes aus dem Tannendickicht. Hans, der seine Strickleiter, die ihn in die Höhe führen sollte, aber zunächst nur niederdrückte, gern losgeworden wäre, sah mit Freude vor der grünen Wand des Waldes ein ungeschlachtes, fast viereckiges Pferd, das bei jedem Schritt mit dem Kopfe nickte und hinter sich einen Wagen nachzog, auf dem man einen blauen Fuhrmannskittel unterscheiden konnte. Auch der Fuhrmann nickte, als ob ein verbindender Draht seinen und des Pferdes Kopf zu der gleichen Bewegung nötigte. Er schlief den Schlaf des Gerechten. Der Knabe fasste sich ein Herz und rief dem Schlummernden an. Schlaftrunken, war der Geweckte über die Störung seiner Ruhe aufgebracht, fluchte und schien viel eher Lust zu haben, den kleinen Wanderer durchzuhauen, als mitzunehmen. Hans lief neben dem Wagen her, weil er hoffte, dass nach dem Zorne vielleicht doch ein menschlich Rühren in die harte Fuhrmannsseele sich einnisten könne, und er hatte sich nicht verrechnet. Der Mann rief mit einem Male: »Oha!« und das Pferd machte so bereitwillig halt, dass ihm das Kummet über den Ohren saß.

»Was zahlst du, wenn ich dich mitnehme, mein Goliath, du Riesenkerl, du?«

»Einen Groschen und vielleicht noch etwas darüber.«

»Sitz auf,« ermunterte der Fuhrmann und musterte Hansens Pakete mit neugierigen Blicken. Der Knabe kroch gewandt wie eine Katze von hinten auf den Wagen und machte es sich auf dem Futtersack bequem.

»Kaust du auch, Dreikäsehoch?« fragte nach einiger Zeit bedächtigen Nachdenkens der Fuhrmann, der kein Auge von den beiden Paketen verwendet hatte.

»Ja,« sagte Hans, »alles, was ich ungekaut nicht schlucken kann.«

»So war’s nicht gemeint, mein Tausendsassa, aber du rauchst doch?«

»Nein!«

»So hast du es doch wohl gern, wenn andere rauchen und dir ein wenig den Duft unter die Nase blasen?«

Hans bemerkte, dass er dagegen nichts einzuwenden habe. Nun griff der Fuhrmann zutraulich nach dem einen der Pakete und riss das graue Katzenpapier herunter. Als er aber nicht fand, was er erwartet hatte, schob er enttäuscht seine Schirmkappe ins Genick, fasste den armen Jungen erbarmungslos am Kragen, hob ihn über den Leiterbaum und ließ ihn fallen. Im nächsten Augenblick bereits lag der fahrende Scholar in der sehr schätzenswerten Gesellschaft des großen Georges auf der Straße. Der Fuhrmann fuhr weiter, verärgert und gekränkt darüber, dass hinter einem so kleinen Knirpse und seinem Bündel so viel Lug und Trug verborgen sein könne.

Hans erhob sich und suchte seine Kleider und den großen Georges, der beschmutzt und übel zugerichtet war, wieder zu restaurieren. Er dachte an den Pfarrherrn, der ihm dies Liebespfand anvertraut hatte, und mitleidig an die noch ungeborenen Generationen, denen es auf der sozialen Leiter in die Höhe helfen sollte. Ihm hatte es seither wenig gedient. Eine Zigarrenkiste mit dem minderwertigsten Inhalt hätte ihn sicher weiter gebracht, wie all die papierne Weisheit. Noch war der Wanderer kaum eine Stunde aus dem Elternhaus, und bereits war er mit den Realitäten des Lebens arg aneinander geraten. Er war traurig, aber ein wilder Trotz erwachte in seiner Kinderseele. Er wollte den Kampf aufnehmen, und wenn er zermalmt werden sollte.

Resolut warf er den Riemen, an dem der große Georges baumelte, über seine Schulter und folgte, der Chaussee mit ihren unfreundlichen Gesellen ausweichend, einem kleinen Seitenpfade, der ihn durch Waldesschatten in ein quellendurchrauschtes Wiesental führte. Buchen wechselten mit Wallnüssen und der Pfad mit einem tiefgeleisigen Feldweg, der die weit im Tale verstreuten Bauernhöfe aufsuchte und bald auf-, bald abstieg. Die Leute sah man in den Feldern hinterm Pflug oder in den Wiesen hinter dem Wetterleuchten der geschwungenen Sensen. Die Höfe schienen leer, den Hühnern überlassen, die fleißig im Miste scharrten, und der Wachsamkeit der Hofhunde. Einer nach dem anderen dieser zottigen Wächter kam dem Knaben vorsichtig näher, beschnupperte misstrauisch den großen Georges und warf im Fortgehen mit den Hinterpfoten etwas Schmutz nach dem Lexikon und seinem Träger. So feierlich dieser Vorgang an sich war, so wurde er durch die öftere Wiederholung dem Reisenden doch schließlich langweilig, und als eben gerade ein struppiger Bullenbeißer die Zeremonie vollzog, hob er seinerseits das Bein auf, um ihm einen Tritt zu geben. Doch da kam er übel an. Im Nu hatte das Tier mit den Zähnen seine Hose erfasst, und es lag Hans und der große Georges zum zweiten Male an diesem ereignisreichen Tage an der Erde. Hart waren sie nicht gebettet, aber etwas feucht, denn sie lagen in einer breiten Rinne, die den Extrakt des Dunghaufens der Wiese zuführte.

Als sie sich aus der Niedrigkeit erhoben, waren sie in einer Verfassung, dass sie ohne gründliche Reinigung nicht gut in die menschliche Gesellschaft zurückkehren konnten. Die Sonne nahm sich jedoch ihrer an und trocknete sie, allein sie vermochte nicht die beiden von einem Dufte zu befreien, der ihnen nachging wie ihr Schatten und ihren Kredit herunterdrückte. So kamen sie in übler Verfassung an die Bahn.

 

Der Umstand, dass bei der Fahrt Bäume und Kirchtürme lustig tanzten, unterhielt den Knaben und verscheuchte die Trauer über die schlimmen Erlebnisse. Bald stahl sich der Zug leise wie auf Gummischuhen mit einer gewissen Ängstlichkeit, die sich auch den Reisenden mitteilte, über das Gitterwerk der Rheinbrücke, schoss wie vom Teufel gehetzt durch das Dunkel der Festungswälle und hielt vor einem schmutzigen Bahnhof. »Station Mainz,« riefen die Schaffner, die Trittbretter krachten, und ein mit allerlei Gepäck beladener Menschenknäuel wälzte sich durch ein eisernes Gittertor einem kleinen Zollhäuschen zu. Hans hatte den großen Georges wieder über die Schulter geworfen und schaute entzückt ins Abendrot, das Kirchtürme, Häusergiebel und auch das Zollhäuschen in einen zarten Rosaschleier kleidete. Ganz ins Schauen verloren lief er wie ein Träumender nur immer geradeaus und kam an der Oktroibude vorüber, als er hinter sich die unfreundlichen Worte hörte:

»Wirst du dich wohl hierherbemühen, du da mit deiner Heringskiste auf dem Rücken,« und eine polternde Faust schlug ungestüm gegen ein gelbes Messingblech, das einen kleinen Holzrahmen füllte. Hans sah sich um, und als sich aus der Faust ein Finger loslöste, der ihm zu winken schien, näherte er sich dem Zollhäuschen, aus dessen Fenster ihn das bärbeißige Gesicht eines Affenpinschers mit folgender Liebenswürdigkeit traktierte:

»Denkst du Galgenvogel, dass du hier schmuggeln kannst?«

»Ha, da läuft man so für sich hin, als ob es keine Aufsichtsbehörde gäbe; übersieht großherzogliche Beamten und betrügt die Stadt um die Konsumsteuer.«

»Ja, so sind sie alle, diese Harmlosen vom Lande! Sie wissen von nichts, aber Gendarmen müsste es wochenlang regnen, wenn man all’ die Spitzbuben einsperren wollte, die hier vor der Zollbude ihr Gewissen mit Todsünden belasten.«

»Her mit deinem Bündel,« rief der Zöllner, und seine Faust, grob wie ein Steinschlegel, griff nach dem Riemen und zerrte den großen Georges pietätlos in das Innere der Zollbude.

Hans erbebte, als ob er vor dem Rachen eines Krokodils stände. Er war starr, aber nicht lange, denn als die unselige Strickleiter ihm gleich darauf vor die Füße flog, raffte er sie schleunigst auf und machte, dass er aus der gefährlichen Gegend fortkam. Er eilte der Stadt zu, die eine enge Gasse mit schmalen Häusergiebeln vor ihm auftat. Er war müde und gedrückt, und nur wenn er jemand kommen sah, der mühselig und beladen war wie er selber, so wagte er, ihn anzusprechen und fragte sich zurecht nach dem bischöflichen Konvikte. So borgt die Niedrigkeit von der Niedrigkeit und Armut beschenkt die Armut.

Endlich fand er das gesuchte Asyl auf dem Marienplatze. Es war ein stattliches, aber nüchtern und pedantisch aussehendes Haus, an dessen Fensterscheiben weiße Kattunvorhänge niederhingen und die spießbürgerliche Wahrheit verkündeten: »Fein braucht man nicht zu sein, wenn man nur sauber ist.«

An dem Äußeren hatte der Junge sich bald satt sehen, nun wollte er ins Innere. Das war schwieriger zu bewerkstelligen, als man denken sollte, denn die Türe hatte nach außen keine Klinke. Hans verstand. Das wollte ungefähr heißen: ›Hier geht niemand ein, er ruft mich denn zuvor‹. Also streckte er sich, um den Schellenzug zu erreichen. Dies gelang nicht, er war zu klein. Da der große Georges im Lauf des Tages viel von seiner Ehrwürdigkeit eingebüßt hatte, stellte er sich mit den Füßen darauf und zog an der Schelle. Das Geräusch schlürfender Tritte von Innen verkündete, dass er gehört worden sei. In den Angeln knarrte die Tür, und Hans stand vor einem geistlichen Herrn mit gewaltigem Kahlkopf.

»Du bist Hans Höhrle?« war die kurze Anrede.

»Ja,« sagte der Knabe.

»Du hast die Nummer 28. Im Studiersaal findest du dein Pult, im Schlafsaal dein Bett und deinen Stuhl, am Tisch deinen Teller, alles mit der Nummer 28.« Damit ging der geistliche Herr durch eine Seitentür und bedeutete der Nummer 28, sie möge die Treppe emporsteigen.

Hans tat es. An den Wänden hinauf hingen Haussegen, Herzjesubilder und Kruzifixe, verdorrte Kränze und Weihwasserkessel, ach so viel aufdringliche Frömmigkeit, dass es dem Knaben angst und bange wurde. Auch quälte ihn der Gedanke, dass er von einer Persönlichkeit zu einer Zahl heruntergesunken war, er fühlte den Abstand von gestern auf heute, war niedergeschlagen und wünschte nichts sehnlicher als sein Bett aufsuchen zu können. Das Essen berührte er kaum. Verschlafen machte er das Abendgebet mit. Die Responsorien schlugen aus endlosen Fernen an sein Ohr. Schweigend trabte die Herde der Schüler dem Schlafsaal zu. Hans riss das Fenster seiner Zelle auf. Sein Auge suchte die Weiten der Welt, gierig folgte er dem Zug der Wolken, dem Monde, der in der blauen Nacht wie ein goldenes Schiff nach fernen Gestaden schwamm.

Ach die enge Zelle mit der Nummer 28, dem Bette, dem Nachttisch und einem Stuhl ohne Lehne. O, wie wenig Raum für einen, der gewohnt war, dem Hirsche gleich ziellos durch Wald und Flur zu streichen. Der Knabe setzte sich und stützte das müde gedankenschwere Haupt mit den Händen. Ach, wäre er doch noch einmal zu Hause! Mit wieviel Bereitwilligkeit hätte er auf all die hohen Ehren verzichtet, zu denen die Strickleiter ihn führen sollte.

Mitten hinein in das grübelnde Suchen seiner Gedanken schlug der Ton einer kleinen Glocke. Hans wusste, dass es das Zeichen war, das Licht auszulöschen. Er tat es, aber er ärgerte sich über diese anmaßende Schelle, die sich herausnahm, sein ganzes Leben zu regeln, sein Wachen, sein Schlafen, seine Arbeit, seine Erholung, ja sogar sein Gebet. Aber er folgte, legte sein Haupt aufs Kissen und schlief ein.

9. Kapitel

Der Winter war da. Wo immer sich ein kleiner Wasserlauf die Sache bequem machen und langsam gehen wollte, schlug ihn der Frost in Fesseln und hielt ihn fest. Am Wehre, an jeder überhängenden Wurzel erstarrte das Wasser und kam nicht fort. Schwach und dunstend erreichte der Bach die Mühle; wie wollte er da noch arbeiten? Ja, Groß und Moos, die hatten’s gut. Sie waren vom Wasser nicht abhängig. Ein paar Zentner Kohle und ihre Mühle lief, ob die Sonne den Wasserstand verringerte oder der Frost. Sie konnten vergnügt ihren Schlitten über den singenden Schnee sausen lassen, aber Frau Höhrle nicht, denn Suse brauchte die Pferde am Göpelwerk. Es hatte eine hässliche Szene zwischen Mutter und Tochter gegeben, aber Suse war fest geblieben. Sie war die einzige, die den schwachen Vater stützen, und den unheilvollen Einfluss der Mutter beschränken konnte. Sie tat es nicht gerne, aber sie fühlte, dass es ihre Pflicht sei, ihre Pflicht gegen die Eltern und die Geschwister. An sich selber dachte sie nicht. Sie wollte nur mit starker Hand das Steuer führen am Nachen, in dem die anderen saßen, und seinen Kiel durch den Sturm zu einer stillen Bucht zwingen, in der sie alle Ruhe fänden. Der Drang, helfend einzugreifen, verkürzte den kargen Schlummer ihrer Nächte und im Dämmerschein jedes jungen Tages stand sie munter zugreifend und anspornend unter den Arbeitern in der Mühle. Alle sahen sie mit Respekt an dem Mädchen in die Höhe, und ob einer bei dem Umbau des Werkes hobelte oder sägte, er schielte nach ihr, wenn sie den Bodenstein mit Pech ausgoss und über ihn den Läufer stellte, um den Hafer zu schälen. Das erforderte eine feinfühlende, sichere Hand. Der Stein musste drücken, ohne zu zermalmen, gerade so, wie die geistige Überlegenheit Susens auf den anderen wie ein Gewicht ruhen musste, ohne ihnen jedoch den Atem zu rauben.

Alles das, was Suse im Hause und in der Mühle wert war, zog wie Rosenduft durch Türen und Ritzen des alten Gemäuers, verbreitete sich durchs Tal und drang lockend wie ferner Glockenklang über Wald und Hecken in die entlegensten Dörfer. Bald sah man wieder die angejochten Ochsen mit den kleinen Leiterwagen hinter sich vor der Mühle stehen, und das lockere Volk der Tauben kam aus der Nachbarschaft und pickte wieder die süßen Hirsekörner durch die Maschen der Maltersäcke. Suse entwickelte die Spezialität des Hafer- und Hirseschälens zur Kunst und wurde in der Gegend eine Berühmtheit. Es war nicht viel, was sie produzierte, aber gut. So führte sie den Kampf gegen Groß und Moos mit einem Achtungserfolg, indes Vater Höhrle den Versuch wagte, durch Neueinrichtungen das Korn- und Weizenmahlen rentabel zu machen.

Das Sieb wurde hinausgeworfen, und was früher an Mahlgut durch grobe Maschen lief, musste jetzt in Beuteln durch die Poren seines Seidenstoffes sich durchschlagen. So erzielte man ein besseres Mehl, und die verödete Mahlstube füllte sich einigermaßen wieder mit Bauern. Wenn an den Winterabenden ihr lautes Sprechen oder ihr Gesang durch die Bodendielung heraus in das Familienzimmer drang, dann machte wohl die Müllerin ein verärgertes Gesicht, aber dem Vater Höhrle schmeckten seine Kartoffeln wieder besser, und er überhörte es gerne, wenn seine Frau die Sensible spielte und über das rohe Gebaren unkultivierter Menschen empfindsam klagte. Suse und Liese saßen dann am Ofen und strickten Strümpfe für »Hochwürden«, ihren Bruder.

Auffallend, dass Suse in letzter Zeit verträumt und nicht recht bei der Sache war, namentlich dann, wenn aus dem Stimmengewirr unter dem Fußboden der klagende Tenor einer klangvollen Männerstimme herausscholl. O ja, das Mädchen kannte den Inhaber dieser Stimme wohl. Er kam öfter mit seiner Hirse und hatte es mit dem Gehen nicht eilig. Er konnte warten und ließ manch einem, der nach ihm gekommen war, den Vortritt am Mühltrichter. Er übte sich scheinbar aus Langerweile im Schärfen der Steine und war stets zufrieden mit dem, was die Mühle aus seinem Mahlgut herausschlug. Auch half er der niedlichen Müllerin im Stellen des Läufers, und diese ließ sich nicht ungern helfen. Zuweilen drängte sich beim Heben und Stemmen Hüfte an Hüfte, und es schien, als ob aus dieser Vereinigung eine Stärke geboren würde, der nichts widerstehen könne. Aber auch ein mollig weiches Empfinden umhüllte wärmend den Körper des Mädchens, wie die Flamme den Stab. Suse fühlte sich auf seidenen Wolken hoch über die Erdensorgen getragen und wiegte sich in süße Zukunftsträume, wenn sie die klagende Weise seines Liedes hörte:

 
»Jetzt geh ich ans Brünnele, trink aber nit,
Da such ich meinen herztausigen Schatz,
Find ihn aber nit.«
 

Es ist wahr, dass sie in solch sentimentaler Stimmung durch das Grunzen der Ferkel oder das Glucksen der Henne noch über den Hof gelockt werden konnte. Manchmal lief sie nach dem Brunnen und holte Wasser, obwohl kein Mensch durstig und keiner da war, der sich zu waschen begehrte. Es war nicht zu verkennen, dass ihre sonst so elastischen Schritte auf der Treppe mehr Geräusch machten als vordem, und es war kein Kunststück, wenn der Sänger in der Mühlstube das Lockende dieser Schritte heraushörte und das Bedürfnis empfand, im Mondschein sein Geld zu zählen.

So kam es, dass die zwei Menschen zu ihrem beiderseitigen Erschrecken manchmal im Schatten der Häusergiebel wider einander trafen und sich langsamer trennten, als man aus dem erschreckten Aufschrei des Mädchens eigentlich hätte vermuten sollen. So kam es aber auch, dass die anderen Insassen der Mühlstube, wenn sie nicht gerade Karten spielten oder ihren Namen in die Tischplatte schnitten, von Neugier getrieben den Mehlstaub von den Scheiben wischten und das Paar ein wenig belauerten. Was Wunder, dass es nach kurzer Zeit im Dorfe ein Gemunkel gab, und dass Röse Ricke mit ihrem unter sieben Siegeln der Verschwiegenheit geborgenen Geheimnis wie ein Schwärmer durchs Dorf schwirrte und explodierte, so oft sie wider einen Menschen schoss, der ihr prinzipiell versprach, keiner Menschenseele irgend etwas von der interessanten Neuigkeit zu erzählen. So kam es, dass das süße Geheimnis der unvorsichtigen Suse bald wie ein Gemeingut auf der Straße lag und dass aller Welt zur unumstößlichen Gewissheit wurde, was den Hauptbeteiligten noch recht zweifelhaft war.

Mutter Höhrle geriet, als sie von dem, was sich vorbereitete, erfuhr, in einen wahren Paroxysmus der Wut. Sie konnte sich Suse nun einmal nicht anders denken, als an der Seite eines Gatten, der eine Vorstecknadel am Busen trug. Und nun kam einer, dessen Stiefel gerüstert waren und dessen Vater auf einem Pachthof der Kirchschaffnei saß, und wagte es, die Augen zu einem Spross aus dem erlauchten Hause der Schütteldich zu erheben. Suse hatte in den Augen der Mutter allen Wert verloren. Sie war wie ein Löffel, von dem das Silber abgescheuert ist, während ein blinder Messingglanz sich sehen lässt. Wer konnte auch ahnen, dass die Schwester eines zukünftigen Kirchenfürsten sich zu einem Menschen niederbeugen würde, der nichts sein Eigen nannte als kräftige Schenkel und plumpe Fäuste, Dinge, die doch höchstens einen Vater Höhrle entzücken konnten.

 

Und dann die Dreingabe einer hergelaufenen Sippschaft, die wie der Vogel auf dem Baume eines Pachtgutes saß und auffliegen musste, sobald ein Rechnungssupernumerarius am Stamm schüttelte.

»Den Leuten muss man zeigen, wer sie sind,« sagte sie, und als es sich traf, dass sie im Gang des Kirchenschiffes an der Mutter von Susens Erkorenem vorüberrauschte, warf sie verächtliche Blicke um sich und hustete großartig, um anzudeuten, dass sie nur nötig hätte auszuspeien, um kriechendes Gewürm von solcher Sorte wie im Auswurf eines Schlammvulkanes zu ersticken.

Mit diesem gebildeten Betragen erreichte sie, dass in Susens Verehrer der Stolz erwachte, dass er zwar dem Mädchen nicht entsagte, aber sein Liebeswerben auf bessere Tage zurückstellte und schließlich von der Mühle Unglück erhoffte, was ihr Glück ihm verweigerte.

Für Vater Höhrle war damit ein Licht erloschen, auf das er im Nebel seiner Ängste und Sorgen zusteuerte. Susens Wohl und die Zukunft des Hauses Höhrle schienen ihm auf den Schultern des jungen Mannes wie auf zwei starken Pfeilern zu ruhen.

Gequält und gefoppt von den Enttäuschungen, die das Leben mit sich bringt, wollte er sich, ein verwundeter Krieger, aus dem Kampfe zurückziehen, zufrieden mit der Auszugswohnung über den Schweineställen und mit der Aussicht, seinen Sohn zu einem tüchtigen Menschen heranreifen zu sehen. Das war nun alles, alles wieder zerstört, zum mindesten in weite Ferne gerückt und zwar durch den Unverstand seines eigenen Weibes, der keine Ahnung dämmerte von dem, was den Schlaf seiner Nächte kürzte und Falten in sein Gesicht grub, dass er borkig und zerrissen aussah wie der Stamm einer Eiche. Denn ach, es wollte kein Segen ins Haus ziehen, trotzdem der Bach sich schäumend in der Turbine wälzte und die neuen Stühle wie wütend zwischen ihren rotierenden Walzen das Mahlgut quetschten. Man hatte bei all den teueren Umbauten einen Umstand übersehen, der sich schwer rächte. Der Weizen, den der vaterländische Boden trug, war zu weich, das stellte sich nun heraus, er »floss« unter der Walze und ward dünn wie Papier, aber er gab sein Mehl nicht her.

Mordche Rimbach sagte: »Taganróck muss es sein oder Argentinier, der Heimische tut’s nicht,« und er schüttelte den Kopf, dass ihm schier die Ohren abgefahren wären. Aber wo sollte der Müller das Geld hernehmen, um Schiffsladungen fremden Weizens kommen zu lassen?

Mutlos und verzagt sah er, dass die Mühlstube wieder stiller, ja ganz einsam wurde. So war sie eine Brutstätte trübseliger Gedanken, in der Vater Höhrle verlassen sitzen und sein Soll und Haben täglich überdenken konnte. Vom Lärm des Getriebes umgeben, den er nicht mehr hörte, saß er mit seinen zugestaubten Gehörgängen unter dem Scheine der altväterischen Laterne, die vom rußgeschwärzten Durchzug niederhing, und rechnete an den Fingern sein schweres Soll heraus. Da war der Aufwand für die Mühlknechte und den Mühlarzt, da waren Steuern in allen Namen und unter jedem Vorwand, ein wahrer Straßenraub unter gesetzlichen Formen. Da war der Aufwand für Hans, der erst nach Jahrzehnten eine Rente versprach und dann nur seiner Person, schwerlich dem, der seine Ausbildung mit so saurer Arbeit ermöglichte. Da waren Luxusausgaben, die auf dem Konto seiner Frau standen, die er aber nicht schmälern durfte, ohne das magere Paradies seines Ehehimmels in eine Wüste voller Schrecken zu verwandeln. Da waren die Zinsen für das von Schütteldich verbürgte Darlehn bei der Sparkasse, die mit zur Tafel gingen und den Löffel in die Schüssel senkten, bevor noch irgendjemand vom Hause Höhrle sein Tischgebet gesprochen.

Sein Haben war nahe beisammen. Da lagen ums Haus herum die Äcker und die Wiesen, schön gepflegt, aber sie lohnten bei den erhöhten Forderungen der Taglöhner nur mit geringen Zinsen den Aufwand von Mühe und Geld. Da war der Wald hinter dem Hause, in dem die mächtigen Eichen ihre Arme zum Himmel reckten und unvorsichtige Wolken fingen, die sich der Mutter Erde zu sehr genähert hatten. Er war die Sparkasse in jedem wohlgeordneten Bauernhaushalt. Es war eine heilige, aus der Urväter Zeiten überkommene Tradition, dass er die Aussteuer und das Nadelgeld der Töchter zu liefern hatte. Hatte er das getan, so ließ man ihm wieder Ruhe, und die Wunden, die man ihm geschlagen, vernarbten, bis die Enkel das Lieben gelernt. Vater Höhrle hing mit frommer Scheu an dem althergebrachten Brauche, und leichter wohl hätte er eines der zehn Gebote übertreten, die am Sinai unter Blitz und Donner gegeben waren, als das ungeschriebene Gesetz, dessen strikte Handhabung die hundert Augen all der Nachbarbauern kontrollierten.

Da war die Mühle, vordem so einträglich, als noch der Landmann mit allen seinen Lebensbedingungen im eignen Grund und Boden wurzelte und aus ihm seine Nahrung sog wie Apfel- und Birnbaum. Aber seitdem Groß und Moos den verfeinerten Genuss boten, schienen sich die Bauernmäuler geändert zu haben. Es war nicht zu glauben, aber es gab Leute, die empfindsam geworden waren gegen den Reiz der Kleie auf dem Zahnfleisch. Den Anfang machten die Frauen mit ihrem Kirchweihkuchen, dann kamen die Fastnachtskrapfen daran, und schließlich wurden die sturzblechernen Bauernmägen, die vordem Schuhnägel verdauten, nervös. So wich das gediegene Schwarzbrot dem Produkte der Firma Groß und Moos und verschwand genau so wie der blauleinene Kittel, der vor der Schabwolle floh, die ihre Auferstehung aus Lumpen feierte. Die neue Zeit, den Papierkragen als Wimpel am Fockmast, steuerte ihr Schifflein in die entlegensten Gebirgstäler. Vater Höhrle wusste, dass sein Gebet von jenem Sonntag nicht erhört war. Traurig und in einer Allerseelenstimmung ging er an sein Hauptbuch, den Tisch mit den eingeschnittenen Namen.

Da war zu lesen: »Franz Hintenlang von Falkengesäß«. Vater Höhrle erinnerte sich seiner genau. Er hatte einige Auswüchse wie Schneeballen so groß aus seinem Kopfe und konnte deshalb nur gestrickte Kappen tragen. Das war der eigentliche Grund, weshalb er nie zum Abendmahle ging und in den Geruch kam, ein Aufgeklärter zu sein. Er war unter seinen Kartoffelwagen gekommen und hatte den Weg von hier in die Ewigkeit in wenig mehr als einigen Sekunden gemacht. Vater Höhrle verzieh ihm, dass er nicht mehr mit seinem Korn zur Mühle kam, und machte ein kleines Kreuz hinter seinen Namen.

Dann kam »Pankraz Wohlgemuth aus Hartenrod.« Der lag auf dem Rücken, als er starb. So kam’s, dass der Tod seinen Schnitzbuckel nicht sah; denn wer weiß, ob er ihn aufgeladen, wenn er gewusst hätte, wie schwer er zu verpacken war.

»Ignatius Weißkohl aus Hammelbach« war in einem guten Weinjahr den Weg alles Fleisches gegangen, obwohl man bei ihm von Fleisch eigentlich nicht reden konnte, denn er war so mager wie ein Spinnrad und doch durstig wie ein Trichter. Auch die beiden hatten einen anständigen Grund ihre Geschäftsverbindungen mit der Mühle zu lösen. Vater Höhrle zürnte ihnen nicht und setzte jedem ein kleines Kreuz hinter seinen Namen und ein Requiescat in pace.

Jetzt aber entdeckte er den Namen »Klaus Krummholz aus Brombach«. Der Mann war ein leidlich begüterter Bauer. Im Winter aber und an den Regentagen besserte er alte Wagenräder aus und machte auch wohl neue. Er war ein unzuverlässiger Kopf und musste immer beim Neuesten sein. Er wechselte seinen Arzt, seinen Barbier, seinen Schuster und hatte sogar seine Religion gewechselt, nur seine Strümpfe wechselte er nicht. Er war einer der ersten, der sein windschiefes Rückgrat vor der Firma Groß und Moos beugte und sein Korn nach deren Mühle trug. Der Chef des Hauses hatte sich herabgelassen, mit ihm ein paar freundliche Worte zu reden, und Krummholz war vor Ergebenheit schier noch buckliger geworden, als er schon war. Späterhin lief er dann im Dorfe herum und erzählte Wunderdinge von dem Produkte der neuen Kunstmühle. Seine Frau hatte mit einer Hand voll Mehl einen Kuchen gebacken, so groß, dass das Wunder Jesu – die Speisung der fünftausend Menschen – wenn nur Groß und Moos das Mehl lieferten, eine selbstverständliche Sache war.

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