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Die Mühle zu Husterloh

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23. Kapitel

Gegen die Mittagsstunde des folgenden Tages saß Klaus Priester auf seiner Pritsche und nähte ohne sonderliche Begeisterung an einem Paar blauer Leinenhosen. Ach Gott, die Kunst allein ernährte ihn eben nicht, und von dem Geld, das die Klarinette verdiente, konnte ein Mann mit so gediegenem Durst, wie der des Klaus Priester war, keine Katze ernähren.

Was das nur heute bei ihm war? Die Fersen wollten nicht unter den Schenkeln liegen bleiben, und die Nadel machte allerlei kleine Ausflüge rechts und links vom geraden Weg ab, willkürlich ins Zeug hinein. Da konnte nichts Gutes dabei herauskommen. Plötzlich warf der Schneider die Hosen in die Ecke, die Schere hinterdrein und sprang vom Tisch herunter. »Marianne,« rief er seiner Frau zu, die vorm Ofen stand und den Kaffee röstete, »wer von jetzt ab keine Hosen mit auf die Welt bringt, der kann mit nackten Beinen herumlaufen. Ich mache keine mehr.«

Die Frau sah seufzend von den sich bräunenden Bohnen auf, wagte aber nichts zu sagen, denn Klaus Priester führte in seinem Hause ein despotisches Regiment. Auf den Boulevards des Seine-Babels hatte er in seinen Wanderjahren den Monsieur Chevalier Tailleur gespielt, und etwas von dem gehobenen Herrschergefühl eines Pariser Nadelfürsten war in ihm stecken geblieben, als er wieder heimkehrte in sein enges Bauerndorf. Sein »Laissez-moi tranquille!« schmetterte Frau und Kinder in die dunkelsten Ecken des kleinen Häuschens und sein »Fermez la porte!« setzte fünf Paar Füße in zappelnde Bewegung.

»Cherchez mon chapeau!« kommandierte er, während er sich das Vorhemd um den Hals band, und Marianne eilte nach dem Kleiderkasten. Den Hut verwegen aufs rechte Ohr geworfen, den Überzieher tadellos gestrichen, den Stock zwischen den spielenden Fingern, so verließ Klaus Priester sein Haus in wiegender Gangart, als ob er sich zu den Königen im Exil begeben wollte, ins Café Maxim. Die letzte Nacht hatte den Glacéhandschuh seiner Existenz umgekrempelt. Die glatte Seite war wieder nach außen gekommen. Zum Lord hatte ihm nie mehr gefehlt als eben das lumpige Geld. Das hatte er nun, seitdem er den Schrot gefunden. Wer will es ihm verdenken, wenn sein Auge heute über jedem, der ihm begegnete, wie über einem verkommenen Banausen verächtlich blitzte? Da stand Herr Schütteldich unter seiner Ladentür. Sah der Mensch nicht aus, als ob er in einer Heringshaut steckte? So ölig, so gelblich schimmernd. Nein, er war für Klaus Priester kein Umgang mehr. Zwar schuldete der Gevatter Tailleur ihm etwas Geld für gelieferte Kolonialwaren, auch war es möglich, dass Mariannens Kleid noch nicht bezahlt war. Aber das sind doch keine Gründe, den Menschen zu grüßen. »Man wird ihm einen Wechsel schicken, zu diskontieren bei der Bank von Frankreich. Bei meiner Seele, das wird man, und der Mensch wird kaum wissen, wie man das Ding zu behandeln hat.«

Klaus Priester ging erhobenen Hauptes vorüber und grüßte nicht. »Pst, Pst,« zischte Schütteldich zwischen den Zähnen durch. Das überhörte man. Man konnte sich in seinen Ideenassoziationen nicht stören lassen, denn man entwarf soeben den Plan zu einer Villa in Boulogne sur Seine. Alles sehr nett, alles sehr vornehm, nur war die Marianne schlecht darin unterzubringen. In keiner Ecke wollte sie eine gute Figur machen. Sie nahm sich ungeschickt aus, wie ein Futtertrog in einem Salon. Verdammt, da hatte Klaus Priester einen Fehler gemacht. Er musste Husterloh das Verdienst lassen, ihn geboren zu haben. Das musste dem Neste genügen, ihn weiterhin festzuhalten, das war ein Verbrechen. Nun, er war ja schon einmal von hier fort und in Paris gewesen. Man wird Frau und Kinder reichlich alimentieren. Es pfiff im Bois de Boulogne mehr wie ein Vogel, der sein Nest in der Provinz hatte.

Unter derart hochsinnigen Gedanken kam unser Mann in den Hirschen und auf das Zimmer des Gänseschrot. Der lag in einem gestickten Nachthemd im Bett und rauchte an einer Zigarre, so lang fast, wie eine Siegellackstange.

»Servus!« grüßte Klaus Priester und hob mit Grandezza den Pariser Zylinder von seinem Schädel.

»Ah, mein zukünftiger Kassenrendant,« war die Antwort auf seinen Gruß, »nehmen Euer Gnaden Platz!« Und eine unvergleichliche Bewegung, ausgeführt von einer reichlich vergoldeten Hand, nötigte den Eintretenden in die Ecke eines verschossenen Plüschsofas.

»Bei guter Laune heute und geneigt, deinen Verdauungsapparat in den Dienst meines Geldbeutels zu stellen?« forschte Schrot.

»Deines und jedes anderen, so wahr mein Magen an einer Musikantenkehle hängt,« war die bescheidene Antwort.

Da erhob sich Schrot und schlüpfte in die Ärmel eines seidenen Schlafrockes, aus dessen Seitentasche er ein Portefeuille, gefüllt mit Banknoten hervorzog. Er warf es mit einer Miene, als ob einer eine Zigarre verschenkt, auf die Schenkel des Klaus Priester.

»Da nimm,« sagte er, »bestreite heute und in den folgenden Tagen unsere Ausgaben und lass mich nicht sehen, dass die Deinen hungern. Was lustige Wochen an meinem Vermögen herunterbeißen, lässt eine glückliche Nacht wieder daranwachsen.«

»Einverstanden,« lachte Klaus Priester, »wer wie du das Ölkrüglein der Witwe von Sarepta besitzt, kann seinen eigenen Salat und den der anderen gut anmachen und kann auch noch einen Wagen schmieren, den ich zu einer Promenadenfahrt bestellen werde.«

Nach diesem Zwiegespräch unter vier Augen begann in dem Kirchdorf Husterloh eine Reihe von Tagen, die, nach der Häufung der Lebensgenüsse gerechnet, ein Menschenleben vorstellen könnten, die aber am Kalender säuberlich heruntergezählt kaum mehr als anderthalb Jahre ausmachten. Im Weltschirm war ein ewiges Hochzeitstreiben. Gäste kamen und gingen, keiner griff mehr nach seinem Geldbeutel. Die Schiefertafel hinter der Einschenk nahm einige kabbalistische Zeichen auf, die wieder verschwanden, wenn Klaus Priester in Zahlerlaune war. Der Metzger ging nach Fettvieh über Land, der Jäger nach Wild in den Forst, und Dirnen und Spielleute hatten’s gut. Die Hand des musizierenden Schneidermeisters war die segnende Hand eines Priesters auch ohne das Sakrament der Priesterweihe. Der Arme, der sein Holz nicht zahlen konnte, wandte sich bittend an den Kirmesmusikanten. Jedes Rechnen schien überflüssig, es gab nur noch ein großes Nehmen, von dem alle Welt profitierte, ausgenommen Frau Priester. Der Mann, der das Schrotsche Geld zum Fenster hinauswarf, verwendete nichts zu seinem eigenen Vorteil, und hätte Marianne es nicht verstanden, nächtlicherweile die Hosentaschen ihres Eheherrn zu brandschatzen, sie wäre die einzige gewesen, die, mitten im goldenen Regen stehend, Durst litt.

Zuweilen verschwanden die beiden Freunde für einige Tage. »Sie sind auf Reisen,« sagte der Gasthalter zum Weltschirm. Sie waren an der Spielbank. Schrots melusinische Quellen flossen zuweilen spärlicher. Man musste nachgraben, um neues Wasser zu finden.

Kaum war es in der Gegend bekannt geworden, woher die Reichtümer des ehemaligen Gänsehirten stammten, so bemächtigte sich aller der unselige Taumel einer krankhaften Spielwut. »Hab’ ich nicht in der Schule zwei über ihm gesessen, warum sollte mir nicht gelingen, was ihm gelang?« sagten sich Hinz und Kunz. Wer ein vierblättrig Kleeblatt fand oder von Läusen träumte, war sicher, dass ihm das Glück eine Überraschung aufgespart habe.

Peter Krummholz bekannte sich in der Beichte zu einem halbausgewachsenen Meineid. Der Priester legte ihm als Buße auf: Sieben Vaterunser und neun Gegrüßet seist Du, Maria. Als die gebetet waren, zog Ruhe ein in sein Gemüt von wegen des Meineides, aber sehr große Zweifel erwachten, wie die Zahlen sieben und neun an der Spielbank nutzbringend zu verwenden seien. Je nachdem man sie stellte, machten sie ein anderes Gesicht, und nur Gott und die Kartenschlägerin konnten wissen, welches das richtige war. Die weissagende Sibylle am Ende des Dorfes war eine von den wenigen, die neben dem Roulette einen bleibenden Vorteil zogen.

In ihrem Hause verkehrten, sobald die Nacht ihren Schatten über die Wiesenpfade warf, die hervorragendsten Menschen von Husterloh. Jedem wusste sie einen Rat, der seine Hoffnung weckte und seinen Wagemut stärkte. »Stecke das Strumpfband von Käthchen Dingeldein in die Westentasche, die hat Drillinge geboren, ohne einen Mann zu haben, so was bringt Glück,« sagte sie dem einen. Dem anderen gab sie den Rat, sich vom Förster Brausewetter die Stiefel zu leihen, weil der den Dusel hatte, einen Hasen totzutreten, als er glaubte, über einen Kartoffelsack gestolpert zu sein.

Auch Vater Höhrle in seiner Not war eines Abends, als kein Sternlein leuchtete und die Dunkelheit wie ein schwarzes Bahrtuch vom Himmel niederhing, zum einsamen Hause der Kartenschlägerin geschlichen. Unstet und unsicher wanderte er auf den Zehenspitzen ums verlassene Haus, streckte sich am Fenster so hoch, dass seine Augen über den Rahmenschenkel reichten, und musterte nun durch die von der Tranlampe erhellte Scheibe das Innere des Zimmers. Da saß das Gerippe der grämlichen Alten über einen Zinnteller gebeugt, der verkehrt auf dem Tische lag, und zählte Erbsen. Das war widersinnig, aber es war etwas anderes, als was andere Leute taten, und das schon machte Eindruck auf Vater Höhrle und erhöhte seinen Glauben an ihre Wissenschaft. Kein Zweifel, sie war allein. Die Lampe durchleuchtete das Zimmer bis in jeden Winkel hinein, ja noch bis unter die Bettlade, denn man sah da einen kleinen Korb stehen, aus dem der dicke Kopf eines weißen Katers schlaftrunken hervorlugte.

Dass er die vielbegehrte Frau glücklicherweise allein fand, das war nach dem Geschmack des Vater Höhrle. Mein Gott, er galt seither als aufgeklärt. Zwar hatte er in den Drangsalen der letzten Jahre schon manches an Ansehen verloren; er hätte ja auch den Ruhm, ein gebildeter Mann zu sein, entbehren können, aber ungern hätte er es doch gesehen, wenn man ihn mit der urteilslosen Menge auf einen Haufen warf. Er war der Vater eines angehenden Arztes, dessen Beruf nur mit den Realitäten des Lebens rechnen durfte, und es wäre ihm unangenehm gewesen, wenn die Leute von ihm öffentlich gesagt hätten, er glaube an die Albernheit der Wahrsagerei. Und doch brauchte er einen Blick in die Zukunft jetzt mehr denn je. Deshalb nahm er nach zweifelndem Schwanken einen Anlauf und schritt über die Schwelle der Kartenschlägerin.

 

Die Alte, als sie merkte, dass Kundschaft kam, erhob sich und zog mit einem lauten Ratsch den Vorhang des Fensters zu. Der Kater kroch aus seinem Korbe, machte ein paar Mal einen Buckel, als ob er die Absicht hätte, die Bettstelle zu verrücken, und kam dann schnurrend näher, um sein juckendes Fell an Vater Höhrles Schenkeln zu reiben. Derweilen hatte das graue Mütterlein ihre Hornbrille geputzt und auf die Nase gesetzt.

»Ihr seid’s, Vater Höhrle,« rief sie aus, »die alte Hexe weiß die Ehre eures Besuches zu schätzen, obwohl ihr bekannt ist, dass die Nacht euch den Gefallen tun muss, eure Schamröte zu verdecken. Es gibt Narren, die mich verehren, und Toren, die mich fürchten. Ihr aber sollt mich achten lernen. Mich rührt euer Los, weil es das Los der breiten Masse ist in unserer unseligen Zeit. Gebt mir ohne Scheu eure Hand; wenn ich euch nützen kann, so soll’s geschehn.«

Der Mann gehorchte willenlos wie ein Kind, und er duldete sogar den gräulichen Kater, der ihm aufs Knie gesprungen war und ihm ab und zu die buschige Rute unter der Nase herzog. Die Kartenlegerin schaute bei der roten Glut der Ölfunzel lange und nachdenklich in die Hand ihres Klienten, bis ein Anflug von Trauer diese alten vom Schicksal gemeißelten Züge etwas milderte, ihnen das gespenstisch Unheimliche nahm und Menschlichkeit in sie hineinzauberte.

»Bedauernswerter Mann,« sprach sie nach langem Nachdenken, »was hier geschrieben steht, kann euch zu wissen nicht frommen. Will das Unglück zu uns kommen, so mag es unhöflich eintreten und vorher nicht klopfen. So schreckt uns doch nur seine Gegenwart und nicht auch die Furcht vor seinem Kommen. Ihr seid mir fürs Schweigen nichts schuldig, und wenn ich euch jetzt einen Rat gebe, den ich nicht aus den Linien eurer Hand geholt habe, so ist der damit bezahlt, dass ihr beim Weggehen die Türe rasch hinter euch schließt, damit der Strolch von Kater nicht entweicht und spät nach Hause kommend meinen Schlummer stört.« Die Alte räusperte sich und fuhr fort:

»Ihr kennt den Zug der Pilger, der so um Peter und Paul herum von Steinach kommt und nach Walldürn geht. Hans Rubenschuh, der Besenbinder, trägt den Herrgott voraus. Wenn die Prozession mit Gesang durch Husterloh zieht, und ihr hört im Chor die Rumpelbäuerin von Löhrbach krähen, dann kann euch geholfen werden, dann schließt euch an. Manch einer schon, der sich nach einem Pfennig bückte, fand einen Groschen. So, nun geht und gebt mir auf den Kater acht, denn wenn der Unhold das Freie erreicht, dann gnade Gott aller Katzenjungfernschaft weit und breit.«

Vater Höhrle ging, hob an der Türe mit dem Fuße den Kater hoch und warf ihn in die Stube hinein. Er maunzte, fiel aber, wie Katzen immer tun, auf die weichen Sammetpfoten. Als der diebische Schleicher einsah, dass sein Versuch, zu entkommen, misslungen war, brach er in ein klägliches Heulen aus, das die Stube füllte und weithin noch in die Nacht hinausdrang.

24. Kapitel

Es war eines Morgens in der Frühe. Die liebe Sonne drückte auf den Nebel, so dass er sich duckte wie ein Hund und sich am Bache hinschlich wie ein Dieb, als das Tal herauf ein vielstimmiger Chor erklang: »In Gottes Namen fahren wir.« Vater Höhrle öffnete das Fenster und lauschte nach der Straße hinüber. Ei, da hörte man eine hohe selbstgefällige Stimme, die der Melodie allerlei Schnörkel andichtete und über der Komposition schwebte, wie der Geist Gottes über den Gewässern. Das muss sie sein, dachte der Müller, hing den Riemen seines Ranzens über die Schulter, steckte den Rosenkranz in die Tasche und trat vor die Tür. Eben kam Hans Rubenschuh mit dem Herrgott um die Ecke und hinter ihm ein Haufen Männlein und Weiblein mit verstaubten Schuhen und überhitzten Gesichtern, die von Schweiß und frommem Eifer glänzten. Höhrle schloss sich dem Zuge an, als eben der Gesang aufhörte, und ein Vorbeter einen Rosenkranz herunterzuleiern begann. »Und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus,« floss es in monotonem Rhythmus von hundert Lippen herunter und wiederholte sich mit kräftiger Betonung, sobald man an einem der Muttergottesbilder vorüber kam, die in Nischen vor den Häusern standen. Es war, als ob man dem Holz die Fähigkeit zutraute, all die Bitten der Mühseligen und Beladenen weitergeben zu können, zu einem, der sie erfüllen kann.

Als man das Dorf im Rücken hatte, war man der Verpflichtung enthoben, ein gutes Beispiel geben zu müssen. Gesang und Beten hörten auf. Einige setzten sich an den Straßenrand und zogen ihre Schuhe aus. Ein Paar Sohlen konnte der Bittgang ohnedies kosten, aber wenn der Schuster seinen Kredit beim Gerber erschöpft hatte und schlechtes Leder bekam, dann war es fraglich, ob die Sohle überhaupt ausreichte. Also fürsorglich sparen. Hans Rubenschuh machte sich die Sache gleichfalls etwas bequemer. Er hielt das Kreuzbild nicht mehr aufrecht, sondern warf es, wie man eine Flinte trägt, leichthin über die Schulter. Bei diesem Geschäft trieb er dem Hansebauer von Siedelsbrunn, der hinter ihm ging, den Hut ein. Der wurde verdrießlich und sagte: »Pass auf, du Scheeler, Holz ist Holz, auch wenn ein Herrgott daraus geschnitzt ist. Wie leicht ist es geschehen, und du schlägst einem deiner Mitmenschen den Schädel ein.« Rubenschuh sah über die Achsel, zog den Mund etwas krumm und marschierte weiter.

Man war an einer Zündholzfabrik vorübergekommen, dann an einer Mühle. Jetzt wurde das Tal weiter, und im Vorblick lag lang hingestreckt das Dorf Affolterbach. Seine Herrscher waren vordem die Kurfürsten von der Pfalz gewesen, und seine Bewohner waren mit Friedrich dem Bösen zum Protestantismus übergegangen. Seitdem hatten sich die Gesichter dieser Leute geändert. Das bequeme Gottvertrauen war daraus verschwunden, und mutige Energie hatte sich breit hineingelagert, aber auch der heitere Wille, von des Lebens Freuden an sich zu reißen, was möglich wäre.

Auch die Tracht hatte den äußeren Menschen der inneren Stimmung angepasst. Der Wetterverteiler auf den viereckigen Bauernschädeln hatte dem runden Filzhut den Platz geräumt. Die Frauen fingen mit Umhängen an, sich modisch zu kleiden. Diese kleinen Leute von Affolterbach fühlten sich als Kulturträger inmitten all der Orte, die unter dem Mainzer Krummstab die Reformation katholisch überdauert hatten. Sie waren etwas hochnäsig und geneigt zu witzeln.

Nun kam ein großer Haufe derer, für die ihr gehobenes Selbstgefühl manch scharfes Wort schon geprägt hatte. Sollten sie sich diese Gelegenheit zum Spotten entgehen lassen, dachten die Waller, und sammelten sich am Eingang des Dorfes um den Rubenschuh und seinen Herrgott zu entschlossenem Widerstand. Die Vordersten hatten halt gemacht, und die Nachhut engbrüstiger Weiber und gichtbrüchiger Männer floss in den Haufen herein. So, nun waren sie alle zusammen und hatten Mut; nun sollte einer wagen, ihnen etwas in den Weg zu legen. Einige Hunde, dickköpfige Inkarnationen fanatischen Religionshasses, waren in der Tat mit Gekläffe angerückt. Man hatte ihnen die Absätze mit den krantigen Schuhnägeln gezeigt. Nun waren sie durch die Gartenzäune gekrochen und bellten hinter deren sicherem Schutze. Dagegen war nichts zu machen. Ihr Toben konnte man nur überschreien und zwar mit einem Muttergotteslied, das diesen protestantischen Biestern und ihren Herren ein rechter Gräuel sein musste. Also sang man mutig in die Lüfte hinein: »Maria zu lieben, ist allzeit mein Sinn,« und über dem Stimmengewoge erklangen die Triller der Rumpelbäuerin, der herzhaftesten von allen, die par coeur sang, wie eine Wachtel im Spinat.

Die Leute von Affolterbach, diese aufgeblasenen Leute, liefen an die Fenster. Kinder drängten sich auf den hohen Treppen. Man sah neugierige, spöttische, lächelnde Gesichter, aber sonst geschah nichts. Man hatte sich zur Ehre Gottes und zum Ärger des Nächsten durch diese Ketzergemeinde sehr geordnet, sehr imponierend hindurchgesungen. Nun konnte man sich wieder gehen lassen. Die paar Köter, die, den Grimm des geärgerten Dorfes vorstellend, noch immer schimpfend, aber in klug herausgerechneter Distanz dem Zuge folgten, ignorierte man. Man kam durch einen Wald. Der Schatten der Bäume legte sich über die erhitzten Stirnen und beruhigte allmählich auch jene sensiblen Naturen, die Herzklopfen bekommen hatten, weil sie einen Protestanten anzugucken gezwungen waren. So zog denn wieder Gottesfrieden mit dieser Herde, und in diesem Augenblick hätte vielleicht auch der mit dem Schwarme ziehen können, der einst mit der Samariterin am Jakobsbrunnen über die Arten der Gottesverehrung so verständig gesprochen hatte.

Man war nun an eine Stelle des Waldes gekommen, wo vergilbtes Papier umherlag, zerbröckelte Eierschalen und hie und da die Scherben einer zerbrochenen Flasche. Schon achtundzwanzig Jahre führte Rubenschuh die Prozession nach Walldürn, achtundzwanzig Mal schon hatte er an dieser Stelle gerastet, und er stellte auch heute den Herrgott an den borkigen Stamm einer alten Tanne, die der Wind krumm gedrückt hatte. Dann warf er den breiten Lederriemen seines Ranzens über den Kopf und sich selber zwischen die einladenden Früchte der Heidelbeersträucher. Alle Welt folgte willig seinem Beispiel. Bald hörte man die Stopfer schnalzen, die den Mokkasaft der Flaschen hüteten. Messerstiele hämmerten auf Eierschalen. Würste wurden ausgepackt und mit den Därmen, denen sie Form und Gestalt verdankten, sparsam verzehrt. Gaumen und Zunge feierten ein Freudenfest. Wer seinen Hunger gestillt hatte, suchte rund um sich herum in den Heidelbeersträuchern einen billigen Nachtisch. Man musste doch die Beine noch ein bisschen ruhen lassen. Sie waren am ganzen Körper das am wenigsten sündhafte Glied, und doch mussten sie alle anderen hinaus zum Gnadenorte schleppen. Es war so mollig, sie im weichen Moos liegen zu sehen und den lieben Nächsten ein wenig zu hänseln.

Bruder Joachim kitzelte die Greth vom Stallenkandel, dass diese lachen musste, und alle anderen lachten mit. Der Röse Ricke wollte ein launiger Geselle einen Maikäfer ins Genick setzen. Sie floh vor dem zappelnden Ungetüme und lehnte sich so an den Stamm einer Birke, dass sie das ganze bunte Zigeunerlager vor Augen hatte. Nun würde irgendeine bedeutende Bemerkung als Honigseim über ihre Lippen fließen, das fühlte jeder, und sie kam auch.

»Seht da,« rief sie verwundert, »da sitzt Vater Höhrle neben der Rumpelbäuerin. Haben die zwei nun die Tauben zusammengetragen oder haben sie selber den Tierchen ein wenig nachgeholfen? Einerlei, die zwei gäben wohl ein schönes Paar.«

Die Rumpelbäuerin ging auf Röse Rickens Anspielung ein, sie schlug den Arm um Vater Höhrle und sagte: »So könnten wir wohl zum Photographen gehen.«

»Auch aufs Standesamt,« rief man lachend von allen Seiten. »Ihr habt beide schon in den sauern Apfel der Ehe gebissen, euch werden die Zähne nicht mehr stumpf, also Glück auf!«

Oft schon hat einer für ein ganzes Volk gedacht; sobald aber viele für einen denken, so geschieht dies weder sehr tief noch nachhaltig. So war auch Vater Höhrles Angelegenheit bereits vergessen, bevor sich die Waller zur Fortsetzung der Fahrt wieder in Marsch gesetzt hatten. Er selber freilich wälzte den Gedanken unruhig bei sich hin und her. Dies Weib mit seinem sinnlich groben Unterkiefer und den hochgezogenen Hüften, flößte ihm wenig Verehrung ein. Auch der schwere Tritt, zu dem man sich unwillkürlich das Klirren von Reitersporen hinzudenken musste, sprach von impulsiver Energie, unter welcher der gebeugte Rücken Höhrles sich noch tiefer neigen musste. Von der Sorte hatte er schon mehr als zuviel gehabt, aber sie brachte Geld ins Haus. Geld, das ausreichend war, die Familie auf der Mühle zu erhalten und vor allen Dingen dem Sohne die Möglichkeit zu bieten, seine Studien zu vollenden. Was war daran gelegen, ob Vater Höhrle den Rest seines Lebens mehr oder minder geknickt über die Scholle wanderte, wenn nur die Scholle, das teuere Vermächtnis seiner Ahnen, seinen Kindern erhalten blieb. So suchte sich der verspätete Freier an den Gedanken zu gewöhnen, dass er mit der robusten Frau zum Traualtar schreiten könne, wenn er sich auch eingestehen mochte, dass er neben ihr eine fast klägliche Figur machen müsse.

Die Rumpelbäuerin ihrerseits schritt derweilen, wieder losgelöst von ihrem Verehrer, zwischen einer Anzahl junger Männer ins Wiesental des Dorfes Olfen hinab, und wer die Klangfarbe des Lachens zu deuten verstand, das zuweilen aus dieser Gruppe herüberschallte, der wusste, dass sich ihr Gespräch um andere freudenreiche Geheimnisse drehte, als die des heiligen Rosenkranzes waren.

 

Es wurde Abend. Die Sonne sah mit halbverdecktem Gesicht über den Berg herüber und warf glühende Pfeile auf einen Taubenflug, der liebesmatt auf dem Strohdach eines Hauses lag. Feine, flimmernde Kragen, die aus Perlmutter gearbeitet schienen, lagen den Tieren um die Hälse und warfen in gebrochen zwinkernden Lichtern alle Farben des Regenbogens in die Abendstimmung des Tales hinaus. Die Schar der Waller ging achtlos an dieser Goldschmiedearbeit des Schöpfers vorüber, aber Adam Gutenrath, der Glaser, der oft beim Lampenlicht in den Diamant geguckt hatte, mit dem er sein Glas schnitt, hob den Kopf und riss die Augen auf.

»Starenhälse,« rief er, »Starenhälse,« und sprang voll Eifer ins Haus.

»Da haben wir’s,« sagte der Kreuzträger Rubenschuh, »bis der Narr seinen Handel abgeschlossen hat, wird’s eine halbe Stunde dauern. Zwei Zughunde könnte man mitführen und einen Geflügelkäfig statt Fahnen und Kruzifix, wenn jeder dem Federvieh nachlaufen wollte, wie der da,« und er stieß ärgerlich das Kreuz auf den Boden.

In der Tat, schon drohte die Nacht, und man hatte noch eine Stunde zu gehen. Es gab fromme Leute, denen das recht war. Das Dunkel stellte die Marschordnung auf den Kopf. Was alt und gebrechlich war, kam voraus, die Jugend geriet seltsamerweise in die Nachhut und suchte paarweisen Anschluss. In zwei Tagen war man in Walldürn; was verschlug es da dem Beichtvater, ob er mit dem Striegel der Generalbeichte eine Sünde mehr oder weniger herunterkratzte, nachdem die Nacht, die große Kupplerin, eine so unvergleichliche Gelegenheit geschaffen hatte.

Der Mond ging auf und war vielen, nicht allen willkommen. Obwohl er noch tief am Firmamente stand, fielen doch seine Strahlen so, dass der Waldweg, den man jetzt emporstieg, gut beleuchtet und nur an wenig Stellen von Schatten überlagert war. Müde, schleppende Schritte brachten die Waller endlich aus dem Walde auf einen bebauten Bergrücken, dessen Scheitel von einem seltsamen Dreifuß gekrönt war. Das Mondlicht rann an drei gespenstischen Säulen nieder, deren Kapitäle durch Querbalken verbunden waren. Im ersten Moment erweckte das seltsame Bauwerk die wehmütigen Gefühle, die uns beim Anblick alter Tempelreste zitternd durch die Seele ziehen, bis Hans Rubenschuh erklärend ausrief: »Das ist der Galgen!« und nun die Geschichte erzählte, die er schon siebenundzwanzig Mal bei der gleichen Gelegenheit erzählt hatte:

»Als noch die Grafen von Erbach ihre eigenen Zentgerichte hatten, damals war mein Großvater Scharfrichter. Gar manchem hat er bei gutem und schlechtem Wetter hier an dem Querbalken in die Höhe geholfen, damit er sich die Gegend noch einmal gründlich betrachten und dann Abschied nehmen könne. So schritt er auch eines Tages neben dem Kaspar Sachs von Kirchbrombach nach dem Hochgericht, denn Kaspar Sachs hatte im gräflichen Revier einen Hirsch geschossen, sah sein Unrecht ein und ging, die Pfeife im Munde, der Ewigkeit gelassenen Schrittes entgegen.

›Lieber Henker,‹ sagte er unterwegs, ›die Pfeife ist unter Brüdern einen Gulden wert und zur Stunde frisch gestopft. Sie soll nach meinem Tode dein Eigen sein, wenn du mir einen kleinen Gefallen tun willst. Sieh’ her, ich habe einen Kropf, wie alle Kirchbrombacher. Nun bin ich da unter der garstigen Kohlrübe ein wenig kitzlig, sei drum so gut und lege deine hänferne Halsbinde getrost über des Kropfes größte Wölbung. Die Pfeife wird noch brennen, wenn ich ausgeschnauft habe, ’s ist guter Tabak drin, und du kannst sie ruhig weiterrauchen, ohne Feuer zu schlagen.‹

Meinem Großvater gefiel der Handel, und er tat, wie verabredet.

Einen Augenblick baumelte Kaspar Sachs, dann rutschte die Schlinge ihm übers Gesicht, drückte ihm die Nase ein wenig platt, und nach dieser Unbequemlichkeit stand der Gehängte mit beiden Stiefeln wieder auf dem Rasen unter dem Galgen.

›Wer einen Hirsch schießt,‹ sagte der Zentrichter, ›der soll gehängt werden, so verlangt es das Gesetz.‹

›Gehängt ist Kaspar Sachs, also haben wir mit der Sache nichts mehr zu tun.‹

Der Wilddieb bückte sich nach seiner Pfeife. Richtig, sie brannte noch, und nun lief er mit großen Schritten quer übers Feld nach Kirchbrombach zu. Mein Großvater stand grün vor Ärger auf der Leiter und rief dem Davoneilenden nach: ›Halunke, ein andermal mach ich den Strick dir unter die Rübe.‹«

Einige hatte die Furcht um den Erzähler geschart, andere der prickelnde Schauer, den der unheimliche Ort ausdunstete, und so war die Prozession wieder vollzählig beisammen, bevor man Beerfelden erreichte.

In der Herberge zum Lamm hatte man die Diele des Tanzsaales mit Stroh belegt, und nach einem kurzen Abendbrot lag die fromme Herde, jedes Lamm seinen Reisesack unterm Ohre, in geräuschvollem Schlummer. Während der Nacht ereignete sich nichts. Nur war die Rumpelbäuerin, der man als einer Respektsperson ein Lager auf der schmalen Wirtstafel bereitet hatte, heruntergefallen und hatte dem Franz Hartnagel von Vökelsbach das Nasenbein eingedrückt.

Die Sonne des nächsten Morgens fand eine geschwollene, blauschillernde Nase, sonst aber alles bei guter Laune, und mit schallendem Lied und wehenden Fahnen zogen die Waller über den Krähberg nach Schöllenbach hinunter. Von dort gleich hinter der kleinen Kirche, vor der ein breiter Bach mit einem Male aus der Erde bricht, beginnt ein mühsamer Aufstieg. Zwischen Hainbuchen und Haselnussstauden, die sich mit langen dünnen Fingern an dem steinigen Boden festhalten, steigt ein Pfad hinauf, fast senkrecht, als ob er nach dem Monde wolle. Die Waller beantworteten diese Zumutung mit hörbarem Schnaufen, Ächzen, Stöhnen und zuweilen mit dem Stoßseufzer »o, Jesu!« Hans Rubenschuh, der den Herrgott trug, war an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit angekommen und bat seinen Nachbar, ihm den Allmächtigen abnehmen zu wollen. Der weigerte sich entschieden, und auch ein anderer lehnte die Ehre ab. Da fing Rubenschuh an gotteslästerlich zu schimpfen und zu fluchen, worauf sich dann doch ein gutmütiger Simon von Cyrene fand, der ihm das Kreuz abnahm.

Auf dem Moosboden der Bergeshöhe, wo der Wald leichter fort kann, kühlte der Schatten des Blätterdaches wieder die heißen Stirnen, und ein Blick nach der Talsohle hinunter, wo das Schloss Waldleiningen mit seinem roten Sandstein aus saftgrünem Wiesenteppich aufsteigt, dünkte denen, die zum ersten Male die einsame Straße zogen, ein Blick ins Paradies. Man vergaß fast, dass die Wanderung ein Ziel hatte. Niemand wollte mehr weiter. Bald saßen einige am Boden und lehnten den Rücken an die silberschimmernden Buchenstämme. Die Futterkörbe gaben ihren Inhalt her, und es begann nach kurzer Zeit ein kurzweiliges Necken und Hänseln der Satten. Röse Ricke wollte das Taschentuch des Adam Gutenrath verstecken und sagen, die Starenhälse seien davongeflogen. Doch sie vergriff sich und entwickelte aus einem Tuche einen sonderbaren Gegenstand. Es war ein Herz aus fleischfarbigem Wachs. Frau Rauschkolb hatte es dem Stefan Garkoch mitgegeben, dass er es aufhänge am Gnadenaltar, denn sie wünschte, dass ein Wunder das harte Herz ihres Mannes erweichen möchte.

»Den alten Sünder umstimmen,« sagte Röse Ricke, »eher kochst du einen zehnjährigen Gänsert gar. Dem Gaul, auf den er sich gesetzt hat, sei der Himmel gnädig.«

Vater Höhrle zuckte zusammen bei diesen Worten und verfärbte sich, denn er wusste, dass Rauschkolb zwei Hypotheken erworben hatte, die auf seiner Mühle ruhten. Wie konnte das enden? Die Rumpelbäuerin, so dumm sie war, hatte die Gedanken ihres Nachbars auf dessen Gesicht gelesen und rückte näher, so nah, dass Vater Höhrle die Wärme ihrer Schenkel spürte.

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