Mord aus gutem Hause

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Mord aus gutem Hause
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Achim Kaul

Mord aus gutem Hause

Der neue Augsburgkrimi

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

Epilog

Nachbemerkung und Danksagung

Impressum neobooks

1. Kapitel

Mord aus gutem Hause

Zweifel wurde am Samstagmorgen von einem ungeduldigen Klopfen geweckt. Es war eher ein Hämmern, unrhythmisch und unangenehm laut. Er wälzte sich aus dem Bett und versuchte, die Augen offen zu halten. Er stand auf und tappte verschlafen den Flur entlang. Er gähnte. Das heftige Hämmern setzte wieder ein.

»Ja doch«, brummte er genervt und blieb mit den Zehen des rechten Fußes an seinem Bücherregal hängen. Der plötzliche Schmerz machte ihn hellwach. Er riss die Eingangstür auf.

»Seit wann hast du denn eine Glatze?« Zweifel war wie vom Donner gerührt. Sein Vater stand vor ihm.

»Dad …«, brachte er mühsam hervor und presste stöhnend die Augen zusammen, als er seine Zehen bewegte.

»Sag nicht Dad. Kannst du kein anständiges Deutsch?« Zweifel schüttelte heftig seinen Kopf. Einerseits um die nach Aufmerksamkeit brüllenden Zehen aus seinem Bewusstsein zu verscheuchen, andererseits, um die Fragen zu sortieren, die ihm kreuz und quer durchs Hirn schossen und schließlich, um die Fata Morgana in Gestalt seines Erzeugers als solche zu entlarven. Was nicht gelang. Sein Vater, den er mehr als nur eine Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte, stand leibhaftig vor ihm. Er starrte auf den blankpolierten, schwarzen Schuh am linken Fuß seines Vaters und auf die arg ramponierte Sandale an dessen rechtem Fuß. Die Frage, die sich daraus ergab, schob Zweifel auf seiner Prioritätenliste ganz nach hinten. Sein Vater hatte ihn etwas gefragt.

»Die hatte ich schon bei meiner Geburt«, antwortete er fast automatisch.

»Bist du sicher? Hat Ed wohl vergessen. Ich wollte, den Rest hätte Ed auch vergessen.« Zweifel hatte keine Ahnung, was genau sein Vater damit meinte. Sie standen einander in der offenen Tür gegenüber, wie ein Mann, der einen anderen Mann nach dem Weg fragt, den dieser nicht kennt.

»Kaffee wäre gut für Ed. Und eine Orange. Ja, ich denke, das wäre angemessen. Hast du so was im Haus?«, fragte Edwin Zweifel auf eine etwas irritierende Weise.

»Sicher«, sagte sein Sohn, »komm rein.« Kaum hatte er sie ausgesprochen, schwante ihm, dass er diese Worte noch bereuen würde.

Wenig später saß Ed unbequem auf einer Art Barhocker an der Küchentheke seines Sohnes. Zweifel war im Bad. Er hatte seinem Vater eine Tasse Kaffee durchlaufen lassen und ihm gezeigt, wie die Maschine zu bedienen war, falls er eine zweite wollte. Orangen hatte er zwar keine, schenkte ihm dafür aber ein Glas Saft ein. Ed hatte sich schweigend an die Theke gesetzt, ein Tütchen Zucker aus einer Keramikschale herausgefischt, sorgfältig an einer Ecke aufgerissen und langsam in das Glas Orangensaft rieseln lassen.

Zweifel stand unter der Dusche und versuchte, sich zu erinnern, wann er seinen Vater das letzte Mal gesehen hatte. Zwanzig Jahre war das her, länger noch, es musste Anfang 1994 gewesen sein, im nasskalten Berliner Winter. Zweifel stellte die Dusche ab und blieb eine Weile tropfnass stehen. Die Bilder aus der Vergangenheit stürzten auf ihn ein und blockierten vorübergehend das Bewusstsein dafür, was als Nächstes zu tun war, nämlich, sich abzutrocknen und anzuziehen. Als er damit fertig war, hörte er, wie die Kaffeemaschine ihre typischen Geräusche von sich gab. Sein Vater schien sich also schon wie zuhause zu fühlen. Ein Gedanke, der Zweifel zu beunruhigen begann. Er ging in die Küche.

»Der Saft ist Ed zu süß«, brummte sein Vater.

»Hast du immer noch diese Angewohnheit?«, erwiderte Zweifel, holte Brot aus dem Schrank und fütterte den Toaster mit zwei Scheiben. Sein Vater zog die frisch gefüllte Tasse unter der Auslaufdüse hervor und stellte sie vorsichtig auf die Theke, auf der er vorhin schon etwas Kaffee verschüttet hatte. Er nahm ein weiteres Zuckertütchen, riss eine Ecke ab und versenkte den Inhalt in das volle Glas Orangensaft.

»Was willst du damit sagen?«, fragte er im gleichen brummigen Ton. Zweifel stellte seine Tasse unter den Koffeinspender.

»Der Saft ist Ed zu süß«, ahmte er seinen Vater nach. »Du redest von dir in der dritten Person. Du tust so, als ob dieser Ed jemand anders wäre. Das meine ich damit.« Edwin Zweifel nippte an seinem Kaffee und schwieg. Dieses Schweigen kam Zweifel wie die Ankündigung großer Schwierigkeiten vor.

Er hatte seinen Vater nicht schweigend in Erinnerung. Im Gegenteil. Wenn er nicht gerade mit seinen Kunden telefonierte, selten kürzer als eine halbe Stunde, redete er mit Nachbarn, quatschte mit Bekannten, die zufällig am Haus vorbeiliefen, sprach Fremde an, die zufällig am Haus vorbeiliefen und anschließend zu den Bekannten zählten. Einmal hatte Zweifel von seinem Fenster aus beobachtet, wie sein Vater einen Müllmann in ein Gespräch verwickelt hatte. Der Fahrer des Müllwagens hatte ungeduldig gehupt, war schließlich mit einem Fluch auf den Lippen ausgestiegen und lauschte wenig später fasziniert den Worten seines Vaters. Zweifel hatte keine Ahnung, was Ed, so nannte ihn alle Welt, den Leuten erzählte. Aber es war seine Art und Weise, Geld zu verdienen. Zweifels Mutter war früh gestorben. Eines Tages kam er nach Hause und fand seinen Vater im Wohnzimmer vor, wo er aus dem Fenster starrte und ihn nicht beachtete. Seine Mutter war in der Küche. Zuerst sah er die Flecken am Kühlschrank. Ein Stuhl war umgefallen, die Tischdecke halb heruntergezogen. Es roch säuerlich nach Essig und Zwiebeln, der Salat war auf dem ganzen Küchenboden verteilt. Die Schüssel war verkehrt herum auf ihrer Hand gelandet, zwischen den verkrampften Fingern lugte ein Stück rote Paprika hervor. Sie lag auf der Seite, als hätte sie auf dem Boden ein Schläfchen machen wollen, die Knie angezogen. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Zweifel kniete neben seiner Mutter, die Hand unter ihrem Nacken, in dem fassungslosen Bemühen, sie ins Leben zurückzuwünschen, als er die Stimme seines Vaters hörte.

»Hirnschlag«, verkündete er so sachlich, als wäre nur eine Sicherung herausgeflogen.

»Warum hast du keine Hilfe …«

»Da kam jede Hilfe zu spät, Junge. Da war nichts zu machen.« Es war merkwürdig, aber im Rückblick kam es Zweifel so vor, als hätte sein Vater damals begonnen, von sich in der dritten Person zu reden.

 

»Ich rede, wie es mir passt«, sagte Ed und stellte seine Tasse auf die Theke. Zweifel war nicht nach einem Streit mit seinem Vater zumute. Nicht eine halbe Stunde, nachdem er seit ewigen Zeiten plötzlich wiederaufgetaucht war. Ihm lagen viele Fragen auf der Zunge, die er mit einem großen Schluck Kaffee hinunterspülte. Es war Samstagmorgen und er hatte sich für das Wochenende vorgenommen, seine umfangreiche Sammlung an Kunst- und Fotobänden in aller Ruhe durchzusehen und vielleicht einen oder zwei ausgedehnte Waldspaziergänge zu machen. Außerdem musste er seinen Umzug nach Augsburg vorbereiten. Dieser Plan war nun in Gefahr. Er musterte seinen Vater über den Rand der Kaffeetasse hinweg. Wie alt war er jetzt eigentlich? Er stellte eine schnelle Berechnung an und kam auf 74 Jahre. Im Gegensatz zu seinem Sohn hatte Ed Zweifel einen dichten, weißen Haarschopf, den er noch nie zu bändigen vermocht hatte. Die Haare standen wild in alle Richtungen ab, als wäre er in einem Doppeldecker ohne Helm hergeflogen. Die grünen, hellwachen Augen hatte er halb geschlossen. Er tat, als bemerkte er den Blick seines Sohnes nicht. Zweifel gab sich einen Ruck.

»Wie hast du mich überhaupt gefunden?«

»War nicht schwer«, war die lapidare Antwort.

»Ach was! Das will ich jetzt aber genau wissen.« Ed warf seinem Sohn einen langen Blick zu und drehte das Glas mit dem Orangensaft hin und her.

»Du warst in der Zeitung. Dein letzter Fall hat Aufsehen erregt.« Zweifel ahnte, dass er die Antwort auf seine Frage nicht in einem einfachen Satz serviert bekäme. Er musste nachhaken wie bei einem widerspenstigen Zeugen.

»Wo hast du darüber gelesen?« Ed tat, als konzentrierte er sich auf den Orangensaft, doch sein Sohn brachte an diesem Morgen keine Geduld für eine subtile Gesprächsführung auf.

»Ist ja auch egal«, sagte er mehr zu sich. Der Toaster spuckte zwei Scheiben aus. Zweifel nahm eine und biss ab. Ed ließ das Glas los.

»Trockener Toast?«, fragte er und seine Stimme klang herausfordernd. Wortlos nahm Zweifel einen Teller vom Regal über der Spüle und legte die andere Scheibe darauf. Aus dem Kühlschrank holte er Margarine und ein Glas Erdbeermarmelade und stellte beides vor seinen Vater hin. Mit dem Finger deutete er auf einen steinernen Bierkrug, in dem er sein Besteck aufbewahrte.

»Mehr hab ich nicht zur Auswahl.« Er steckte zwei neue Scheiben in den Toaster und biss das zweite Drittel seiner Scheibe ab. »Auf Besuch bin ich nicht eingestellt«, fügte er mit vollem Mund hinzu. Ed nickte und griff nach seiner Tasse.

»Du lebst allein? Ich dachte du bist verheiratet. Mit dieser Journalistin. Wie heißt sie nochmal?« Zweifel schoss das Blut in den Kopf. Eine barsche Antwort lag ihm auf der Zunge. Er schluckte sie hinunter zusammen mit dem Rest seines trockenen Toasts. Die neue Situation bereitete ihm zunehmend Kopfzerbrechen. Er trank hastig seine Tasse leer.

»Sie hieß Ella.«

»Ihr habt euch getrennt?« Zweifel schüttelte den Kopf.

»Sie wurde umgebracht. Ist schon lange her. Stand auch in der Zeitung«, antwortete er. »Aber das hast du wohl nicht gelesen.« Den Satz konnte er sich nicht verkneifen. Sein Vater schaute ihn prüfend an. Dann griff er nach einem Messer und bestrich seinen Toast mit Margarine. Zweifel sah zu, wie Ed einen großen Klacks Erdbeermarmelade aus dem Glas pulte und auf der dicken Margarineschicht verteilte. Ihm entging das Zittern der Hand nicht.

»Kannst du mir sagen, wie es kommt, dass du nach mehr als zwanzig Jahren so mir nichts, dir nichts samstagmorgens bei mir hereinschneist?« Sein Versuch, ruhig und gelassen zu klingen, misslang. Die Frage hing genauso vorwurfsvoll in der Luft, wie sie im Grunde gemeint war. Ed blieb davon unbeeindruckt, warf einen langen Blick auf seinen Toast und biss herzhaft hinein. Zweifel schüttelte den Kopf und wartete ab. Eine Weile war nichts zu hören als das Kauen seines Vaters. Schließlich trafen ihn seine grünen Augen.

»Schlimm, was mit deiner Frau passiert ist.« Zweifel rührte sich nicht. Er wollte in Anwesenheit seines Vaters nicht an Ella denken.

»Kann Ed noch ein Brot haben?« Die Frage schien an seine Kaffeetasse gerichtet. Wie auf Kommando sprangen die zwei Scheiben aus dem Toaster. »Ed weiß, wie sich das anfühlt«, sagte er und zog die Margarine zu sich heran. Zweifel dachte an seine Mutter.

»Natürlich«, murmelte er und legte seinem Vater einen Toast auf den Teller und nach kurzem Überlegen auch den zweiten.

»Also — du bist mir noch eine Antwort schuldig.« Ed war mit der Margarine fertig und nahm das Marmeladenglas in die Hand. Er tat so, als kontrollierte er die Inhaltsstoffe.

»Ed ist pleite«, sagte er nach einer langen Pause. Das traf Zweifel wie ein trockener Kinnhaken. Er starrte seinen Vater an.

»Was soll das heißen? Was ist mit dem Haus?«

»Wurde versteigert.«

»Und?«

»Und was?«

»Na, da muss doch Geld geflossen sein.« Ed nickte und biss in das Marmeladen-Margarine-Gemisch, das er auf seinem Toast angerichtet hatte.

»Aber nicht in Eds Richtung«, antwortete er mit vollem Mund. Es schien ihn nicht weiter zu belasten. Zweifel vergaß vor Verblüffung, den Kopf zu schütteln.

»Und jetzt?«, fragte er. Ed schluckte hinunter und wischte ein paar Krümel aus seinem Mundwinkel.

»Jetzt bin ich hier.«

Melzick wälzte sich auf die andere Seite und landete mit ihrer Nase an der Wand, die nach frischer Farbe roch. Es war kurz nach sieben. Das wusste sie, ohne die Augen zu öffnen. Sie hatte den Schuss gehört. Natürlich war es kein Schuss. Wie jeden Morgen um dieselbe Zeit hatte Frau Stalinke aus dem Erdgeschoss das Haus verlassen, um mit ihrem selbst gestrickten Kampfdackel das zu machen, was normale Hundebesitzer als „Gassi gehen“ bezeichnen. Frau Stalinke fasste diese Tätigkeit eher militärisch auf: Sie ging auf Patrouille, nicht ohne zuvor die Tür zum Treppenhaus einer Belastungsprobe zu unterziehen. Melzick hatte sich schon oft gefragt, woher diese Frau mit ihren dünnen Ärmchen die Wucht nahm, das ganze Haus erzittern zu lassen. Sie vermutete eine bisher unbekannte asiatische Kampfkunst. Die frische Farbe roch angenehm. Melzick nahm einen tiefen Zug durch die Nase und wusste im selben Augenblick, dass an Schlaf nicht mehr zu denken war. Wie zur Bestätigung meldete sich ihr Handy. Auf ihr verschlafenes »Ja?« meldete sich Zacharias.

»Morgen Mel. Heute geht’s rund. Bist du dabei?«

»Wobei?«, antwortete sie umrahmt von einem herzhaften Gähnen.

»Ach Schwesterchen! Ich hab dir doch den Link geschickt. Die Demo in Augsburg.« Melzick kratzte sich an der Nase, während sie in ihrem Gedächtnis kramte.

»Was für’n Link? Welche Demo? Wer spricht da überhaupt?« Zacharias wollte schon empört loslegen. Im letzten Moment ging ihm ein Licht auf.

»Keine Chance, Mel. Wenn du mich reinlegen willst, musst du früher aufstehen.«

»Will niemand reinlegen, kleiner Bruder, will einfach nur liegenbleiben«, nuschelte Melzick und drehte sich auf den Rücken.

»Hätte ich mir denken können«, sagte Zacharias mit vollem Mund und legte noch eins drauf. »Kommst eben jetzt auch schon ins Ego-Alter.« Er schmatzte genüsslich. »Fängt bei den meisten ab dreißig an, bist wohl etwas früher dran.« Melzick setzte sich abrupt in ihrem Bett auf und blinzelte den letzten Rest Schlaf weg.

»Deine Provokationen waren auch schon mal cooler, Zack.«

»Da gehen die Expertenmeinungen auseinander.« Zacharias hatte den Mund schon wieder voll.

»Was kaust du mir da eigentlich andauernd vor?«

»Etwas, worüber die Experten sich einig sind.«

»Und das wäre?«

»Meine Mango-Maccadamia-Muffins.«

»Ok ok, Zack, heb mir welche auf.«

»Sind schon eingepackt. Wir treffen uns am Bahnhof. Vergiss dein Transparent nicht.«

»Was für’n Transparent denn?«

»„Freiheit für Gluten“«, »„Nieder mit den freien Radikalen“«, was man eben so fordern darf als Polizeibeamtin.«

»Ich denk das ist ’ne Klima-Demo.«

»Na dann eben: „Inlandsflüge nur für Bienen“.«

»Das ist mir zu lang.« Zacharias ließ einen Stoßseufzer hören.

»Forget it. Hauptsache du machst mit.«

»Was ist mit deiner Freundin Jocelyn?«

»Was soll mit ihr sein?«

»Könnte riskant sein, als Illegale bei einer Demonstration erwischt zu werden.«

»Mel, es gibt keine illegalen Menschen.«

»Du weißt, wie ichs meine.«

»Weiß ich und Jocelyn weiß, was sie tut.«

»Na dann — man sieht sich.« Zacharias wollte noch etwas sagen, überlegte es sich anders und legte auf. Melzick musste dran denken, wie Zacharias ihr die junge Frau aus Äthiopien vor ein paar Wochen vorgestellt hatte. Sie beschloss, sich bei Gelegenheit um eine Rechtsberatung zu kümmern. Zacharias war ein unverbesserlicher Optimist. Seine rosarote Brille war zu oft beschlagen. Er weigerte sich einfach, Schwierigkeiten wahrzunehmen, bevor sie ihm im Genick saßen.

»Dafür hat er ja mich«, dachte Melzick, seufzte und sprang aus dem Bett.

2. Kapitel

Zweifel wollte sich auf nichts einlassen. Sein Vater hatte das Marmeladenglas in beide Hände genommen und drehte es hin und her.

»Eine Vater-Sohn-WG wär doch mal was anderes«, brummte er. »Ed hat da überhaupt kein Problem damit. Wichtig ist ’ne klare Aufgabenverteilung. Du gehst zur Arbeit, um den Rest kümmert sich Ed. Das ist er gewohnt.« Zweifel nahm ihm die Erdbeermarmelade aus der Hand und stellte das Glas demonstrativ in den Kühlschrank.

»Du fällst nicht mit der Tür ins Haus, du bretterst mit ’nem LKW in meine Küche. So funktioniert das nicht.«

»Käme auf einen Versuch an. Und was den LKW angeht — das bisschen Zeug, was Ed hat, passt in einen VW Käfer.« Ed fischte ein Zuckertütchen aus der Schale, riss eine Ecke ab und beglückte den Orangensaft mit einer weiteren Überdosis. Zweifel beobachtete irritiert, wie sein Vater das Glas mit der linken Hand drehte und suchte nach Worten.

»Es geht nicht. Ich will es nicht. Such dir bitte ein anderes Nest.«

»Machst du dir Sorgen um deinen Zuckervorrat?«

»Ich mach mir keine Sorgen. Ich ziehe um.« Eds rechte Hand verharrte mit dem inzwischen leeren Zuckertütchen zwischen Daumen und Zeigefinger über dem Orangensaft.

»Wohin?«, fragte er, ohne seinen Sohn anzusehen.

»Nach Friedberg.«

»Welches Friedberg?«

»Bei Augsburg.«

»Wann?«

»Ich bin mittendrin.«

»Sieht gar nicht so aus.« Zweifel seufzte.

»Liegt vielleicht daran, dass mein Zeug auch in einen VW Käfer passt.«

»Hast du einen?«

»Was?«

»VW Käfer.«

»Nein.«

»Sondern?« Zweifel stieß noch einen tiefen Seufzer aus.

»Cadillac Eldorado 1959.« Sein Vater warf ihm einen kurzen Blick zu und knüllte das Papiertütchen zusammen.

»Viel zu schade für die Straße«, meinte er.

»Das sehe ich anders. Ich sehe überhaupt vieles anders, als du, Dad, und deswegen würde es nicht funktionieren.« Ed warf ihm einen langen Blick zu.

»Das sehe ich anders.« Unwillkürlich mussten beide lächeln.

»Hört sich besser an, wenn du nicht in der dritten Person von dir redest«, sagte Zweifel und stellte die Margarine in den Kühlschrank. Sein Vater ließ sich von dem Frühstücks-Barhocker rutschen und hob einen Zeigefinger.

»Ich hab keine Ahnung, wovon du sprichst.« Er machte ein paar Schritte zur Tür hin, dann drehte er sich um. Seine grünen Augen musterten Zweifel.

»Nach Eds Erfahrung gibt es drei triftige Gründe für einen Umzug: Du brauchst einen neuen Chef, du bist einer Frau auf der Spur oder du hast was ausgefressen.« Zweifel verschränkte die Arme.

»Du hast einen Grund vergessen.«

»Und der wäre?«

»Flucht.«

»Bist du auf der Flucht?«

»Ich nicht, aber ich bin jetzt mal von dir ausgegangen.« Edwin Zweifel kam wieder zurück und stellte sich direkt vor seinen Sohn hin.

»Wenn du glaubst, dass ich damals vor irgendwas geflohen bin, dann …« Er stockte, verlor die Konzentration. Er schloss die Augen und presste Daumen und Zeigefinger an seine Nasenwurzel. Als er den Satz beendete, war seine Stimme deutlich leiser geworden.

»… dann hast du vermutlich Recht. Aber«, und wieder der Zeigefinger, »nur aus deiner Sicht. Für Ed war das keine Flucht. Wovor hätte er auch fliehen sollen?«

»Vor mir.« Die Worte waren draußen, bevor Zweifel einen Gedanken fassen konnte.

 

»Du weißt, dass das Blödsinn ist.«

»Damals wusste ich es nicht. Mutter war tot und du bist drei Tage nach der Beerdigung verschwunden.«

»Du warst alt genug und Ed hat jeden Monat einen Scheck …« Zweifel winkte ab.

»Ich weiß, ich weiß.« Er seufzte zum dritten Mal an diesem Morgen. »Warum das alles wieder aufwärmen?«

»Ed hat nicht davon angefangen.«

»Wenn man davon absieht, dass du dein Comeback in meiner Küche probst.«

»Das hielt Ed für am effektivsten.« Zweifel ließ seine flache Hand auf die Küchentheke fallen. Das Problemlösungs-räderwerk in seinem Kopf hatte bereits zu rattern begonnen. Er hatte jedoch keine Lust, die Probleme seines Vaters zu lösen.

»Effektiv vielleicht, was den Zuckerverbrauch angeht, aber nicht erfolgreich, Dad. Ich kann dir nicht helfen. Meine neue Wohnung ist nicht groß genug.«

»Das hat Ed schon begriffen. Du willst nicht. Trotzdem wäre es interessant, zu erfahren, warum dieser Ortswechsel …« Zweifel unterbrach ihn.

»Das überlass ich deiner Fantasie. Ein paar Gründe sind ja schon gefallen. Such dir einen aus.« Edwin Zweifel fuhr mit beiden Händen durch seinen wirren weißen Haarschopf, dann schnalzte er mit der Zunge und wandte sich erneut zum Gehen.

»Falls du Hilfe brauchst«, sagte er, schon im Flur mit der Hand auf der Klinke und ohne seinen Sohn anzusehen, »wird Ed dich schon finden.« Er öffnete die Eingangstür, trat ins Treppenhaus und zog sie hinter sich zu. Zweifel starrte in den Flur, der so leer war wie immer und ertappte sich bei dem Gedanken, dass Ed das gelingen möge. Als er eine halbe Stunde später seine Wohnung verließ, entdeckte er die Visitenkarte auf der Matte vor der Eingangstür. „Ed Z.“ stand darauf, „Überlebenskünstler“. Handschriftlich war eine Mobilfunknummer ergänzt.

Jocelyn sah Melzick als erste und winkte ihr mit einem zusammengerollten Transparent durch die offene Tür zu. In den beiden Großraum-Waggons des 9 Uhr 30-Zuges der Bayerischen Regio-Bahn von Bad Wörishofen nach Augsburg herrschte ein Gedränge wie in einem Airbus, nachdem der Pilot die Turbinen abgeschaltet und die Passagiere gebeten hat, sitzenzubleiben. Etwa zehn bis fünfzehn Senioren, allesamt im neonfarbenen Radler-Dress bewachten mit grimmigen Blicken die E-Mountainbikes, mit denen sie eine Expedition ins Altmühltal wagen wollten. Der Anführer, der als einziger seinen Fahrradhelm aufbehalten hatte, erteilte seinem Trupp laustarke Instruktionen. Keiner hörte ihm zu, außer den Fahrgästen, die die Gefahr zu spät erkannt hatten und aus Platzmangel gezwungen waren, in seiner Hörweite für die nächste Stunde sitzenzubleiben. Zacharias hatte den Wichtigtuer rechtzeitig bemerkt und mit Jocelyn einen Platz im vorderen Waggon ergattert. Melzick schloss ihr klappriges Dreigangrad ab und hastete den Bahnsteig entlang. Ein nerviges unerbittliches Piepen zeigte an, dass es höchste Zeit war. Zacharias blockierte wie zufällig die Lichtschranke der automatischen Tür. Mit dem letzten Piepton sprang Melzick auf.

»Zurückbleiben! Zefix!«, fauchte die Stimme des Zugführers aus dem Lautsprecher über ihnen. Zacharias grinste seine Schwester an und hob die Hand. Melzick schlug klatschend ein und nickte Jocelyn zu, die sie auf ihre scheue Art anlächelte.

»Jetzt nehmen Sie doch mal das Gelump aus meinem Gesicht!«, keifte eine Frauenstimme hinter dem Rücken der jungen Afrikanerin. Jocelyn versuchte, das Transparent auf der Gepäckablage unterzubringen. Zacharias half ihr dabei und murmelte eine Entschuldigung in Richtung der etwa fünfzigjährigen, korpulenten Frau im hellblauen Kostüm, die den sorgfältig frisierten Kopf schüttelte.

»Dürfen die überhaupt mit dem Zug fahren?«, war dumpf eine zweite Stimme zu hören. Die Nägel der vorgehaltenen Hand waren korallenrot lackiert, passend zur lila überhauchten Kurzhaarfrisur der Fragestellerin.

»Ich dachte, die dürfen ihren festen Bereich, also ihr Reservat oder wie man das nennt, nicht so einfach verlassen«, schob sie hinterher.

»Die Frage ist doch, wer denen die Fahrkarte zahlt«, mischte sich ein blasser, hochgewachsener junger Mann im enggeschnittenen silbergrau glänzenden Anzug ein. Sein Adamsapfel kämpfte gegen den straffgezogenen Knoten seiner schmalen Krawatte. Melzick wechselte einen Blick mit Zacharias und berührte Jocelyn leicht am Unterarm. Am besten ignorieren, war die Devise.

»Ich geb euch bis Buchloe Zeit«, dachte Melzick jedoch für sich. »Bis dahin dürft ihr euch auskotzen, von mir aus. Wer uns danach noch mit einer derartigen Wortmeldung beglückt, wird eine Bewusstseinserweiterung erleben.« Zacharias lehnte wegen der Enge lässig mit einer Schulter an der automatischen Tür. Jocelyn neben ihm wirkte so, als wollte sie sich unsichtbar machen. Melzick fragte sich nicht zum ersten Mal, ob es eine gute Idee von Zacks Freundin war, an der Demo teilzunehmen. Sie musterte stirnrunzelnd ihren Bruder, der sich in seinen ausgebeulten Jogginghosen, dem Schlabbershirt und den viel zu großen Sneakers sichtlich wohl zu fühlen schien.

»Guck nicht so«, sagte er, »das sind meine besten Klamotten.«

»Schon klar. Wie viele Leutchen werden wir denn sein?«, fragte sie. Zacharias zog die Nase kraus.

»Also, angemeldet sind 2000, aber Phil rechnet mit fast 5000. Aus Berlin, Köln und Hamburg haben sich große Gruppen angesagt.«

»Phil ist wer nochmal?«

»Der hat die Demo initiiert und organisiert. Du hast ja keinen Schimmer, was für’n Aufwand das ist.«

»Doch, hab ich.« Zacharias verdrehte die Augen.

»Schwesterchen, du kennst doch nur die andere Seite.«

»Ich war mal in München dabei. 30000 Leute, Marienplatz, fünfunddreißig Grad in der Sonne. Ich weiß, wie so was abläuft.«

»Ach ja? Wie viele ›Begleiter‹ waren denn da?« Zacharias sprach die Anführungszeichen mit. Melzick zuckte mit den Schultern.

»Werden wohl so um die 800 Kollegen gewesen sein.«

»Und was, glaubst du, lässt sich leichter organisieren?« Bevor Melzick antworten konnte, meldete sich der blasse Anzugträger zu Wort, der direkt hinter ihr stand.

»Ich hab gelesen, dass diese Demonstrationen«, er sprach dieses Wort in Großbuchstaben, »den Steuerzahler jedes Jahr Millionen kosten. Millionen!« Die korpulente Dame in hellblau fühlte sich angesprochen.

»Es ist einfach unglaublich. Was gibt es denn überhaupt zu demonstrieren? Hier in Deutschland?«

»Nächster Halt Buchloe. Bitte in Fahrtrichtung rrrächts aussteigen«, mischte sich der Zugführer zackig ein.

»Und dann kommen welche von sonst woher und machen ihren grässlichen Zinnober hier bei uns. Zuhause, da wo sie hingehören, würden sie dafür ausgepeitscht«, meinte die Frau mit den grellroten Fingernägeln. Jocelyn wusste nicht, wo sie hinschauen sollte. Ihre Gesichtsfarbe war noch einen Hauch dunkler geworden. Zacharias holte tief Luft. Melzick stupste ihn an und schüttelte den Kopf. Der Zug hielt. Es stiegen nur wenige Fahrgäste aus. Aus dem hinteren Waggon waren empörte Stimmen zu hören. Die Mountainbike-Schwadron kam mit einer Gruppe rüstiger Wanderer, jeder mit einem Survival-Paket von der Größe eines Seesacks auf dem Rücken, ins Gehege. Die Woche über wurden die Egos gehätschelt und gepflegt, um an Samstagvormittagen in den Zügen der DB aufeinander zu prallen. Die Stimmung heizte sich auf. Melzick wartete auf die nächste Durchsage.

»Zurrrückbleiben«, blökte der Zugführer. Der Zug nahm Fahrt auf und verließ den Bahnhof Buchloe.

»Man kann überhaupt nicht mehr ungestört einkaufen«, beschwerte sich die Dame in hellblau. »Ständig diese plärrenden Jugendlichen mitten in der Innenstadt zur Hauptgeschäftszeit.« Längst nicht mehr hinter vorgehaltener Hand gab die andere Diskussionsteilnehmerin ihren scharfen Senf dazu.

»Kein Deutsch können, aber dämliche Parolen grölen.«

»Wissen Sie, was das die deutsche Wirtschaft kostet?«, maulte der Anzugträger und zerrte an seiner Krawatte. Der Zug machte einige ruckartige Seitwärtsbewegungen, bis er im richtigen Gleis nach Augsburg war. Die Frau in hellblau verlor den Halt und rempelte Jocelyn an. Zacharias runzelte die Stirn. Obwohl die Kostümträgerin sich nicht entschuldigt hatte, drehte sich Jocelyn zu ihr um und sagte in akzentfreiem Deutsch:

»Das macht doch nichts.« Es war einer der ersten Sätze, die sie gelernt hatte. Sie eignete sich die deutsche Sprache in ganzen Sätzen an. Zacharias brachte sie ihr bei. Sie hatte ein gutes Ohr und schaffte es spielend, jeglichen fremdartigen Tonfall zu vermeiden. Sie klang wie jemand, der nie etwas anderes als glasklares Hochdeutsch gesprochen hatte. Zacharias reagierte sofort.

»Hast du gewusst«, sagte er unüberhörbar für die Umstehenden, »dass fünfundachtig Prozent der Deutschen es nicht für nötig halten, sich zu entschuldigen, wenn sie jemanden anrempeln?« Melzick unterdrückte ein Grinsen und nickte.

»Hab ich auch gelesen. In Bayern sollen es sogar fünfundneunzig Prozent sein. Ist ’ne ganz neue Studie.« Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie die Frau hinter Jocelyn rot anlief.

»Ja ja«, seufzte Melzick, »ist ’ne traurige Sache mit der Unhöflichkeit der Deutschen. So was ist in anderen Ländern einfach undenkbar.«

»Man sollte die Leute eigentlich davor warnen«, pflichtete Zacharias bei.

»Oh, das steht schon in vielen Reiseführern«, sagte Melzick. »Das wird die Touristen ganz schön abschrecken.« Zacharias schnalzte mit der Zunge.

»Gar nicht auszudenken, wie sich das auf die deutsche Wirtschaft auswirkt. Was meinen Sie?« Er hatte den blassen Anzugträger direkt angesprochen. Der rümpfte angewidert die Nase und blickte demonstrativ gelangweilt an Zacharias vorbei. Sein Adamsapfel machte dabei allerdings ein paar heftige Klimmzüge. Der Zug näherte sich seiner Höchstgeschwindigkeit. Die Klimaanlage war im Urlaub. Die Vormittagssonne brannte durch die großen Panoramascheiben.

»Hat jemand ’ne Ahnung, woher das Wort Arroganz kommt?«, fragte Zacharias in die Runde. Melzick hüstelte vornehm.

»Jo. Das wurde im 18. Jahrhundert aus dem Französischen entlehnt. Arrogant« (sie sprach es genüsslich gedehnt aus) »hat damals auch hochnäsig bedeutet, wird aber heutzutage mehr im Sinne von eingebildet verwendet«. Auf der Stirn des Schlipsträgers machte sich eine Zornesfalte bemerkbar, umrahmt von winzigen Schweißtröpfchen.

»Ursprünglich geht es auf das lateinische „arrogans“ gleich anmaßend zurück«, fügte Melzick strahlend hinzu.