Das Gorbatschow Vermächtnis

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Kapitel 2

Fred fühlte sich nach seiner Doppelschicht frischer als üblich. Er gratulierte sich zu seiner Spürnase.

Üblicherweise ertappte sein Fernglas Mitarbeiter von Fremdfirmen, die sich heimlich Rauchpausen gönnten oder heimlich ausgetauschte Zärtlichkeiten. An besonders aufregenden Tagen schlichen sich Jugendliche auf das Gelände, um ihre Parolen und Logos auf alles zu sprayen, was in ihre Reichweite kam. Fred alarmierte dann mit präzisen Angaben die Kollegen der Hundestaffel und beobachtete, wie die Schäferhunde an ihren Leinen rissen. Ansonsten war der Dienst eintönig und schlecht für die Gelenke. Einmal hatte Fred im Wachhäuschen Sudokus gelöst und war prompt erwischt worden. Sein Vorgesetzter, ein junger Schnösel, hatte ihm einen langen Vortrag über Pflichterfüllung, Stolz und Kündigungsgründe gehalten. Fred hatte genickt und ein reuevolles Gesicht aufgesetzt. Zwei Monate und viele Stunden am Fernglas später, hatte er bei dem Mann eine Fahrzeugkontrolle vorgenommen und ein Bündel Elektronikersatzteile im Kofferraum gefunden. Trotz aller Drohungen und Proteste hatte er die Flughafenleitung informiert und den Mann solange festgehalten, bis die Polizei eintraf. In der Wartezeit hatte Fred seinem Vorgesetzten einen gut vorbereiteten Vortrag über Pflichterfüllung, Stolz und Kündigungsgründe gehalten.

Und jetzt die gute alte Rose. Fred schob sein Fahrrad an und machte sich auf den Heimweg zu seiner kleinen Wohnung. Mit Rose war das so eine Sache. Sie war eigentlich immer nett und machte die kleinen Scherze mit, die Fred sich ausdachte, um sich die Zeit zu verkürzen. Beileibe nicht jeder hatte so einen Sinn für Humor.

Fred verfluchte den Verkehr, der immer dichter wurde und die unverschämten Fußgänger, die den Fahrradweg besetzten.

Außerdem brachte ihm Rose immer eine Kleinigkeit mit. Fred hatte so eine Ahnung, dass die Donuts und Zigarillos eine Kompensation dafür waren, dass er an solchen Tagen nicht den Kofferraum öffnete. Er selbst hatte das Gerücht gestreut, dass er auf eine Kontrolle verzichten würde, wenn eine kleine Aufmerksamkeit angeboten würde. Was war schon dabei. Es lag in seinem Ermessen, was er wann kontrollierte. Schon als Polizist hatte er das System begriffen und zur Zufriedenheit aller angewandt. Leben und leben lassen. So lief das. Und es lief gut. Jedenfalls bis diese gelackten Affen von den internen Ermittlungen auftauchten und ihm heimlich aufgenommene Videos vorspielten. Das war das Ende seiner Karriere und die Verstoßung aus dem Paradies.

Fred trat kräftiger in die Pedale. Touristen dachten immer, London sei flach wie eine Scheibe. Dabei war die Stadt eine Berg- und-Tal-Bahn. Eine dunkle Limousine raste durch eine Pfütze. Fred fluchte und machte eine obszöne Geste. Verdammte Stadt, verdammtes Wetter, verdammter Job!

Aber vielleicht konnte man aus der Sache mit Rose mehr herausholen als gedacht. Die stille, unscheinbare Rose. Immer so fleißig und folgsam. Ja, folgsam. Was würde sie ihm anbieten, wenn er sie unter Druck setzen und dann lieb zu ihr sein würde? Eintrittskarten für Arsenal? Eine kleine Jagd durch die Betten?

Fred hörte auf zu treten. Er hatte eine brillante Idee. Er würde Rose in väterlichem Ton anbieten, bei der Sache mitzumachen. Er würde bluffen. Rose hatte etwas laufen. Vielleicht etwas Großes. Sie hatte etwas geschleppt und war danach nur mit ihrem Putzzeug aufgetaucht. Schmuggel, vermutete Fred. Ein Netzwerk. Es war ihm egal. Leben und leben lassen. Es war alles viel einfacher, wenn man einen verlässlichen Mann am Eingangstor hatte. Einen Mann, der wusste, wann er wegschauen musste. Dafür sollte ein kleiner Anteil drin sein.

Fred fühlte wie seine Stimmung stieg. Beschwingt bog er in die Straße ein, die ihn aus dem Verkehr befreien und zu seiner Wohnung führen würde.

Fred begann ein Lied zu pfeifen. Das hatte er seit einer Ewigkeit nicht mehr getan. In seiner Vorstellung wurde der Anteil größer und größer. Er würde sich endlich wieder ein Auto leisten können und auch die Reise nach Frankreich, die seit Jahren fertig geplant auf seinem Wohnzimmertisch lag.

Der Zusammenstoß kam wie aus heiterem Himmel. Fred stürzte über den Bordstein und versuchte sich mit den Händen abzufangen. Seine Hüfte protestierte. Noch bevor sich Fred orientieren konnte, beugte sich die junge Frau in der papageienhaft farbigen Kluft eines Fahrradkuriers über ihn.

„Oh mein Gott, haben Sie sich verletzt?“ Die Stimme war hoch und ohne erkennbaren Akzent. Fred fühlte einen neuen Schmerz dicht über seinem Knöchel. Er ächzte. Eine weiche Hand strich ihm über das Gesicht. „Bleiben Sie liegen. Ich hole Hilfe. Es war meine Schuld. Ich bin zu schnell eingebogen und konnte die Spur nicht halten.“ Fred drehte seinen Kopf. Er sah eine schmale Schulter, die mit grünem Stoff bespannt war und ein Stück Fahrradhelm. Übelkeit wusch über ihn hinweg. Noch einmal zwang er sich, hinzusehen. Braune Augen mit Goldtupfen, dachte Fred verwundert, bevor sich das Gesicht wegdrehte. Freds Herz stolperte und es fiel ihm schwer Atem zu holen. Er würde unbedingt einen Arzt aufsuchen müssen, bevor er die Reise nach Frankreich unternahm, war Freds letzter Gedanke, bevor er starb.

Der Fahrradkurier war verschwunden. Niemand hatte den Vorfall beobachtet. London hatte andere Probleme.

Das Internet transportierte die verschlüsselte Nachricht über Freds Exekution nur wenige Minuten später.

Kapitel 3

Moskau – drei Jahre nach dem Augustputsch 1991

Generalleutnant Ostrowski stemmte sich gegen den Wind, der Moskau den nahenden Winter verkündete. Die Choroschowskoje Chaussee war von fast kahlen Bäumen gesäumt, die erst im nächsten Jahr wieder zaghaftes Grün tragen würden. Jetzt schienen sie Vorboten einer kargen Zeit zu sein, einer Zeit vergangenen Glanzes. Die wuchtigen Bauten an den Straßenrändern waren noch immer beeindruckend, aber man merkte den prächtigen Fassaden an, dass sie schon bessere Zeiten gesehen hatten.

Ostrowski machte den Zerfall der Sowjetunion an den Fahrzeugen fest, die die Straßen Moskaus verstopften. Westimporte. BMW und Mercedes waren Statussymbole. Immer öfter sah man auch die riesigen SUVs, die ohne Respekt und Rücksichtnahme vorwärts pflügten. Die Verkehrspolizisten mit ihren unverkennbaren schwarz-weißen Stöcken hielten sich respektvoll zurück, wenn sich Fahrer mit blau und rot flackernden Lichtern und Sirenen näherten. Auch das ein Phänomen der neuen Zeit, in der Privatleute staatliche Hoheitssignale gebrauchten, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. ,Businessman‘ war das neue Schlagwort und ,Neue Russen‘, die sich mit einem über Nacht erworbenen sagenhaften Reichtum alles kauften – Landsitze, Flugzeuge, Politiker und Beamte. Die russische Seele war vergiftet worden und gierte nach Konsum und billigem Glück. Die Autos waren ein Gradmesser für den Werteverfall. In den Seitenstraßen und Vierteln mit den riesigen Wohnblocks, deren Balkone bröckelten, regierte die Hoffnungslosigkeit. Die Renten reichten nicht für das Existenzminimum, Familien zerfielen, Wodka übernahm die Rolle des Trösters. Die Neue Russische Föderation war ihrer Kornkammern, ihrer Häfen und Bodenschätze beraubt. Die industrielle Produktion strebte einem Nullpunkt entgegen, während Spekulanten und Finanzhaie Banken gründeten, Gewinne mit Immobiliengeschäften machten und sich Schlüsselindustrien für lächerlich kleine Summen unter den Nagel rissen. Das Land lag im Koma und wurde von westlichen Konsumgütern überflutet. Das Vaterland war besiegt. Besiegt von den Flüchen ,Glasnost‘ und ,Perestroika‘, die als russische Errungenschaften vermarktet wurden und doch Ausgeburten des Niedergangs waren. Die Gesundung würde einen radikalen Kurswechsel erfordern, wenn überhaupt noch eine Gesundung möglich war.

Die KPdSU hatte ihren Auftrag verraten, das Politbüro war vor Reformern in die Knie gegangen, die Institutionen und Stützen der großen Sowjetunion hatten kapituliert, die Armee war ein armseliger Haufen mit einer veralteten Ausrüstung und ohne Moral. Dies war die Stunde des Gorbatschow Vermächtnisses. Mit Jelzin war es noch schlimmer gekommen. Russland blutete aus und verkaufte nach seiner Seele auch seinen Reichtum.

Der Generalleutnant sah sich nach dem Verwaltungsblock um, aus dem er gekommen war. Russlandtreue Kräfte, Patrioten hatten sich getroffen, um eine vaterländische Rettungsidee zu entwickeln. Aber Ostrowski erschien die Initiative schwach und unkoordiniert. Alle hatten darin übereingestimmt, dass die letzten zehn Jahre rückgängig gemacht werden mussten. Ein Provinzpolitiker schwadronierte von einem Umsturz und dem Wiederaufleben der Atommacht Sowjetunion. Andere forderten die Rückkehr hinter den Eisernen Vorhang, um Kräfte zu schöpfen und den westlichen Einfluss zurückzudrängen. Für Ostrowski, der mit jedem einige ermunternde Worte wechselte, und sich im Übrigen zurückhielt, bot die Versammlung einen erbärmlichen Anblick. Die Netzwerke der Macht waren längst in andere Hände gelangt. Die Entscheidungen lagen bei jungen Technokraten, die an den Eliteuniversitäten der USA studiert hatten und ohne Loyalität zu ihrem Land aufgewachsen waren. Die alten Haudegen des Warschauer Paktes, die Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges gegen die Nazihorden, die Protagonisten einer Systemalternative zu dem marktwirtschaftlichen Chaos, das die Demokratisierung Russlands mit sich gebracht hatte, hatten aufgegeben. In Scharen waren sie zu jedem übergelaufen, der sie bezahlte. Sie waren zu Wissenschafts- und Waffensöldnern geworden, weil das Vaterland sie ausgespuckt und vernachlässigt hatte.

Ostrowski beugte sich hinunter zu einem Mütterchen, das auf dem Gehsteig kauerte und bittend eine Tasse mit Sonnenblumenkernen feilbot. Alte Frauen wie diese sah man häufig wie Kehrichtbündel an den Ecken und vor den prächtigen Auslagen der Kaufhäuser sitzen. Ihre Augen waren leer und ihre Pose erstarrt. Die Fußgängerströme zogen vorbei, ohne die Ausgestoßenen zu beachten. Nur hier und da regte sich Mitleid und eine barmherzige Hand warf einer Hockenden ein paar Rubel zu. Das waren russische Rentnerinnen, Witwen, die die neue Zeit zu Bettlerinnen gemacht hatte. Einige von ihnen trugen Medaillen und Ehrenzeichen an ihren zerschlissenen Mänteln. Sie hatten ihre Männer und Söhne im Krieg verloren und selbst mit der Waffe gekämpft, bevor sie das Land wieder aufbauten.

 

Ostrowski streichelte die faltigen Wangen des Mütterchens und steckte ihr gefaltete Geldscheine zu. Ihren gemurmelten Dank konnte er nicht mehr verstehen. Er war in Gedanken. Er musste eine Entscheidung treffen.

Das letzte Mal, als er eine Entscheidung traf, hatte sich sein Leben zum Schlechten gewendet. Sein Vater, ein harter Mann mit ehernen Prinzipien, hatte seinen Sohn frühzeitig auf eine Karriere im Militär vorbereitet. Die Atmosphäre im Elternhaus des Jungen war kalt und distanziert gewesen. Der Vater hielt nichts von dem, was er ,Verzärtelung‘ nannte und erst viel später, als der Junge zum Mann geworden war, dämmerte es ihm, dass ihn sein Vater dafür verantwortlich gemacht hatte, dass die Mutter die Familie verließ, nachdem sie den Knaben auf die Welt gebracht hatte. Die Militärakademie hatte ihn geschliffen und geprägt, hatte ihn Verantwortung und Entbehrung, Ehre und Pflichterfüllung gelehrt. Viele seiner Kameraden gliederten sich in die Ränge der Armee ein, aber der junge Ostrowski zeigte mehr Ehrgeiz. Als der Militär-Nachrichtendienst GRU auf ihn aufmerksam wurde, zögerte der Kadett keinen Augenblick. Er absolvierte das harte Training der Kommandoeinheit für unkonventionelle Kriegsführung und Terrorismusbekämpfung, Speznas, klaglos und glaubte mit Hingabe an den Wahlspruch: ,In Euren ruhmreichen Taten liegt die Größe des Vaterlandes‘. So wurde der junge Ostrowski Teil der Hauptverwaltung für Aufklärung und ein Rad im ,Alles sehenden Auge‘. Schon bald machte er in der Verwaltungsebene Europa von sich reden.

Ostrowski entschloss sich, noch einige Stationen mit der Filjowskaja Linie der U-Bahn zu fahren. Eine Touristentraube blockierte die Treppe und bestaunte die Pracht des U-Bahn-Schachtes, der eher an ein italienisches Opernhaus als eine U-Bahn-Linie erinnerte. Die Luft war abgestanden und schmeckte auf der Zunge nach Rauch und dem Abrieb von Bremsbelägen.

Bis zum Sommer 1991 verfolgte Ostrowski einen geradlinigen Karriereplan. Er reiste viel, tat sein Möglichstes für sein Land und brachte Ordnung in sein Privatleben. Mit Anna war eine Frau an seiner Seite, die der Musik und den Künsten zugetan war. Sie hatte sich im Musikstudium dem Fagott als Hauptinstrument gewidmet und zusätzlich Kunstgeschichte an der Lomonossow-Universität belegt. Es störte sie nicht, dass sie als Lehrerin ein dürftiges Gehalt bezog. Es störte sie auch nicht, dass sie mit ihrem Mann, einem jungen Offizier des GRU, ein ehemaliges Gartenhaus im Chystye Prudy Seendistrikt Moskaus beziehen musste, weil die Appartements in den Satellitenvorstädten ihre finanziellen Möglichkeiten überschritten. Das junge Paar richtete sich ein, isolierte die Wände und heizte mit dem alten Kohleofen. Nach und nach modernisierten sie ihr Heim. Sie hielten aneinander und an ihren Idealen fest. Das genügte. Es genügte den meisten. Nur der Wunsch nach einem Kind blieb unerfüllt. Dann dämmerte die neue Zeit heran.

Ostrowski hatte eine Bilderbuchkarriere gemacht und sein privates Glück gefunden, doch der Zustand der Sowjetunion bekümmerte ihn. Die neuen Töne aus dem Politbüro schürten Erwartungen. Die Erwartungen rüttelten am stabilen Fundament der Republiken. Überall bildeten sich Risse. Vor langer Zeit geschmiedete Allianzen drohten zu zerbrechen und riefen Gegenkräfte auf den Plan.

Der Generalleutnant war wiederholt ins Verteidigungsministerium zitiert worden. Überall auf den Fluren tuschelte man. Die zweite Riege hinter Gorbatschow sah ihre Zeit gekommen. Ostrowski beschloss abzuwarten, als die Nachrichten verkündeten, Gorbatschow habe während seines Krimurlaubs beschlossen, aus gesundheitlichen Gründen zurückzutreten.

Der Putsch war halbherzig gewesen und dilettantisch vorbereitet. Das Militär und die Paramilitärischen Einheiten der Geheimdienste verweigerten den Gehorsam. Jelzin schwang sich zum Retter der Nation auf und demontierte Gorbatschow unter dem Deckmantel der Solidarität. Glasnost und Perestroika regierten das Denken und Handeln. Unabhängigkeit und Demokratisierung waren Vorläufer der Privatisierung. Das Sowjetreich war den Raubrittern zum Opfer gefallen.

Als man Ende 1991 Ostrowski erneut vorlud, ahnte er nicht, dass er entlassen werden sollte. Eine Säuberungswelle ging durchs Land. Russland hatte diese Wellen schon oft erlebt. Ostrowski hatte nicht gespürt, dass etwas gegen ihn im Gange war. Man warf ihm vor, ein enges Vertrauensverhältnis zu dem Armeegeneral Warennikow, dem ehemaligen stellvertretenden Verteidigungsminister, einem der Putschisten, unterhalten zu haben. Es gäbe Belege, dass Ostrowski Teil der Verschwörung gewesen sei. Er sei dazu ausersehen gewesen, den GRU auf der Seite der Putschisten in Stellung zu bringen. Man halte ihm zugute, dass er in letzter Sekunde gezögert habe. Deswegen werde er nicht inhaftiert und erhalte eine gekürzte Pension. Das zu unterzeichnende Schriftstück liege vor ihm auf dem Schreibtisch. Er habe 60 Sekunden, sich zu entscheiden. Danach erlösche das Angebot und man sei gezwungen, andere Mittel anzuwenden.

Ostrowski hatte den gelangweilt wirkenden Technokraten angesehen und nach dem Füller gegriffen. Er war nur zu gut mit der Maschinerie vertraut, um nicht zu wissen, dass sein Schicksal beschlossene Sache war. Man händigte ihm die bereits ausgefüllte Versetzung in den Ruhestand aus. Sein Schreibtisch sei geräumt und die persönlichen Dinge seiner Frau zugestellt worden. Alles Weitere könne er einem Schreiben entnehmen, das ihm in den nächsten Tagen zugehe. Generalleutnant Ostrowski war 56 Jahre alt, als er der Sowjetunion in den Untergang folgte.

Es folgte eine Zeit der Stille. Anna fragte nicht. Sie konnte die Wahrheit in dem Gesicht ihres Mannes lesen. Seine innere Unruhe bekämpften sie mit langen Spaziergängen und Theaterbesuchen. Freunde waren ihnen kaum geblieben, denn Männer wie Ostrowski galten als ansteckend. Anna nahm mehr Privatschüler für den Fagottunterricht an als üblich. Sie sagte, dass ihr die Arbeit Spaß mache, aber Ostrowski kannte den wahren Grund und er schämte sich, dass seine Pension für den Lebensunterhalt nicht ausreichte.

Der völlige Zusammenbruch kam, als Jelzin seinen Gefolgsmann Luschkow auf den Bürgermeisterposten für Moskau hob. Luschkow hatte Macht, Pläne und Gier im Übermaß. Und er hatte Jelena Baturina zur Frau, die innerhalb kürzester Zeit zur ungekrönten Zarin der Bauunternehmer aufstieg. Das Privatvermögen des Paares schnellte in astronomische Höhen.

Die Männer der Stadtverwaltung, die Ostrowski besuchten, machten wenig Umschweife. Man benötige das Stück Land der Ostrowskis für eine wichtige Baumaßnahme. Die Entschädigungssumme sei bereits festgesetzt. Das Ehepaar erhalte eine Ersatzwohnung im 8. Stock eines Plattenbaus außerhalb von Moskau. Bei einer Weigerung drohe die Enteignung und Räumung.

Ostrowski widersetzte sich zum ersten Mal in seinem Leben einer behördlichen Anordnung.

Als zehn Tage später der Schlägertrupp das zerstörte Haus am See verließ, griff man Ostrowski schreiend und blutüberströmt im Park auf. Er rammte seinen Schädel immer wieder gegen den Stamm einer Trauerweide, bis man ihn überwältigte und sedierte. Im Haus fand man Anna. Jedes Leben war aus ihren Augen gewichen. Man konnte nicht feststellen, wie oft sie vergewaltigt worden war.

Die Behörden kümmerten sich um alles. Ostrowski wurde in ein Militärkrankenhaus verlegt und ruhiggestellt. Anna erhielt einen Platz in einer psychiatrischen Klinik für Traumapatienten. Die Polizei beeilte sich als Ermittlungsergebnis mitzuteilen, dass eine Bande verrohter Jugendlicher für den Überfall verantwortlich sei. Sogar der Bürgermeister Luschkow erwähnte den Vorfall in einer Pressekonferenz und verlieh seiner Abscheu vor der ,barbarischen Tat‘ Ausdruck. Er kündigte an, dass seine Ehefrau Jelena Baturina aus menschlicher Anteilnahme beschlossen habe, das verwüstete Grundstück zum Doppelten des Schätzpreises zu übernehmen.

Seither war Ostrowski auf der Suche. Auf der Suche nach der großen Lösung. Die neue Wohnung in der Plattenbausiedlung war unmöbliert geblieben. Ostrowski benötigte keine Möbel. Er brauchte ein neues Leben. Ein neues Leben und Anna, die einen Stoffhasen umklammert hielt und ängstlich vor ihm zurückwich, wenn er leise mit ihr sprach.

Ostrowski verließ die U-Bahn. Er zündete sich eine Zigarette an. Die Erste seit mehr als zwanzig Jahren. Er verschluckte sich und hustete. Er würde tun, was er tun musste. Er hatte sich entschieden; entschieden für ein neues Leben. Er würde Anna nicht zurücklassen. Das war er ihr schuldig. Ostrowski drückte die Zigarette aus.

Zwanzig Minuten später gingen die ersten Fahndungsaufrufe bei den Dienststellen der Polizei ein. Gesucht wurde ein pensionierter GRU-Offizier, der soeben seine Frau erschossen hatte. Doch Ostrowski blieb verschwunden.

Kapitel 4

London lag friedlich eingebettet im Herzen Englands und lebte seine Mixtur aus der vergangenen Größe eines weltumspannenden Empires und dem pulsierenden Finanzdistrikt, der sich geschickt gegen jeden Regulierungsversuch wehrte. London war ein Sinnbild für royale Pracht, für Tradition und für das Beharren auf einem eigenen Weg. London unterschied sich wie eine geschmückte Festung vom europäischen Festland. London war anders. War es schon immer. Es verkörperte England.

Der Schock war unvorstellbar. Und er hielt an. Er verdoppelte sich von Minute zu Minute und jagte wie ein apokalyptischer Reiter um den Erdball. London hatte den Nordmännern, den Nazis und dem Euro getrotzt. Es hatte Eroberer hochmütig abgewiesen und sich jedem neuen Trend versagt. Es war ein Wahrzeichen für Stabilität und eine Trutzburg für gelebten Widerstand. Terroristische Anschläge und Finanznot hatten es nicht aus dem Gleichgewicht bringen können. London war unverwundbar. Bis jetzt.

Als die dickbäuchige Transportmaschine vom Himmel fiel, dachte man an ein tragisches technisches Versagen. Eine Gruppe Schulkinder und ihr Lehrer hatten vom Pausenhof ihrer Schule beobachtet, wie die Maschine, aus Stansted kommend, ihr Fahrwerk einzog, dann eine Kurve beschrieb, sich schüttelte und kippte, in der Luft um Kontrolle kämpfte, als habe sich eine unsichtbare Riesenfaust um den Rumpf geschlossen und dann mit einem kreischenden Geräusch aus dem Sichtfeld verschwand.

Ein Liebespaar aus Nancy, das in London seine Flitterwochen verbrachte, hätte die Szenerie mit seiner freien Sicht aus einer der Glasgondeln des ,London-Eye-Riesenrades‘ an der Themse anders dargestellt. Georgette und Karim hielten Händchen und wisperten verliebte Dinge, als das wuchtige Flugzeug abhob. Es war Georgette, die den Lichtblitz sah. Einen grellen, wabernden Blitz, als habe ein Elektrizitätswerk seine gesamte Kapazität in eine gewaltige Ladung gesteckt, die über die Stadt pulsierte. Als Karims Augen dem aufgeregten Finger Georgettes folgten, sahen sie die schräg nach unten weisende Schnauze eines Riesenflugzeugs und brennende Teile, die sich wie eine Leuchtspur über die Dächer Londons ergossen. Karim und Georgette hätten das Kreischen der Triebwerke bestätigt und die unnatürlichen Flugbewegungen, die wie Todeszuckungen eines Rieseninsektes aussahen. Doch Karim und Georgette konnten mit ihrer Aussage nicht zur Klärung des Phänomens beitragen. Eine Tragfläche und Teile des Triebwerks einer Passagiermaschine aus Singapur streiften das Riesenrad und amputierten es. Das ,London Eye‘ protestierte noch eine halbe Umdrehung lang, bevor es sich mit berstenden Metallstreben neigte und in die Themse stürzte. Georgette und Karim waren zu diesem Zeitpunkt nicht mehr am Leben. Nur ihr Peugeot stand unversehrt auf dem nahen Parkplatz und wartete. Aus dem Himmel regneten Passagiere des Singapur Airlines Fluges und durchschlugen in weitem Umkreis die Dächer von Wohnungen und Kaufhäusern.

Die japanische Reisegruppe in der ehrwürdigen National Gallery applaudierte, als in ihrem Rücken der Säulengang mit einem gewaltigen Ächzen einstürzte. Eine Staubwolke schob sich über den Trafalgar Square und hüllte die Insignien der glorreichen Vergangenheit Englands in ein undurchdringliches Grau. Die Japaner aus Osaka waren auf einem Europatrip der zehn größten Sehenswürdigkeiten und hatten zuvor einen Aufenthalt im Disneyland in Paris genossen. Sie waren erschrocken gewesen, als eine waghalsige Fahrt in einer Wasserrinne damit endete, dass eine Brücke unter ihnen kollabierte. Dann zogen sich die Wasser zurück und die Brücke richtete sich wieder auf. Erst als jetzt ein Servierwagen wie ein Geschoss durch die Decke des Museums brach und zwei Besucher unter sich begrub, brach Panik aus.

 

Verwackelte Handyfilme und Amateurschnappschüsse zeigten, wie sich eine weitere Maschine durch Lambeth pflügte und einen Feuersturm auslöste. Marleybone und Belgravia schienen zu brennen. Ein Flugzeug war auf freiem Feld niedergegangen. Den Piloten schien es gelungen zu sein, die Maschine in einen kontrollierten Sinkflug zu bringen und zu landen. Bei der Notlandung zerbrach die Maschine in drei Teile und fing Feuer. Ein kleines Häuflein Passagiere und Besatzungsmitglieder konnten sich retten. Wie betäubt warteten sie auf Hilfe, während aus dem Gerippe des Flugzeugs Qualm und Flammen schlugen. Ein älterer Mann mit einer klaffenden Stirnwunde durchsuchte den Berg von Koffern, der aus dem Laderaum geschleudert worden war. Laute Selbstgespräche führend, zerrte er Rollkoffer um Rollkoffer aus der deformierten Masse. Im gesamten Großraum London hallten die Sirenen. Rauchsäulen stiegen auf.

Der Financial District der Square Mile war wie ein Wunder von der großen Zerstörung verschont geblieben. Nur brennende Kleiderfetzen und der Gestank nach Ruß und Kerosin wehten durch die Straßen. Ein Devisenhändler, der auf der Dachterrasse eines Bankgebäudes ein heimliches Telefonat mit seiner Geliebten führte, beschrieb mit fahriger Gestik, dass im Norden der Stadt zwei Flugzeuge kollidiert seien. Er habe es gesehen wie von einem Logenplatz aus. Die Bilder hätten sich in sein Gedächtnis gebrannt. Die größere Maschine sei aus den Wolken auf die kleinere herabgestürzt wie ein Raubvogel. Genau wie ein Raubvogel. Dabei hätten die Triebwerke geheult und bläulicher Qualm sei aufgestiegen. Das kleinere Flugzeug habe keine Chance gehabt. Es sei zerborsten, so wie man Eier aufschlägt. Menschen seien wie Miniaturspielzeug aus dem Gewirr von Kabeln und gerissenem Metall herausgefallen. Sie hätten mit Armen und Beinen gerudert. Zwischen ihnen Gegenstände, als habe der Teufel seine Puppenstube ausgeleert. Schlimm sei es gewesen, entsetzlich. Wie bei den Fernsehbildern von 9/11, als sich die Menschen aus den Fenstern der Zwillingstürme stürzten. Irgendwie surreal habe es gewirkt. Wie die Komposition einer höheren Macht, die eine Leinwand mit dem Tod aus dem Himmel über der Stadt ausbreitet. Ganz besonders schrecklich sei gewesen, dass man die Menschen nicht habe schreien hören. Nur das Brausen und Kreischen der Katastrophe, aber kein Laut von den Herabfallenden. Er habe nicht akzeptieren können, dass das, was sich vor seinen Augen abspielte, real war. Nicht ohne Schreie. Den Rest habe er nicht mehr gesehen. Er habe sich geduckt, habe sich die Fäuste auf die Ohren gepresst und die Augen geschlossen, so fest er konnte. Seine Beine hätten nachgegeben und später habe er die Treppe nicht mehr gefunden.

Was noch merkwürdiger war, fiel erst auf, als das brennende London nach einem langen Moment der Starre wieder Atem holte. Fast alle elektronischen Systeme waren von London bis zu den Midlands, den Bädern Südenglands und den Industrierevieren des Nordens ausgefallen. Das Internet war aufgeflackert und erloschen. Die Telekommunikation blieb gestört. Gespräche brachen ab und Notrufe waren tot. In den Finanzzentralen der Banken und der Börse herrschte Ratlosigkeit. Tausende von Notknöpfen wurden in den Fahrstühlen gedrückt, ohne ein Signal auszulösen. Das ganze Land war mit apokalyptischen Vorzeichen gebrandmarkt.

Erst als der nationale Notstand ausgerufen wurde und die Armee gegen Plünderer einschritt, ebbte auch die Massenflucht ab, die zu einem Verkehrsinfarkt im Großraum London geführt hatte. Die Wiederherstellung der Kommunikationsinfrastruktur und die Bergung und Versorgung der Opfer waren vordringlich. Bilder von zerstörten Häusern, Flugzeugteilen, rauchenden Trümmerwüsten und Leichenteilen flimmerten weltweit über die Fernsehschirme.

Die Nachrichtenlage war verworren. Nach ersten Schätzungen ging man von 10 000 bis 15 000 Toten aus. Die Zahlen variierten von Quelle zu Quelle. Nachrichtensender meldeten erste Festnahmen. Von einem terroristischen Anschlag nie gekannten Ausmaßes war die Rede. Gerüchte über eine im Luftraum über London gezündete Neutronenbombe machten die Runde. Politiker riefen die Bevölkerung dazu auf, zuhause zu bleiben, die Fenster zu schließen und Wasser nur aus Flaschen zu konsumieren. Schutzkleidung und Atemmasken kamen zur Verteilung. Zehntausende internationaler Journalisten versuchten über die gesperrten Häfen Englands ins Land zu kommen. Wer keine seriösen Nachrichten hatte, griff zu den Schlagworten ,Islamistischer Terror erreicht England‘. Verdächtigt wurden auch der Iran, Nordkorea und alle Randgruppen, die das Internet als gefährlich und skrupellos genug einstufte. Mahnende Stimmen und wissenschaftliche Analysen, die von einem seltsamen elektromagnetischen Puls großer Stärke sprachen, gingen ungehört unter.

Die Börsen kollabierten und der Flugverkehr wurde vorübergehend eingestellt. Religiöse Gruppen mahnten zu Buße und Umkehr, denn der Tag des großen Krieges Gottes sei gekommen. Niemand übernahm die Verantwortung für die Vorkommnisse.

Die Opferlisten wurden täglich um neue Namen ergänzt. Unter den ersten Namen fand sich Fred Compton, ein Flughafenwachmann. Der Totenschein stellte als Todesursache ,Herzinfarkt‘ fest.