Heinrich von Kleist

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Aus der Reihe: Oberta #210
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KLEISTS UNERREICHBARES IDEAL PENTHESILEA. EINE BELEUCHTUNG DES BEGRIFFS DER PERFORMATIVITÄT

Morton Münster

Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Performativität steht wohl wie kein anderer Begriff so sehr für das Zusammenspiel von Sprache und Handlung, ja Sprache wird Handlung. Dennoch oder gerade wegen seiner Bekanntheit muss man ihn klären. Seit John L. Austin 1955 in Harvard in seiner Lesung How to do things with words, die 1962 posthum in erster Auflage veröffentlicht wird, das Performative der Sprache erklärt, hat sich der Begriff der Performativität innerhalb verschiedener Disziplinen gewandelt. Austin sieht ihn noch als Abgrenzung und Gegenpart zum Konstativen, das sich mit den Qualitäten ‚wahr’ und ‚falsch’ beschreiben lässt. Das Performative hingegen definiert er anfangs folgendermaßen:

– they do not «describe» or «report» or constate anything at all, are not «true or false»; and

– the uttering of sentence is, or is a part of, the doing of an action, which again would not normally be described as, or as «just», saying something (Austin 1975: 5).

Als eingängiges Beispiel zur Veranschaulichung des theoretisch Umrissenen referiert Austin auf die Schiffstaufe: «I name this ship the Queen Elisabeth» (1975: 5) geäußert in dem Moment, wenn die Flasche am Schiff zerschellt. Später integriert er das Performative in eine Theorie, die auf Lokution, Illokution und Perlokution aufbaut, was danach Searle weiter ausbaut. Mit dem illokutionären Akt, der performatives Potenzial aufweist, ist quasi ein Grundstein gelegt für eine Handlungstheorie der Sprache. Denn der performative Akt ist jener, der mit der sprachlichen Äußerung die Welt ändert und nicht wie das Konstative mit der Sprache die Welt abbildet.

In der Nachfolge auf Austin und Searle hat sich der Begriff des Performativen vom rein Sprachphilosophischen emanzipiert und auch in die Literatur- und Kulturwissenschaft eingebracht. Dabei seien besonders die Arbeiten Erika Fischer-Lichtes für den Bereich der Theaterwissenschaft hervorzuheben, da das Dramatische ein besonders eindrucksvolles Extrem des Performativen ist, denn das Theater stellt ein selbstreferenzielles System dar so wie auch der performative sprachliche Akt selbstreferenziell ist. Das Bemerkenswerte am Theater ist daher, dass in gewissem Maße auch eigentlich konstative Akte zum Performativen erhoben werden, indem sie auf der Bühne (als systemimmanenter selbstreferenzieller Raum) in Echtzeit ablaufen und sich als sprachliche Handlung darstellen. Der Satz: Dies ist eine schöne rote Rose, mit dem der Schauspieler auf eine tatsächliche rote Rose verweist (oder nicht) beschreibt nicht nur die Welt in einer Wort-auf-Welt-Ausrichtung, er erschafft in dem Moment auch die Welt innerhalb der Bühnenrealität.

Innerhalb der Narrativik allerdings muss eine Wandlung des Begriffs des Performativen und der Handlung geschehen. Denn das Narrative berichtet von Handlung und vollzieht diese nicht aktuell wie das Theater sondern virtuell (Coseriu). Es wird also mindestens eine Ebene, die des Erzählens, vorgeschaltet. Der Leser erfährt nicht wie der Zuschauer im Theater eine direkte, also unmittelbare, Handlung. Ihm wird berichtet, was geschah oder es wird berichtet, wie berichtet wurde, was geschah usw.

In Kleists Drama Penthesilea erleben wir bezüglich der eben getroffenen Ausführungen zur Performativität und Narration ein scheinbares Paradoxon. Mit dem Genre Drama erwarten wir unmittelbare Handlung gepaart mit sprachlicher Handlung. Genauer gesagt, Sprache, die sich als Handlung in die Gesamthandlung integriert. Die Unmittelbarkeit der Handlung, die der Zuschauer erfährt ist eigentlich charakteristisch für das dramatische Spiel. Mit dem Wort ‚eigentlich’ wurde die Qualität der Definition bereits eingeschränkt. Denn wollen wir behaupten, dass Penthesilea kein Drama ist, wenn die Unmittelbarkeit der Handlung aufgrund des Narrativen dort eingeschränkt ist?

Damit gelangen wir zu folgender Annahme: Die Unmittelbarkeit der Handlung ist zu Gunsten der sprachlichen Mitteilung in Kleists Drama Penthesilea eingeschränkt. Sie ist quasi mittelbar, indem ein Teil des Geschehens in der Form eines Berichts dargestellt wird, so etwa die folgende Passage, in der beschrieben wird, wie Penthesilea Achill tötet und unkenntlich macht:

Sie zog dem Jüngling, den sie liebt, entgegen,/ Sie, die fortan kein Name nennt - / In der Verwirrung ihrer jungen Sinne,/ Den Wunsch, den glühenden, ihn zu besitzen,/ Mit allen Schrecknissen der Waffe rüstend./ Von Hunden rings umheult und Elefanten,/ Kam sie daher, den Bogen in der Hand: [...] Ha! Sein Geweih verrät den Hirsch, ruft sie,/ Und spannt mit Kraft der Rasenden, sogleich/ Den Bogen an, daß sich die Enden küssen,/ Und jagt den Pfeil ihm durch den Hals; er stürzt: [...] Den Zahn schlägt sie in seine weiße Brust,/ Sie und die Hunde, die wetteifernden,/ Oxus und Sphinx den Zahn in seine rechte,/ In seine linke sie; als ich erschien, Troff Blut von Mund und Zähnen ihr herab (Kleist, 1974 : 243ff.).

Aber wozu führt dieses narrative Element im dramatischen Text? Der Zuschauer sieht das Geschehen nicht in Form einer körperlichen Darstellung, sondern erfährt von diesem Geschehen im Rückblick, mit anderen Worten verzögert bzw. zeitversetzt. Damit wird das Performative in seiner Aktualität entwertet. Dies steht deutlich im Kontrast zu folgendem performativen Akt: Ich erkläre Sie hiermit zu Mann und Frau. Dabei handelt es sich offensichtlich nicht um dasselbe wie in der nachfolgenden Paraphrase, bei der es sich um eine narrative Einbettung handelt: Er erklärte die beiden zu Mann und Frau. Durch diesen Mechanismus der zeitlichen Verschiebung kann eine Performativität im Sinne Austins nicht gelingen, liegt die Veränderung der Welt doch bereits zurück.

Parallel zu dieser Methode des Rückblicks enthält das Drama Prolepsen, in denen die Figuren von ihren Vorhaben berichten. Dass Penthesilea Achill töten wird, kündigt sie bereits zuvor beschwörend an:

Penthesilea: Der Sohn des Peleus fordert mich ins Feld?/ Prothoe: Zum Kampf ja, meine Herrscherin, so sagt ich./ Penthesilea: Der mich zu schwach weiß, sich mit ihm zu messen,/ Der ruft zum Kampf mich, Prothoe, ins Feld? [...] So ward die Kraft mir jetzo, ihm zu stehen:/ So soll er in den Staub herab, und wenn/ Lapithen und Giganten ihn beschützten! (Kleist, 1974: 235).

Bemerkenswerterweise geschieht nachfolgend, was Penthesilea einem performativen Akt gleich zunächst beschwört. Und zwar nicht kraft dargestellter körperlicher Handlung auf der Bühne, sondern kraft ihres Wortes, was sich dem Zuschauer später durch den Bericht offenbaren wird. Dies gilt, und sei an dieser Stelle mit Nachdruck betont, innerhalb der Bühnenrealität.

Eine solche Konstellation der sprachlichen Beschwörung, die später Realität wird, finden wir ebenfalls in Kleists Leben. Und zwar in Form seines inszenierten Doppelselbstmords zusammen mit Henriette Vogel am Kleinen Wannsee bei Berlin am 21. November 1811. Diesen Selbstmord inszenieren die beiden in einem Brief an Ernst Friedrich Peguilhen. Wenn dieser den Brief lese, seien die beiden «in einem unbeholfenen Zustand, indem wir erschossen da liegen» (Soboczynski, 2011: 63). Diese Szene beschreibt Kleist bereits in seiner letzten Erzählung Verlobung in St. Domingo, wobei er dieselbe Wortwahl «unbeholfener Zustand» trifft, was die Parallele verdeutlicht. Von Misstrauen getrieben tötet in dieser Erzählung Gustav zunächst die geliebte Toni, um sich, nachdem sich aufklärt, dass er ihr Unrecht getan hat, selbst mit der Pistole erschießt.

Im Gegensatz zum Drama Penthesilea erfüllt sich aber mit dem Selbstmord Kleists kein performativer Akt, indem kraft der Sprache sich die Welt ändert. Die Gelingensbedingungen, die Fischer-Lichte anführt, sind nicht erfüllt:

Bei den Gelingensbedingungen, die erfüllt sein müssen, handelt es sich entsprechend nicht nur um sprachliche, sondern vor allem um institutionelle, um soziale Bedingungen. Die performative Äußerung richtet sich immer an eine Gemeinschaft, die durch die jeweils Anwesenden vertreten wird. Sie bedeutet in diesem Sinne die Aufführung eines sozialen Aktes. Mit ihr wird die Eheschließung nicht nur ausgeführt (vollzogen), sondern zugleich auch aufgeführt (Fischer-Lichte, 2004: 32).

Der ausschlaggebende Unterschied liegt demzufolge in dem nichtfiktionalen Charakter der Realität. Als Autor herrscht Kleist über dieses Gelingen oder Nicht-Gelingen der Performativität innerhalb seiner erschaffenen dramatischen Realität. Bei seinem inszenierten Selbstmord scheitert er jedoch an den Gelingensbedingungen. Man könnte dies als Entfremdung von der Realität deuten.

Dennoch ist bezeichnend, dass der Wunsch nach Weltveränderung Kleists Werk und Leben durchzieht. Im Leben sehnt er sich nach Ruhm und Anerkennung, was ihm zeitlebens vergönnt bleibt. Der Selbstmord scheint die einzige erfolgreiche Selbstinszenierung in seinem Leben zu sein: quasi das erste Mal, dass ihm etwas, was er sich vornimmt, auch zufriedenstellend gelingt. Diese Sehnsucht nach Erfüllung durchzieht eben auch sein literarisches Werk, wie eben schon in Penthesilea angedeutet. Wunsch und Beschwörung werden dort nicht im Moment der Aussprache auch performativ realisiert zu Handlung, sondern stets zeitversetzt. Dieses Muster können wir auch in Michael Kohlhaas, Das Erdbeben in Chili oder Die Marquise von O... feststellen. Kohlhaas der selbsternannte Vergelter des Unrechts etwa kämpft bis zu seiner Hinrichtung gegen ein ihm durch einen Landesfürsten erfahrenes Unrecht. Nun tritt wiederum zeitversetzt seine einst beschworene Rehabilitation ein, doch eben erst kurz vor seiner Hinrichtung, worin eine gewisse Tragik liegt: ein Erfolg im Scheitern. So wie Kleist selbst sich ein Leben lang gesehen haben mag.

 

Auch in der Erzählung Das Erdbeben in Chili erfüllen sich – innerhalb der Prosafiktion – performative Akte und Beschwörungen zeitversetzt. Der zum Tode verurteilte Jeronimo (man vergleiche dazu den performativen Akt: Ich verurteile Sie hiermit zum Tode) scheitert zunächst, da sich der Unglückliche durch ein apokalyptisches Erdbeben retten kann. Es entsteht eine Art karnevalesker Zustand, in dem sich die Ordnung umdreht, die Herrscher sterben und sich die Überlebenden in den Naturraum begeben und für kurze Zeit in dem evozierten Ideal einer rousseauschen Naturgesellschaft leben. In dem Moment aber, da sie diesen Naturraum für eine neue Realität halten, kehren sie in die Stadt zurück, um Gott für die Rettung zu danken. Die frühere Realität holt sie dort ein. Jeronimo wird von den Überlebenden des Ancien Régime nun nachträglich doch noch in einem öffentlichen Gemetzel vor der Kathedrale hingerichtet.

So können wir auch in der Marquise von O... Zeitversetzungen ausmachen. Dies beginnt mit dem erzählerischen Verschweigen der Empfängnis der Marquise durch den Grafen und endet mit der mehrmals hinausgezögerten Heirat der beiden, mit der die zuvor entstandene und erzählerisch nur angedeutete Schande rehabilitiert werden soll. Die mehrfache Beschwörung zu heiraten, der hinausgezögerte Vollzug lassen sich als gewollte Dehnung oder Verkehrung des Performativen verstehen. Der so oft zuvor vom Grafen beschworene performative Akt des: hiermit erkläre ich Sie beide zu Mann und Frau wird erzählerisch unterlassen. Dem Leser wird später vom Vollzug der Heirat berichtet, wobei die Gelingensbedingungen wiederum verletzt werden. Zwar vollzieht sich später in der Erzählung die Trauung kraft der Worte. Doch muss der Graf zunächst weiter fern der Marquise leben und ist nicht von Familie und Gesellschaft als Ehemann anerkannt, was sich erst mit der Taufe des gemeinsamen Kindes ändern wird.

Dazu im größtmöglichen Gegensatz steht eine Szene aus Penthesilea, die aufgrund der Quantität enthaltener narrativer Anteile als undramatisch scheint. Tatsächlich vollzieht sich dort aber innerhalb der dramatischen Realität ein performativer Akt par excellence. Gemeint ist der Selbstmord Penthesileas kraft ihrer eigenen Worte nachdem sie all ihre Waffen der Prothoe übergibt. Nun schutzlos und scheinbar unbewaffnet spricht Penthesilea und ihre Worte werden im selben Moment zu Realität. Hier gelingt Penthesilea, was Kleist im Leben nur mit Sprache nicht gelingt:

Denn jetzt steig ich in meinen Busen nieder,/ Gleich einem Schacht, und grabe, kalt wie Erz,/ Mir ein vernichtendes Gefühl hervor./ Dies Erz, dies läutr’ich in der Glut des Jammers/ Hart mir zu Stahl, tränk ich es mit Gift sodann,/ Heißätzendem, der Reue, durch und durch;/ Trag es der Hoffnung ewgem Amboß zu,/ Und schärf und spitz es mir zu einem Dolch;/ Und diesem Dolch jetzt reich ich meine Brust:/ So! So! So! Und wieder! – Nun ists gut./ (Sie fällt und stirbt) (Kleist, 1974: 257).

BIBLIOGRAPHIE

AUSTIN, J. L. (21975): How to do things with words, Harvard College.

FISCHER-LICHTE, E. (2004): Ästhetik des Performativen, Frankfurt/Main, Suhrkamp.

KLEIST, H. von (31974): Dramen II, München, Deutscher Taschenbuch Verlag.

SOBOCZYNSKI, A. (2011): Kleist. Vom Glück des Untergangs, München, Luchterhand.

HEINRICH VON KLEIST: SPRACHE, VERSBAU UND REIMSTRUKTUR IN DEN ZEITEN VOR DER ORTHOEPIE*

Macià Riutort Riutort

Universitat Rovira i Virgili (Tarragona)

Bernd Heinrich Wilhelm von Kleist wurde am 18. Oktober 1777 als dritter Sohn des Ehepaares Joachim Friedrich von Kleist und seiner zweiten Ehefrau, Juliane Ulrike von Pannwitz geboren. Mit seiner Geburtsstadt Frankfurt an der Oder verbindet ihn viel: Seine Familie war in dieser Stadt stark verwurzelt, und er selber hat in ihr einen großen Teil seines Lebens verbracht. Damals dürfte die Stadt um die 10.000 Einwohner gezählt haben. Es war somit eine Kleinstadt, die wahrscheinlich weitgehend von der landwirtschaftlichen Umgebung geprägt war.

In Frankfurt an der Oder wurde im Mittelalter Ostniederdeutsch gesprochen. In dieser Zeit hieß die Stadt noch niederdeutsch Vrankenvord. Wie in den meisten Städten des niederdeutschen Sprachraumes ist die Kanzlei der Stadt in der Zeit der Renaissance zum Ostmitteldeutschen (Obersächsischen) übergegangen. Nach den Angaben von Agathe Lasch ist die Verhochdeutschung der Stadtkanzlei relativ früh erfolgt:

Frankfurt aber ist damals nach allen öffentlichen und privaten Äußerungen schon lange eine hochdeutsche Stadt. Von niederdeutscher Geschäftssprache ist dort seit etwa einem Jahrhundert nichts mehr zu spüren. Die Gründung der Universität mit dem Zuzug hochdeutscher Professoren und vielfach hochdeutscher Studenten traf eine Stadt, deren Kanzlei den Übergang längst vollzogen hatte. Der Buchdruck — seit 1502 in Frankfurt nachzuweisen — ist, soweit er nicht lateinisch ist, hochdeutsch. [...]. Frankfurt war aber naturgemäß auch Druckort für Berlin, das bis 1540 keine eigene Druckerei besass. [...]. Wie Frankfurt so ist der ganze Südosten der Mark hochdeutsch. Bis Müncheberg, Fürstenwalde, Beeskow und Storkow, also bis nahe an Berlin heran, läßt sich im 15. Jahrhundert schon hochdeutsche Kanzleisprache nachweisen (Lasch, 1910: 132-133).

Ich gehe davon aus, dass der sprachliche Zustand der Stadt vom ausgehenden 14. Jahrhundert bis nach dem Dreißigjährigen Krieg als einsprachig-diglossisch zu bezeichnen ist: die meisten Bewohner dürften Ostniederdeutsch (Brandenburgisch) gesprochen haben, sich aber des obersächsischen Hochdeutsch als Schriftsprache im amtlichen und im privaten Verkehr bedient haben.1

Wenn wir uns die Entwicklung anderer diglossischer Gebiete im Laufe der Geschichte zum Vergleich heranziehen, so ist zu erkennen, dass sie sich so lange halten, bis ein Störfaktor die vorgegebene Situation verändert. Demnach hätte sich das diglossische Gleichgewicht in Frankfurt an der Oder und anderen Gebieten der Mittelmark wahrscheinlich lange halten können, wenn es nicht durch einen einschneidenden Faktor gestört worden wäre. Dieser Faktor kann in meinen Augen nur der Dreißigjährige Krieg und seine Auswirkungen gewesen sein. Meiner Meinung nach bildete der Dreißigjährige Krieg einen sprachlichen Wendepunkt in der diglossischen Situation der südöstlichen Gebiete der Mittelmark. Man führe sich folgende Fakten vor Augen: Spieker (1853: 219) schätzt die Bevölkerung von Frankfurt an der Oder für die unmittelbare Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg auf 12.000-13.000 Einwohner. Die Volkszählung, die nach dem Krieg zwischen dem 24. Oktober und 3. November 1653 stattfand, ergab laut Spieker (1853: 219) eine Zahl von 2.366 Einwohnern. Diese Zahl gibt eine Vorstellung davon, wie groß die angerichtete Verheerung und Entvölkerung der Stadt durch die Geschehnisse des Krieges waren. Die stark entvölkerten Gebiete wurden teilweise mit hochdeutsch sprechenden Bauern wiederbevölkert. Žirmunskij (1962: 613) schreibt dazu:

Begünstigend wirkte seit der zweiten Hälfte des 17. Jhs. auch die hochdeutsche bäuerliche Siedlung in diesen Gebieten ebenso wie östlich der Oder, die von den brandenburgischen Kurfürsten ins Leben gerufen wurde. Infolge dieser Verhochdeutschung ist die Grenze zwischen dem Niederdeutschen und dem Hochdeutschen östlich der Elbe (angefangen von Magdeburg) außergewöhnlich fließend.

Auch Berner beschreibt diese Situation:

Die nächste, sehr zerstörerische Zeit bildete der Dreißigjährige Krieg, in dem Tod, Entsiedlung und Not auch die Mark Brandenburg prägten. Bis zu 30% der alten Orte wurden wüst. Es waren der Große Kurfürst und seine Nachfolger, die mit einer beispiellosen «Peuplisierung», dem Anwerben neuer Zuzügler (Huge-notten, Juden, Böhmen, Schweizer, Pfälzer u.a.), die Basis für die Entwicklung eines straff organisierten, absolutistischen Staates legten. In dieser Zeit wechselte in der Mark Brandenburg die Schriftlichkeit vom Niederdeutschen zum Hochdeutschen, das zunächst durch das Fränkische, dann durch das Meißnische geprägt war und unter dessen Einfluss sich seit dem 15. Jh. eine regionale Umgangssprache ausbildete, die spätestens seit dem 19. Jh. wiederum stärker vom Berlinischen beeinflusst wird. Heute hat diese die Dialekte weitgehend verdrängt, doch bewahrt der Dialekt sowohl im kulturellen Bereich als auch in familiären Situationen nach wie vor seine Funktion [...] und wird gerade in der jüngsten Vergangenheit wieder durch zahlreiche Initiativen gefördert.

Mit der Verhochdeutschung ihrer südöstlichen Gebiete spaltete sich der mittlere Teil der Mark Brandenburg sprachlich in einen ostniederdeutschen und in einen obersächsischen Teil:2 dies war die Geburtsstunde des ostmitteldeutschen Südmärkischen3 in Opposition zum ostniederdeutschen Mittelmärkischen.4 Innerhalb des verhochdeutschten Südmärkischen pflegt man darüber hinaus zwischen dem Berlinischen einerseits und dem Südbrandenburgischen andererseits zu unterscheiden. Südbrandenburgisch sind u.a. Frankfurt an der Oder, Fürstenwalde, Müncheberg, Eisenhüttenstadt, Beeskow, Storkow und Luckau.5

Diese verhochdeutschten Gebiete heben sich jedoch durch Beibehaltung gewisser niederdeutscher Züge im lexikalischen und phonetischen Bereich vom benachbarten Ostmitteldeutschen ab: als Beispiel sei hier die ik/machen-Isoglosse angeführt. Während im Ostniederdeutschen maken durch machen ersetzt wird, behält man die unverschobene Aussprache des niederdeutschen ik «ich» bei. Diese Züge, zusammen mit der mittelniederdeutschen Vergangenheit dieser Gebiete, bewirken, dass sie in der Forschung manchmal noch als zum niederdeutschen Dialektkomplex gehörig erscheinen, was unter uns Auslandsgermanisten für eine gewisse Verwirrung sorgt. So sagt Ada-Anders (2010: 132): «das Südmärkische gehört streng genommen zum niederdeutschen Sprachraum mit stark mitteldeutscher Prägung» und Hans-Joachim Gernentz (19802: 99) betrachtet die Stadt Frankfurt an der Oder zumindest für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts noch als Teil des niederdeutschen Sprachgebiets, wenn auch an seiner Grenze zum Ostmitteldeutschen. Auf diese Position (dass das Südbrandenbugische bzw. Südmärkische ein Ostniederdeutsch mit obersächsischen Einflüssen sei) kann hier nicht eingegangen werden. Meiner Meinung nach ist die Sprache ein Obersächsisch mit ostniederdeutschem Einschlag, wenn auch gesagt werden muss, dass bereits in den nördlichen Randbezirken der Stadt Frankfurt das eigentliche niederdeutschsprachige Gebiet beginnt,6 wie der Deutsche Sprachatlas deutlich macht. Nach der Stabilisierung der Sprachgrenze im 17.-18. Jahrhundert können wir deswegen berechtigt annehmen, dass das Südbrandenburgische der Beeinflussung durch den nördlich gelegenen niederdeutschen mittelmärkischen Dialektkomplex ausgesetzt war (und umgekehrt). Auf die Sprache Kleists bezogen muss das bedeuten, dass er aktiv oder passiv das Niederdeutsche gekonnt haben muss.

Demnach hat Kleist südmärkisch bzw. südbrandenburgisch gesprochen, das heißt, ein Obersächsisch auf ostniederdeutschem Substrat.

Damit ist aber nicht alles erfasst. Wenn wir Kleists Sprache als ein Südbrandenburgisch der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts definieren, so bestimmen wir sie räumlich und zeitlich, aber nicht soziolektal. Das Problem, wie Kleists Familie und er selbst soziolinguistisch betrachtet gesprochen haben, kann ich im Rahmen dieses Beitrags nur skizzieren. Als Mitglied des Adels gehörte die Familie von Kleist der Frankfurter Oberschicht an. Hatte diese Frankfurter Oberschicht von damals eine schichtenspezifische Aussprache? Arend Mihm (2003: 88) zitiert eine Äußerung des Hieronymus Freyer aus dem Jahre 1772 bezogen auf das Deutsche, das damals in der Stadt Halle gesprochen wurde. In dieser Äußerung ist von einer Dreiteilung der Aussprache des Deutschen, das in dieser Stadt gesprochen wurde, die Rede.

Diese Äußerung ist besonders deswegen wichtig, weil sie auf eine vor allem lautliche Differenzierung der damaligen Soziolekte der Stadt hinweist. Sie erlaubt uns aber auch anzunehmen, dass das, was im 18. Jahrhundert sprachlich für Halle galt, auch für Frankfurt an der Oder und anderen Städten gegolten haben dürfte, denn ähnliche soziale Verhältnisse haben ähnliche sprachliche Verhältnisse zur Folge: Viele soziolinguistische Phänomene lassen sich in gleicher Weise in nach ähnlichen oder gleichen sozialen Mustern strukturierten Gesellschaften beobachten. Wenn wir davon ausgehen, dass in Frankfurt an der Oder in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts drei verschiedene Soziolekte gesprochen wurden, so hat sich die Familie Kleists — und damit er selber auch — des Akrolekts, also der der Oberschicht von Frankfurt eigenen Sprachebene, bedient.

 

Wie war nun dieser Akrolekt Frankfurts charakterisiert? Unterschied er sich stark von der Sprache der Mittelschicht oder waren beide Soziolekte wenig differenziert? Darüber kann ich von Spanien aus nur spekulieren. Bevor ich auf diese Frage eingehe, möchte ich zuerst folgenden Text mit dem Titel «Upp’n Hinderhoff» («auf dem Hühnerhof») präsentieren, der im südlichen Mittelmärkischen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfasst ist. Er soll veranschaulichen, wie das niederdeutsche Substrat der für das Öbersächsische neu gewonnenen Stadt Frankfurt lautete.

Upp unse Hoff is derr Haohn mett siene Hindere. Die Schärrn int Schtroh un sueken sich Wermere und Kernere upp. Jähnre sueken se eäre Noahrung ok upp de Weäse. Wenn derr Kickeriehoahn een Kernecken jefungen hat, denn ruept hä siene Hindere un jifft et die. Hä schtreckt sien‘n Hals ut un kräjet. Ene Hinne kommet ut et Hinderhus, die hat een Ei geleät. Nu fänget se an de kackerne; wie der Hoahn datt hert, schreit hä ok mett un menje andere Hindere ok: na un datt jiwwet en‘n jroten Schpektakel. Man soat ja ok: En Ei macht enn frot Geschrei. Durrt upp den Sandhub is inne Klucke mett eäre Schippkene, die schärrt fliessig, un die Kleen‘n picken jiedet Kernecken odder Wermecken upp. Wenn sich der Hawwick sieh loaten duet, denn nimmet se eäre Klenen unger de Flettije. Die Hindere jehen ziede debedde, se schtehn äwwer ok met de erschten Sunnenschtroahlen schon wedder upp.7

Die Oberschicht der Stadt dürfte jedoch kaum so gesprochen haben. Wenn wir versuchen wollen, den Frankfurter Akrolekt für die Zeit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in seinen charakteristischen Zügen zu erfassen, werden wir recht daran tun, folgende zwei Tatsachen zu berücksichtigen:

Zuerst sei bedacht, dass Berlin damals das größte politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum in der Nähe von Frankfurt an der Oder war, und dass Frankfurt Berlin in jeder Hinsicht zugeordnet war. Berlin war im 17. Jahrhundert die Hauptstadt der Mark Brandenburg gewesen und seit 1701 war es zur Landeshauptstadt des Königreichs Preußen geworden. Allen soziolinguistischen Voraussetzungen nach muss sich die Oberschicht Frankfurts nach den Gewohnheiten, einschließlich der sprachlichen, der Oberschicht Berlins gerichtet haben, vor allem aber nach den Gewohnheiten des Berliner Hofes. In sprachlicher Hinsicht bedeutet das, dass die Sprache der Berliner Oberschicht im 18. Jahrhundert zur Vorbildsprache der Frankfurter Oberschicht geworden war.

Abgesehen davon pflegte die Familie Kleists, die als zivile Beamte und als Offiziere zuerst im Dienst der Kurfürsten von Brandenburg gestanden hatte und danach im Dienst der Könige von Preußen, sehr intensive Kontakte zu Berlin: Kleist verbrachte mehrere Jahre seines kurzen Lebens in Berlin, Marie von Kleist (1761-1831), Vetraute des Dichters, war Hofdame der Königin Luise von Preußen, Leopold Friedrich von Kleist, der jüngste Bruder des Dichters, war preußischer Offizier und Fechtmeister des Kronprinzen, und der Vater des Dichters war ebenfalls Offizier in der preußischen Armee.

Der Akrolekt der Oberklasse von Frankfurt an der Oder und, in unserem besonderen Fall, die Sprache der Familie Kleists, muss sich in allen wesentlichen Punkten, auch im Bereich des Lautlichen, vom Akrolekt der Oberklasse von Berlin kaum unterschieden haben. Auf der schriftlichen Ebene bedeutet dies, dass man eine Sprache verwendet, die sich morphologisch, lexikalisch und syntaktisch weitgehend mit der heutigen deckt. In der Aussprache dürfte sich die orthoepische Norm im 18. Jahrhundert noch im Zustand des Ausprobierens und der langsamen Verfestigung befunden haben. Es muss sich um eine Phase der raschen Entwicklung gehandelt haben, in der man sich im Verlauf weniger Jahrzehnte auf ein orthoepisches Minimum einigte, das schwer zu fassen ist. Was damals lautlich akzeptiert oder sogar erwünscht war, kann heute affektiert, lächerlich oder vulgär klingen. In diesem Sinne sei hier erwähnt, dass Goethe seine Regeln für Schauspieler — in denen er eine für das Theater verbindliche Norm erarbeitet — 1803 niederschrieb. Würden sich jedoch heutige Schauspieler trauen, Goethes Theaterwerke tatsächlich mit der ideellen Aussprache aufzuführen, die Goethe sich für seine Bühnenstücke wünschte, so würden sie sehr wahrscheinlich vom Publikum ausgelacht oder sogar ausgebuht. Wann genau sich die moderne orthoepische Norm herauskristallisierte, vermag ich nicht zu sagen. Die berühmte Regelung, die zur Erschaffung der deutschen Bühnenaussprache führte, und die vom 14. bis 16. April 1898 im Apollosaal des Königlichen Schauspielhauses zu Berlin erarbeitet wurde, war meiner Meinung nach nur möglich, weil sie eine orthoepische Norm widerspiegelte, die Ende des 19. Jahrhunderts auf preußischem Gebiet bereits akzeptiert war.

Prinzipiell lässt sich sagen, dass sich die übliche Aussprache des Berliner und Frankfurter Akrolekts des 18. Jahrhunderts nach der geschriebenen Form der Sprache richtete. Es gibt jedoch eine Anzahl von Punkten, wo diese Aussprache von der heutigen orthoepischen Aussprache des Deutschen abweicht. Die Werke Kleists, aber auch andere Dokumente, zeugen davon.

Wenn wir auf die kleine Erzählung Upp’n Hinderhoff schauen, finden wir Formen wie jefungen «gefunden» oder unger «under = unter». Der Wandel der intervokalischen Konsonantengruppe –nd– zu –ng– würde heutzutage sogar in einer umgangssprachlichen Aussprache als vulgär gelten. Žirmunskij (1962:614) bemerkt jedoch:

[I]m 18. Jh. war die für das Brandenburgische spezifische Gutturalisierung von nd > (in den Briefen der Hohenzollern, die außerordentlich reich an vulgären «Berolinismen» sind, finden sich angers «anders», engerung «Änderung») noch erhalten. Im 19. Jahrhundert herrscht nd oder die assimilierte Form n: andest oder anns «anders», jfunn«gefunden».

Der Hinweis von Žirmunskij gibt Anlass anzunehmen, dass die Familie Kleist die Konsonantengruppe nd intervokalisch tatsächlich auch als ausgesprochen hat. Ob Kleist das aber gegen Ende des Jahrhunderts oder Anfang des 19. Jahrhunderts auch noch gemacht hat, lässt sich mit den uns spanischen Germanisten zur Verfügung stehenden Mitteln nur schwer sagen. Möglich ist es aber zweifellos. Andere problematische Fälle wie zum Beispiel seine Aussprache der orthographischen Gruppe <pf> oder des orthographischen <g> können hier aus räumlichen Gründen nur erwähnt werden. Wahrscheinlich hat er den orthographischen Digraphen <pf>, im Anlaut (und vielleicht auch im Auslaut) als f ausgesprochen (Feffer, Fennig), im Inlaut jedoch als pp. In Bezug auf das orthographische <g> müssen wir uns die Frage stellen, ob er tatsächlich Gänse, gießen, gehen, gegessen, Morgen usw. gesagt hat oder vielmehr Jänse, jießen, jehen, jejessen, Morjen usw. wie es in seiner Umgebung üblich war. Hat er Augen gesagt oder eher Auen? Gewissheit darüber können wir jedoch nicht gewinnen, außer wenn <g> sich in der Silbenkoda befindet und im absoluten Auslaut: Hier weisen die Reime und andere Fälle eine spirantische Aussprache auf. Wenn er z.B. «schüttle die Schwingen und fleuch!» in einem Distichon an seine Schwester Ulrike schreibt, müssen wir uns fragen, ob er tatsächlich die Imperativform vom Verb fliehen hat verwenden wollen, oder ob dieses fleuch! nicht einfach seine Aussprache von fleug! wiederspiegelt.

Im Gegensatz zu diesen problematischen Punkten, über die wir nur spekulieren können, erfahren wir hie und da durch die Reimstruktur seiner Verse, dass er die Vokale ü, ö und äu/eu entlabialisiert ausgesprochen hat (vgl. Schubert, 2010: 6-7), oder dass er die Präposition und Vorsilbe an lang ausgesprochen hat, wie im heutigen Niederländischen (im Gedicht «An Palafox» reimt getan auf an), oder dass er das Wort starren mit regulärem tonlangem a ausgesprochen hat (starrenScharen). Die moderne Rechtschreibung und vor allem die moderne Orthoepie verschleiern diese Phänome. Um den vorgegebenen Rahmen nicht zu sprengen, sei hier abschließend auf Kleists Aussprache der e-Laute lediglich hingewiesen, die teilweise von der modernen Aussprache abweicht und vor allem aber auch auf die Betonung lateinisch-griechischer Namen, die ebenfalls von der modernen orthoepischen Betonung abweicht.

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