Geheimnis Schiva 3

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Kapitel 6, Montag: 11.00 Uhr – Teil 1

Mit einem lauten Quietschen hielt der Zug am Gleis des winzigen Bahnhofs. Sie streckten sich und stiegen aus. Stan gähnte und reckte sich abermals an der frischen Luft, die bereits jetzt viel zu schwül war. Das frühe Aufstehen, die Sommerhitze und das reichhaltige Frühstücksbuffet machten ihn schläfrig. Träge rieb er sich die Augen und sah sich um, während Alexei das Tagebuch seiner Schwester in der Hand hielt und darin blätterte.

„Laut ihren Aufzeichnungen müssen wir nur den Bahnhof verlassen und dann immer geradeaus, bis wir an die Fußgängerzone kommen“, schlussfolgerte er aus den Notizen, ohne aufzublicken. Stan hörte ihm jedoch nicht zu.

„Sag mal, kann es sein, dass wir die einzigen Leute auf dem Bahnhof sind? Wirkt fast wie in einem Geisterfilm.“

„Sieht so aus. Was soll's. Lass uns starten.“

Stan folgte Alexei durch die Unterführung nach draußen. Sein Blick kreuzte das mickrige und vernachlässigte Bahnhofsgebäude. Erleichtert atmete er aus, als er die gut erhaltenen Gebäude sah. Alexei grinste ihn wohl wissend an.

„Da scheint aber einer zufrieden zu sein.“

„Zufrieden wäre übertrieben, aber ja, heilfroh, dass es hier normal ausschaut. Auch einige Leute sind auf den Straßen unterwegs. Viel belebter als Idar Oberstein.“

„Hätten wir uns wohl lieber hier ein Hotel nehmen sollen, oder?“

Stan zuckte mit den Schultern.

„Kann sein, aber noch haben wir nicht alles gesehen.“

„Richtig. Dann mal los.“

Lange mussten sie nicht suchen. In weniger als fünf Minuten gelangten sie zur Fußgängerzone, die aus einem Hotel und ein paar Eiscafés bestand.

„Ist das alles? Der Fußgängerbereich ist gerade mal vierhundert Meter lang …“ Stan schüttelte verständnislos den Kopf. „Sind wir richtig?“

„Ich denke schon“, meinte Alexei und blätterte abermals in dem Tagebuch.

„Soweit ich mich erinnern kann, steht da aber nichts von einer riesigen Baustelle gegenüber den Cafés. Und glaub mir, ich kenne ihr schrulliges Buch fast auswendig.“

„Mh … die scheint neu zu sein. Ist ja immerhin vier Jahre her ... Am Ende der Zone müssen wir nach links in den Park.“

„Da sollten die Salinen sein, richtig?“

„Korrekt.“

„Wie schaut‘s? Lass uns einen Kaffee mitnehmen.“

„Gute Idee. Vielleicht wirst du dann auch endlich mal wach“, witzelte Alexei und Stan streckte sich genüsslich.

„Wer weiß, wer weiß.“

*

Die Salinen hatten sie nicht lange suchen müssen. Sie waren nicht zu übersehen. Nun saßen sie auf einer der vielen Parkbänken, atmeten die frische Luft tief ein und nippten an ihren Pappbechern. Stan gähnte und legte den Kopf mit geschlossenen Augen in den Nacken, während Alexei sich neugierig umsah. Lara hatte in ihren Einträgen regelrecht von Bad Münster geschwärmt. Klar, es war nicht übel, jedoch tatsächlich für ältere Leute von denen es im Park nur so wimmelte. In ihren Notizen hatte sie nicht viele Menschen erwähnt. Er selbst hatte sie nie kennengelernt, doch sie schien nicht gerade extrovertiert oder ein Menschenfreund gewesen zu sein. Wie auch immer: Die Burgruine war schon in Sicht, ebenso wie die Fähre, die sie erwähnt hatte. Sie war also wirklich da gewesen, wenngleich sein Kumpel weiterhin daran zweifelte, doch wieso eigentlich?

„Sag mal, glaubst du noch immer, dass Lara gar nicht hier gewesen ist?“

„Pfh … keine Ahnung. Richtig überzeugt bin ich nicht.“

„Aber warum? Bisher stimmt doch alles, was sie beschrieben hat, also Umgebungstechnisch.“

„Das kann sie genauso gut im Internet rausgesucht haben, um sich hin zu phantasieren. Die Trantüte ist meistens nicht raus und hat sich ihre gewünschten Storys erträumt.“

„Ich weiß nicht so recht …“

„Man findet alles im Internet. Gebe Bad Münster mal in einer Suchmaschine ein und du wirst genau die Dinge finden: Kurort, Salinen, traditionelle Fähre, Burgruine.“

Alexei runzelte die Stirn und schwieg. Er befand sich im Zwiespalt. Stan mochte zwar mit der Tatsache richtig liegen, dass man alles im Internet fand, doch sollte Laras Wunschdenken und Träumerei derart weit gegangen sein, dass sie tatsächlich Fakten aus dem Netz gezogen hatte, um ihre Geschichten zu spinnen? Irgendwie hielt er das für unwahrscheinlich.

„Vielleicht finden wir oben auf der Ruine einen Hinweis“, versuchte er, seinen Freund zu motivieren, der sich müde die Augen rieb. Er konnte nicht nachvollziehen, warum Alexei derart dahinter war, Anhaltspunkte zu entdecken. War nicht er es gewesen, der meinte, er solle mit Laras Verschwinden abschließen? Wieso auf einmal die Kehrtwende? Er wusste nicht, ob er sich darüber freuen oder ärgern sollte.

„Glaube kaum, aber deswegen sind wir ja da.“

„Klingt hochmotiviert.“

„Tja, ich denke noch immer, dass wir hier nichts finden werden. Oder hören sich für dich die Namen Allen, Lycastus, Kralle und Hieronymus besonders real an?“

Alexei konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

„Nein, tatsächlich nicht.“

Kapitel 7, Montag: 13.30 Uhr – Teil 2

Sie warteten geduldig, bis die letzten Fahrgäste die Fähre verlassen hatten, zahlten jeweils einen Euro für die Überfahrt und stiegen auf das Boot. Der Fährmann unterschied sich völlig von Laras Beschreibung. Entweder war es ein anderer, was nach vier Jahren nicht verwunderlich wäre, oder sie hatte die Geschichte wirklich erfunden. Mit ihnen fuhren noch zwei Familien zur anderen Seite. Die Überfahrt dauerte lediglich fünf Minuten, in denen ihnen der Bootsführer, der sie gekonnt über die Nahe zog, einiges zur Burgruine Rheingrafenstein erzählte. Der Ansturm war recht groß. Anscheinend waren viele Leute und Familien auf die Idee gekommen, zu wandern. Stan seufzte. Alles Verrückte. Wäre er nicht auf Spurensuche, dann wäre er bestimmt nicht hier und schon gar nicht zum Wandern.

Sie stiegen als Erstes aus und ihr Blick fiel sofort auf einen Eingang mit offenem Gittertor, hinter dem verschiedene Skulpturen zu erkennen waren. Alexei lief voraus und blieb davor stehen, wieder einen Blick in das Tagebuch werfend.

„Ob das der Märchenpark ist?“

„Sieht ganz danach aus“, meinte Stan und deutete auf ein kleines, grünes Schild in Form eines Pfeils, das auf den Durchgang zeigte und auf dem „Eingang Märchenhain“ zu lesen war.

„Oh, okay. Vielleicht sollte ich weniger in die Notizen schauen und mehr darauf achten, was vor uns liegt.“ Er klappte das Buch zu und gab es seinem Kumpel zurück, der es im Rucksack verstaute.

„Jo, wie gesagt, ich kann es dir ohnehin auswendig zitieren.“

„Okay, dann laufen wir den Hain kurz durch? Anscheinend ist der Eintritt frei.“

„Ich weiß nicht, ob das was bringt. Für mich ist eindeutig, dass sie die Sache erfunden hat.“

„Wieso?“

„Laut ihrem Gekritzel war der Park abgebrannt.“

„Schon, aber das ist bereits vier Jahre her. Meinst du nicht, dass er eventuell tatsächlich zerstört war und wieder aufgebaut wurde?“

Stan seufzte.

„Seit wann bist du so verdammt hartnäckig?“

„Ich habe von dem Besten gelernt“, gab Alexei grinsend zurück und sein Kumpel nickte.

„Das hast du wohl. Alles klar, dann lass uns mal den schrulligen Märchenpark ablaufen. Nach dir.“

Motiviert schritt Alexei voraus. Bei dem Park handelte es sich lediglich um einen kleinen Rundgang, den sie in weniger als zehn Minuten beendeten.

„Deprimierend. Eine gute Idee für Kinder, aber … na ja.“

„Wenn du nachts hier her kommst hast du anstatt eines Märchenparks einen Horrorpark“, entgegnete Stan und deutete auf eine der vielen vernachlässigten Figuren in Form eines Zwerges mit einem breiten Grienen, das selbst dem fiesesten Wolf Angst eingejagt hätte.

Alexei lachte und nickte zustimmend.

„Stimmt wohl. Ich finde es schade, dass sich niemand darum kümmert. Die Farbe der Skulpturen müsste dringend erneuert werden.“

„Es wäre schon ein großer Fortschritt, nur mal sauber zu machen und die vielen, dicken Spinnenweben zu entfernen.“

„Da hast du recht. Kein Wunder, dass hier kaum jemand reingeht, trotz des freien Eintritts.“

„Dann auf in den Kampf?“

„Was meinst du?“

„Na, schau dir den steilen Aufstieg mal an. Das wird spaßig.“

Alexei folgte Stans Blick und verstand, was sein Freund meinte. Der unebene Weg war nicht sehr einladend. Anscheinend sahen das andere Leute genauso, denn sie waren gerade mal hundert Meter gewandert, als sie eine diskutierende Familie passierten, bei der sich die Mehrheit weigerte, sich weiter nach oben zu kämpfen. Schmunzelnd mühten sie sich ehrgeizig nach oben, als der Pfad sich in einer scharfen Kurve wandt und in Treppenstufen überging. Die Sonne brannte unbarmherzig auf sie herab und sie waren froh, dass die vielen Bäume Schatten spendeten. Dennoch hatten beide das Gefühl, in der Hitze zu schmelzen. Keuchend bahnten sie sich ihren Pfad nach oben, gelegentlich eine Verschnaufpause einlegend. Als sie endlich die Ruine erreichten, schlugen sie innerlich drei Kreuze.

„Sagtest du nicht, dass deine Schwester nicht viel draußen und nicht oft unterwegs war?“

„Jupp, so ist es.“

„Und wie ist sie hier rauf gekommen?“, fragte Alexei und stützte sich für ein paar Sekunden an dem Graffiti verschmierten Gemäuer ab, um zu Atem zu kommen. „Oder war sie besonders sportlich unterwegs?“

„Es ist nicht bewiesen, dass sie tatsächlich hier war“, entgegnete Stan. „Von farbigen und bunten Mauern hat sie nichts geschrieben.“

Sein Kumpel rollte mit den Augen.

 

„Ja, aber …“

„Sag es nicht“, unterbrach ihn Stan. „Das war vielleicht vor vier Jahren noch nicht. Das ist es doch, was du sagen wolltest, oder?“

Sein Grinsen genügte ihm als Antwort. Er winkte ab und wandte sich automatisch nach links.

„Willst du nicht nochmal nachsehen, ob wir nicht doch nach rechts müssen?“

Stan schenkte ihm ein schiefes Grinsen und Alexei strich sich über seinen Nacken.

„Ja, ja, ich weiß: du kennst das Tagebuch auswendig, richtig?“

„‘türlich. Folge mir und halte die Augen offen, ob du irgendetwas findest, dass uns weiterhilft.“

„Logisch.“

Sie nahmen die Treppe zu ihrer linken und stapften nach Luft schnappend hinauf. Vor einer halb zerfallenen Holztreppe blieben sie kurz stehen.

„Sieht so aus, als würde nicht nur der Märchenhain an fehlender Pflege leiden“, meinte Alexei. „Wie gut, dass wir nicht auf die Treppe angewiesen sind.“

Stan nickte wortlos. Der ganze Ort ödete ihn an. Falls er seine Schwester jemals wiedersehen sollte … nein, er würde Lara auf jeden Fall finden. Und dann würde er ihr sagen, wie Panne sie war.

Sie schlenderten an den maroden Stufen vorbei und gelangten an einen Aussichtspunkt mit einer herrlichen Sicht auf Bad Münster. Sie verweilten eine Zeit lang, genossen den Ausblick und sahen sich nach Hinweisen um. Allerdings erfolglos. Stan fluchte innerlich. Gar nicht so einfach wenn man etwas suchte und nicht genau wusste, was. Nach ungefähr zwanzig Minuten setzten sie ihren Weg fort. Ein Ort interessierte sie ganz besonders: der Brunnen. Etwas irritiert blieben sie vor dem efeubewachsenen Gemäuer stehen. Alexei ergriff als erster das Wort.

„Sag mal, ich kann mich nicht erinnern, dass deine Schwester einen eigenen Raum oder Überdachung für den Brunnen erwähnt hatte.“

„Keine Ahnung. Eigentlich hat sie ihn gar nicht richtig beschrieben …“ Er zuckte mit den Schultern und ging voraus in den kleinen, offenen Raum, in dessen Mitte sich der Brunnen befand. Er begutachtete ihn von allen Seiten und fand – nichts. Enttäuscht und genervt zugleich schlug er mit der geballten Faust auf das schwere Gitter, das über der Öffnung angebracht war.

„Tja, so viel zu Laras Glaubwürdigkeit und Träumereien. Nie und nimmer haben die das Gitter ab, geschweige denn gehoben bekommen.“

„Vielleicht war es damals noch nicht da …“, gab Alexei zu bedenken und Stan warf ihm einen stark zweifelnden Blick zu.

„Das glaubst du jetzt doch selber nicht. Denkst du echt, die haben das die ganzen Jahre zuvor ungesichert gelassen, wo hier Familien, Kinder und alles Mögliche raufsteigen? Nee, keine Chance.“

„Ja…“, Alexei suchte nach Gegenargumenten, aber er fand nicht ein einziges. Er atmete tief durch. Anscheinend hatte Lara tatsächlich Fantasiegeschichten in ihr Tagebuch geschrieben. Seltsames Mädchen. Dabei hatte er wirklich geglaubt, auf ihrem Kurztrip ein paar neue Hinweise zu entdecken. Er hatte es einfach gespürt. Ein trügerisches Gefühl … Das durfte er sich von seinem Freund jetzt bestimmt jahrelang anhören. Tja, einen Versuch war es wert gewesen.

„Schauen wir uns noch den Rest der Ruine an?“, riss ihn Stan aus seinen Gedanken.

„Klar, wenn wir schon mal hier sind.“ Alexei zwinkerte seinem Kumpel zu und gemeinsam begaben sie sich zum höchsten Punkt von Rheingrafenstein. Auch hier hatte man einen tollen Ausblick auf den Kurort und umliegende Umgebung. Gähnend legte Stan seine Ellenbogen auf das Gemäuer ab und ließ den Kopf müde darauf sinken, während er in die Ferne starrte. Wo hatte sich seine verdammte Schwester nur versteckt?

„Sorry.“

„Mmh?“ Er legte seinen Kopf schief und blinzelte Alexei fragend an, der sich reumütig mit einer Hand durch die Haare fuhr.

„Na ja, dass ich dich gedrängt habe, hier her zu kommen. Ich dachte echt, dass wir was finden. Ich war überzeugt ... keine Ahnung.“

„Passt schon.“

„Tut mir trotzdem leid.“

„Immerhin hab ich dich mal dazu bewegt, dass du aus deiner Pauker- und Arbeitswelt rauskommst. Man konnte mit dir ja nichts mehr anfangen.“

Alexei lachte verlegen. Punkt für Stan. Und er musste gestehen, dass trotz der Enttäuschung, dass sie nichts an Hinweisen fanden, die Auszeit guttat. Er senkte leicht den Kopf und sah auf die sieben Liebesschlösser, die an der Absicherung angebracht waren.

„Die gibt’s anscheinend überall.“

„Stimmt. Ärgerlich für die Arbeiter, die den kitschigen Mist jedes Mal entsorgen müssen.“

„Nein, das …“

„Doch. Die Dinger werden regelmäßig wieder weggemacht. Ich glaube die Stadt, Landkreis, Bürgermeister oder wer auch immer, muss sie zur Sicherheit wieder entfernen lassen.“

„Das meine ich nicht!“ Alexei griff aufgeregt mit der linken Hand in Stans Shirt. Mit der rechten deutete er auf eines der Liebesschlösser. „Es war nicht umsonst! Wir haben unseren Hinweis gefunden!“

Stan folgte seinem ausgestreckten Arm und seine Augen weiteten sich. Konnte das wirklich sein? War dies tatsächlich ein realer Beleg oder purer Zufall? Noch während er darüber nachdachte, verselbstständigten sich seine Lippen und er flüsterte die Namen vor sich hin, die klar und deutlich auf dem Schloss eingraviert waren: „Chesteti und Hieronymus.“

Kapitel 8, Dienstag: 20:37 Uhr

„Oh Mann, ich bin echt platt.“ Stan stöhnte, schloss die Augen und lehnte sich erschöpft in den Polstersitz der Bahn zurück. Nachdem sie gestern den bekannten Namen auf dem angebrachten Liebesschloss entdeckt hatten, waren sie heute sofort nach dem Frühstück wieder nach Bad Münster aufgebrochen, um die Bewohner nach Hieronymus und dieser Chesteti auszufragen. Den gesamten Tag hatten sie in der glühenden Hitze damit verbracht, an Haustüren zu klingeln und vorüberziehende Leute anzusprechen. Das Ergebnis war jedoch ernüchternd. Eigentlich hätten sie sich denken können, dass ihr Unterfangen nicht sehr erfolgversprechend war. Immerhin konnte Hieronymus überall stecken. Wer sagte, dass er denn tatsächlich in Bad Münster wohnte und hier nicht nur einen Ausflug unternommen hatte?

„Geht mir genauso. Ich bin echt müde. Sollte es heute nicht ein Wärmegewitter geben? Davon hab ich nichts gemerkt“, meinte Alexei und streckte sich.

„Keine Ahnung. Aber morgen rennen wir nicht wieder den ganzen Tag in dem Kaff rum und fragen uns durch. Am Ende werden wir noch wegen Belästigung verhaftet.“

Sein Kumpel lachte bei der Vorstellung auf.

„Wäre auch mal was anderes. Vielleicht sollten wir es auf dem zuständigen Einwohnermeldeamt probieren“, schlug Alexei vor und Stan wägte den Gedanken ab, schüttelte dann jedoch den Kopf.

„Ich glaube kaum, dass die uns helfen werden oder können. Wir haben nur den Vornamen. Die brauchen doch bestimmt den Nachnamen.“

„Mmh … wir sollten es versuchen. Eine andere Idee habe ich nicht oder fällt dir etwas ein?“

„Puh, momentan nicht. Lass uns über was anderes reden. Mir schwirrt echt der Schädel und die Suche frustriert mich so langsam.“

„Kein Thema, verstehe. Was hältst du davon, wenn wir uns noch ein paar Cocktails in der Eisdiele gönnen?“

„Klingt nach einem guten Plan“, antwortete Stan mit einem müden Grinsen.

An der nächsten Haltestelle stiegen sie aus. Ohne Umwege liefen sie schweigend zur Fußgängerzone und nahmen an einem freien Tisch des kleinen Cafés Platz. Sie brauchten keinen Blick mehr in die Karte zu werfen, denn sie kannten sie bereits auswendig.

„Immer noch hier?“

„Das ist aber eine nette Art, seine Kunden zu begrüßen“, meinte Stan mit einem schiefen Lächeln und der Kellner griente schulterzuckend zurück.

„Bekommt nicht jeder hier, 'ne. Fühlt euch geehrt.“

„Tun wir“, pflichtete Alexei ihm scherzhaft bei und zwinkerte verschwörerisch.

„Okay, Männer. Das wäre geklärt. Dasselbe wie gestern?“

„Jupp“, stimmten beide zeitgleich zu und der Kellner zog sich nickend zur Bar zurück.

„Komischer Vogel.“

„Ja, ist 'ne Nummer für sich. Wird mir fehlen“, gab Stan mit einem todernsten Blick zurück und Alexei stieß ihn leicht unter dem Tisch an.

„Komm schon. Nicht wirklich.“

„Doch, er ist cool.“

„Du verarscht mich!?“

„Würde ich niemals tun.“

„Ja, klar.“

Für einige Sekunden schwiegen sie und hingen ihren Gedanken nach. Stan massierte sich die Stirn und atmete tief durch. Er hatte bereits so viele Niederlagen einstecken müssen, in denen seine Suche einfach nur erfolglos war, ganze Jahre, doch keine hatte ihn derart deprimiert wie diese. Er konnte nicht sagen, an was es genau lag. Vielleicht war es die Tatsache, dass er diesmal nicht allein war oder, dass je mehr Zeit verstrich, er das Gefühl hatte, sich nicht mehr an Lara erinnern zu können. Er fühlte sich ausgelaugt und ausgebrannt. Sein Entschluss stand fest. Sobald sie zurück waren, würde er in den sauren Apfel beißen und seine Ermittlungen beenden.

„Vielleicht sollten wir früher zurückfahren“, murmelte er gedankenversunken vor sich hin und sein Kumpel blickte ihn fassungslos und irritiert an.

„Was? Wieso?“

„Weil es einfach nichts bringt. Wir laufen im Kreis.“

„Finde ich nicht“, entgegnete Alexei überzeugt. „Wir haben den Beweis, dass Hieronymus wirklich existiert und in der Gegend war.“

„Erstens wissen wir gar nicht, ob es überhaupt Laras Hieronymus ist und zweitens hast du es selbst gesagt: Er war in der Gegend. Keine Ahnung, wo er jetzt ist.“

„Stan, wie viele Typen gibt es, die so seltsam heißen? Wir sollten wirklich das mit dem Einwohnermeldeamt versuchen. Wir könnten auch noch versuchen, den Namen in einer Suchmaschine vom Internet einzugeben.“

Stan schnaufte.

„Ich weiß nicht …“

Sie wurden von der Bedienung unterbrochen, die ihnen die Cocktails brachte. Irritiert schauten sie den rundlichen Wirt an.

„Schichtwechsel?“, fragte Alexei verwundert und der Mann nickte schnaufend, der von seiner Statur an eine reife Tomate erinnerte.

„Joar, der Faulpelz macht mal wieder eine Pause. Zu nichts nutze, die Jugend. Ständig nur am Handy und am Telefonieren. Doch keine Sorge, ich kann das Cocktail Mixen genauso gut.“

Die Freunde trauten sich nicht, zu widersprechen, und nahmen die Getränke schweigend an. Noch immer lag der Unmut der erfolglosen Suche über ihnen wie eine schwere Wolldecke. Der Wirt verzog missmutig die Miene.

„Ihr habt sie noch gar nicht probiert. Kein Grund, so ein Gesicht zu ziehen! Die schmecken, sag ich euch!“

„Ah, sorry. Das ist es nicht“, meinte Alexei entschuldigend und kratzte sich am Nacken.

„Nicht? Was für eine Laus ist euch denn dann über die Leber gelaufen?“

„Ähm … also, es war einfach nicht unser Tag.“

„Das Scheißwetter ist viel zu heiß! In diesem Kaff gibt es außer dem Museum, der Miene und dem Schloss nichts, was man machen kann – keine Disco, nichts. Und dann diese sinnlose Rumrennerei wegen einem Typ namens Hieronymus! Kein normaler Mensch heißt so! Der Kerl existiert bestimmt nicht!“, platzte Stan mit seinem Missmut verärgert heraus und leerte anschließend zur Hälfte den Mojito mit nur einem Schluck. Die Augen des Wirtes weiteten sich überrascht. Für ein paar Sekunden starrte er die beiden Freunde an, bevor er ihnen aufmunternd auf die Schultern klopfte.

„Das Wetter kann ich leider nicht ändern. Genauso wenig wie die fehlenden Attraktionen in unserer kleinen, aber feinen Edelsteinstadt. Aber was den dritten Punkt betrifft, da könnte ich euch helfen.“

„Ja, schon …“ Stan stockte. Zeitgleich mit seinem Kumpel hob er den Kopf und starrte den Wirt ungläubig an.

„Wie? Sie kennen einen Typ, der Hieronymus heißt?“, fragte Alexei vorsichtig nach und der runde Kopf des Mannes wippte emsig auf und ab.

„Leider ja. Das Schicksal hat mich böse damit gestraft.“

„Und sie verarschen uns auch nicht?“, hakte Stan misstrauisch nach, worauf der rundliche Wirt abwinkte.

„Nein, ganz und gar nicht.“

„Und können Sie uns sagen, wo wir ihn finden können?“ Alexeis Herz klopfte bis zum Anschlag.

„Aber sicher. Er ist ganz in der Nähe.“

„Wo?“, platzten beide heraus und der Mann hob sich lachend seinen vibrierenden Bauch. Stan wollte das Ganze schon als einen schlechten Scherz abtun, als er antwortete: „Er überzieht gerade seine Raucherpause.“

Ihnen kippten die Kinnladen nach unten. Meinte er tatsächlich den seltsamen Kellner? Der Wirt lachte abermals beherzt und dröhnend auf.

 

„Jungs, ihr macht Gesichter, als würdet ihr einen Geist sehen! Sei es drum. Ihr sprecht ihn am besten gleich an, bevor ich ihn zum Weiterarbeiten ermahne. Sonst müsst ihr drei Stunden warten, bis seine Schicht zu Ende ist.“

Er nickte ihnen zu und begab sich dann wieder hinter die Bar. Sie mussten die Information erst ein paar Sekunden sacken lassen, um sie zu begreifen. Stan schaute seinen Kumpel auffordernd an.

„Sollen wir?“

„Ja, unbedingt!“

„In Ordnung.“ Alexei stand auf und folgte seinem Freund in die Ecke, wo der Kellner gerade sein Telefonat eilig beendete.

„He, habt ihr schon genug getankt?“ Er grinste sie breit an.

„Eigentlich wollten wir mit dir reden“, entgegnete Stan und Alexei fügte schnell hinzu: „Wir haben dich gesucht, Hieronymus.“

Der Angesprochene zog misstrauisch eine Braue in die Höhe. Im nächsten Moment verzog er das Gesicht und winkte schnell ab.

„Oh, nee, vergesst es. Ich verurteile euch net, jedem das seine, doch ich bin da raus. Auf so was steh ich nicht und außerdem hab ich 'ne heiße Flamme.“

Verdutzt stierte Stan ihn an. Wie meinte er das denn jetzt? Sein Kumpel begriff eher als er und hielt den Kellner fest, der gerade an ihm vorbei huschen wollte.

„Wir sind nicht schwul.“

„Ja, klar doch. Und ich kenn den Papst, 'ne? Hört zu, Männer. Ich finde es ja ganz drollig, dass ihr euch sogar nach meinem Namen erkundigt habt. Ich kann auch verstehen, dass ihr an mir interessiert seid – ich bin nun mal 'ne geile Type, aber …“

„Stopp, ich will es gar nicht hören, Alter“, unterbrach ihn Stan eilig, der bei der Vorstellung Kopfschmerzen bekam. Wie kam der Kerl nur darauf, dass sie sexuell an ihm interessiert sein könnten? Widerlich! Er versuchte, sich zu beruhigen, um ihm nicht seine Faust ins Gesicht zu rammen. „Wir brauchen ein paar Antworten.“

Hieronymus öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch Alexei kam ihm zuvor.

„Kennst du Lara?“

Die Gesichtszüge des jungen Mannes verhärteten sich für den Bruchteil einer Sekunde. Dann setzte er wieder sein selbstgefälliges Grinsen auf.

„Keine Ahnung. Würde ich mir die Namen aller meiner Betthäschen merken, wäre es 'ne ziemlich lange Liste.“

„Die Lara, die wir meinen, an die müsstet du dich erinnern. Lange, Aubergine gefärbte Haare. Gebräunter Teint. Hellblaue Augen. Menschenscheu“, lenkte Stan ein und überhörte die Provokation des anderen, doch Hieronymus schüttelte nur den Kopf und wollte sich an ihm vorbei drücken.

„Keine Ahnung, Mann.“

„Ein Mauerblümchen.“ Alexei versperrte ihm den Weg.

„Ich steh nicht auf langweilige Tulpen.“

„Wissen wir“, meinte Stan und verschränkte seine Arme.

„Ach und woher, he?“

„Wir haben alles nachgelesen … im Tagebuch meiner Schwester.“ Er holte den Einband hervor und drückte ihn an die Brust des Kellners, der verärgert mit der Zunge schnalzte, bevor er es aufschlug und darin herumblätterte. Seine Miene wirkte lässig, doch seine Augen verrieten ihn eindeutig. Stan und Alexei waren sich sicher: Sie hatten den richtigen Hieronymus gefunden. Sie waren endlich auf eine Spur gestoßen! Und vielleicht wusste der Kerl sogar, wo sich Lara momentan befand … Stans Herz überschlug sich bei der Vorstellung regelrecht.

„Ist ja 'ne hübsche Geschichte, Männer, aber ich hab jetzt leider keine Zeit mehr. Ich bin nicht zum Urlaub da, sondern muss arbeiten. Also denne.“

Stan hielt ihn jedoch fest und stieß ihn grob zurück.

„He, Alter! Chill mal und mach keinen Aufstand. Ich kenne deine olle Schwester nicht!“

„Du lügst! Erzähl mir keinen Bockmist! Ich sehe es dir deutlich an. Wo ist Lara?!“

„Du gehst mir auf den Sack. Mach den Weg frei, wenn ich dir nicht ein paar verpassen soll, 'ne.“

„Sag mir erst, wo meine Schwester ist! Ist sie bei diesem Allen? Bei Kralle und Lycastus und wie die ganzen Freaks heißen?!“

„Du hast Sydney vergessen, Alter“, fügte Hieronymus verärgert hinzu und erkannte im nächsten Moment seinen Fehler.

„Und du kennst sie doch!“

„Keine Ahnung, wovon ihr sprecht, Männer. Jetzt lasst mich endlich durch oder ich sag meinem Cheffe, dass er die Polizei rufen soll.“

„Ja, gute Idee! Ruft die Bullen und wir können gleich das Verschwinden von meiner Schwester wieder aufrollen“, stimmte Stan ihm energisch zu und Hieronymus erstarrte für einen Moment. Dann lachte er leise auf und wuschelte sich durch sein rotbraunes Haar.

„He, he. Guter Zug, das muss ich euch lassen. Na gut, dann zeig das Buch nochmal her.“

Überrascht reichte ihm Alexei den Einband.

„Warum jetzt doch?“

„Ganz einfach“, der Kellner nahm das Tagebuch eilig entgegen. „Schaut.“

Mit einem großen Sprung setzte er nach vorne, gab beiden einen harten Stoß, und sprintete los. Sowohl Alexei als auch Stan hatten damit nicht gerechnet und taumelten zurück.

„Scheiße, verdammt!“, brüllte Stan und setzte ihm sofort hinterher. Alexei zögerte nicht und folgte ihm. Das hätte ihnen nicht passieren dürfen. Auf keinen Fall durften sie den Typ entkommen lassen. Er war ihr einziger Hinweis und ein sehr wichtiger dazu. Aus den Augenwinkeln nahm Alexei den Wirt wahr, der ihnen böse fluchend hinterherrief. Jedoch konnte er sich nicht auf dessen Worte konzentrieren, denn Hieronymus war verdammt schnell. Sie jagten ihm die gesamte Fußgängerzone hinterher, doch als er an dem Ende nach rechts in die Schlossstraße abbog, die steil nach oben führte, hatten sie deutlich die schlechteren Karten. Der Kellner legte ein Tempo vor, das nicht von dieser Welt zu sein schien. Als er dann noch in eine Seitenstraße einbog, war er erst mal aus ihrer Sichtweite verschwunden. In weniger als fünf Minuten hatten sie ihn verloren.

„Das darf jetzt nicht wahr sein, verfluchter Mist!“ Stan schlug die Arme über den Kopf zusammen und sah sich verzweifelt um, aber von dem Flüchtenden war keine Spur mehr zu entdecken. Wie konnte man nur so viel Pech haben? Die Hoffnung, die er fast verloren geglaubt und wiedergefunden hatte, wurde in dieser Sekunde brutal zerstört. Verzweiflung holte ihn ein, dunkler als die schwärzeste Nacht. Er fühlte sich, als würde er fallen, und konnte die Tränen nicht zurückhalten. Schnell drehte er sich von seinem Kumpel weg und wischte sich mit dem Arm über das Gesicht.

Alexei schnappte stoßweise nach Luft. Er konnte die Gefühlswallung seines Freundes verstehen und ließ ihn in Ruhe. Auch er sah sich suchend um, doch vergebens. Seine Oberschenkel brannten von dem Sprint. Wie hatte dieser Typ nur derart schnell bergauf rennen können? Fast schon übermenschlich. Frustrierend.

„Sollen wir die Straßen ablaufen?“, schlug er vor, doch Stan schüttelte deprimiert den Kopf.

„Das wird nichts bringen. Wer weiß, wo der hin ist. Ich glaube kaum, dass er sich hier irgendwo versteckt hält und wartet.“

„Mmh … vermutlich hast du recht.“

„Das Schlimmste an der ganzen Sache ist, dass jetzt auch noch Laras Tagebuch weg ist.“

„Aber noch ist nichts verloren. Der Wirt kann uns vielleicht helfen. Und selbst wenn nicht: Wir wissen jetzt, wo der Typ arbeitet. Ewig kann er dort nicht wegbleiben.“

Stan atmete tief durch, schaute in den dämmrigen Himmel und nickte.

„Stimmt. Wir sollten zurück. Gezahlt haben wir auch noch nicht.“

„Ha ha, daran hab ich gar nicht gedacht. Dann lass uns zurückgehen und schauen, was wir aus dem Chef rausbekommen.“

Alexei klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. Mit gemischten Gefühlen traten sie den Rückweg an.

*

„Was ist denn los? Wo ist dieser Taugenichts?! Seine Schicht ist noch nicht vorbei. Was geht hier vor?“ Der Wirt blickte nervös von einem zum anderen. Er saß an einem der Tische, alle Gäste waren bereits gegangen, und rauchte. Anscheinend nicht seine erste, denn unzählige Zigarettenstummel säumten den Tischrand wie kleine, verhunzte Bauten.

„Es tut uns leid, dass wir … kurz weg mussten“, entschuldigte Alexei ihr Verhalten. Der rundliche Mann sah ihn verärgert an.

„Getürmt seid ihr! Und mit euch mein Angestellter! Was wollt ihr denn von ihm?!“

„Wir sind nicht getürmt, wir sind zurückgekommen, um zu zahlen. Der einzige, der schlagartig die Flucht ergriffen hat, ist ihr komischer Kellner!“, gab Stan gereizt zurück. Alexei entging der unglücksverheißende Blickaustausch der beiden nicht. Schnell griff er ein, bevor die Situation aus dem Ruder lief.

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