Das wirkliche Leben beginnt jetzt

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Die Entwicklung, die aus Verstehen herrührt, die Reife, die aus Assimilation von Erfahrung resultiert, führt zu dem, was wir das persönliche Seinsgefühl (personal sense of being) nennen: dem Teil von euch, von dem ihr das Gefühl habt, das seid ihr, und der in der Lage ist, in der Welt zu funktionieren und doch zugleich immer noch zu sein. Persönliche Essenz ist der Aspekt, bei dem ihr am deutlichsten spürt, daß ihr auf persönliche Weise da seid. Ihr fühlt: „Ich bin hier; ich bin ein substantielles Gefühl von Präsenz.“ Da ist Fülle, Seiendheit (beingness), Da-Sein (thereness). Im Grunde ist das, was ihr jedesmal, wenn ihr auf der Suche seid, mehr als alles andere tut, diese Fülle eures Seins wegzuschieben.

Je weniger ein Mensch auf der Suche ist, um so erfüllter ist er. Ein elender Mensch ist jemand, der intensiv sucht. Ich spreche von emotionalem Leiden, nicht von jemandem, dem ein Dach auf den Kopf gefallen ist oder etwas Ähnliches. Aber sogar wenn euch ein Dach auf den Kopf fällt, habt ihr eine bessere Chance der Heilung und Genesung, wenn ihr nicht mit der Aktivität des Suchens beschäftigt seid. Auch wenn ihr kein Geld habt, werdet ihr glücklich sein, wenn ihr euch selbst sein laßt. Auch wenn ihr Millionen besitzt, wenn ihr auf der Suche seid, wird es euch schlecht gehen. Natürlich, wenn ihr kein Geld habt und nichts zu essen, werdet ihr Hunger haben und der wird wehtun. Aber sogar dann habt ihr vielleicht eine andere Art Zufriedenheit, die jenseits dieses Schmerzes liegt.

Es ist nichts neu an dem, was ich sage. Man sagt das seit Tausenden von Jahren. Aber gewöhnlich geht es zum einen Ohr hinein und zum andern wieder hinaus, weil wir weiter an unsere Aktivität glauben. „Wenn ich nicht das und das tue, werde ich niemals glücklich sein.“ Wir sprechen nicht von Aktivität wie ein Auto fahren oder Essen kaufen; natürlich muß man diese Dinge tun. Ich spreche von innerer Aktivität und dem Ausdruck dieser inneren Aktivität in äußerer Aktivität. Ihr könnt äußerlich sehr intensiv engagiert sein, während ihr innerlich still seid, aber meistens ist äußere Aktivität ein äußerer Reflex der Aktivität des Geistes. Wir sind äußerlich geschäftig, weil unser Geist geschäftig ist. Wir sind in unserer Aktivität nicht präsent. Deshalb sagen viele Lehren, wir sollten langsamer werden, ein bißchen ruhiger werden und unser Leben einfacher gestalten. Ihr müßt langsamer werden, nur um den Prozeß zu sehen und zu verstehen. Und das, damit ihr den Unterschied merkt. Nicht weil äußere Aktivität schlecht ist, vielmehr daß ihr innen und außen zu geschäftig seid, um die Chance wahrzunehmen, sehen zu können, was wirklich hier ist. Wenn ihr wirklich seid, spielt es keine Rolle, wie schnell ihr im Außen seid. Aber wenn ihr nicht da seid, entfernt ihr euch, gleich welches Tempo ihr habt, immer noch weiter von euch selbst weg.

An der Welt, in der wir leben, an der Welt des Scheins und an allem, in ihr ist nichts verkehrt. In gewissem Sinn ist sie neutral, insofern als Dinge weder gut noch schlecht sind. Was sie zu einem Ort des Leidens macht, ist die Tatsache, daß wir nicht in ihr präsent sind; was sie zu einem Ort der Erfüllung macht, ist die Tatsache, daß wir in ihr präsent sind. Denn Erfüllung ist nichts anderes als die Fülle unserer Präsenz.

Die Welt ist wie eine Zaubershow. Ihr manifestiert, was immer ihr gerade empfindet. Wenn ihr leidet, dann manifestiert ihr Leiden, und wenn glücklich seid, dann manifestiert ihr dieses Glück und die Welt ist für euch ein Ort des Glücks. Wenn ihr Angst habt und haßt, dann werdet ihr dies manifestieren. Die Welt ist wie euer Traumleben; so einfach ist das. Euer Traumleben hängt sehr von eurer Psyche ab; es ist nicht Gott, der euer Traumleben bestimmt. Niemand anders zwingt euer Traumleben in die eine oder andere Richtung. Eure Träume sind ein Ausdruck dessen, wer ihr seid; es ist ein ganzes Universum in euren Träumen in Bewegung.

Wir sehen dasselbe in unserer kollektiven Welt – wir alle zusammen erzeugen alle möglichen Dinge, aber der Hauptteil dessen, was wir im Leben sehen und wie wir es sehen, hat mit Denken (mind) und damit zu tun, wofür wir uns halten. Ihr beklagt euch vielleicht jahrelang darüber, daß ihr keinen Freund oder keine Freundin habt. Ihr arbeitet vielleicht sehr intensiv daran, bis es an einem bestimmtem Punkt zu einer winzigen Verschiebung bei einem bestimmten Thema kommt, das sich entspannt, wenn ihr einen Teil von euch versteht. Dann scheint plötzlich ein Freund oder eine Freundin wie vom Himmel zu fallen, wie durch Zauberei. Es ist so, als hätte es einen Widerstand in euch gegeben, einen Teil, der keinen Freund oder keine Freundin haben wollte. Dasselbe Phänomen kann es bei allem geben – einem befriedigenden Job, genug Geld –, all den Dingen, nach denen die meisten Menschen streben. Ihr sucht vielleicht nach einer sinnvollen Arbeit, ihr arbeitet vielleicht an sehr vielen Konflikten, Selbstbildern und Problemen im Zusammenhang mit solch einem Job, aber nichts ändert sich; aber wenn ihr tief innen bereit seid, trifft es ein wie durch Zauberei. Von diesem Phänomen hat man mir Hunderte von Malen berichtet. Es kann das Unwahrscheinlichste auf der Welt sein, aber wenn ihr es mit ganzem Herzen wollt, dann manifestiert es sich wie durch Zauberei.

Eigentlich beeinflußt ihr eure Wirklichkeit vielleicht viel mehr, als ihr glaubt. Jemand möchte zum Beispiel mehr Klienten für seine Firma. Ich helfe vielleicht, was die Themen angeht, aber nichts ändert sich, bis plötzlich ohne ersichtlichen Grund Klienten aus dem Nichts auftauchen. Wie kommt das? Oft tritt so etwas ein, wenn jemand vollständig aufgegeben hat und mit allem aufhört, was er bis dahin dafür getan hat. Das Einzige, was man als Grund nennen könnte, ist nichts, nichts tun.

Wir trauen nicht der Macht und dem Reichtum unseres Seins. Wir gehen immer von der Perspektive von Mangel und Armut aus und sind davon überzeugt, daß wir so sind und von da aus an unser Leben herangehen sollten. Das ist für alle, die glauben, daß dies so ist, ganz in Ordnung, aber sie können sich auf Leiden einstellen. Wenn ihr mir nicht glaubt, können wir uns in 20 Jahren wieder sprechen.

Natürlich gibt es viele Kräfte, die uns zur Haltung des Suchens drängen. Wir haben eine Vielzahl von Begierden, sehr viel Menge Haß für uns selbst und andere und eine nicht enden wollende Ignoranz in Bezug darauf, wer wir sind und was Wirklichkeit ist. Ein Teil meines Ansatzes ist, daß wir all das erforschen müssen, damit die Kräfte und Energien, die die Suche motivieren, abnehmen und schließlich verschwinden. Aber von Anfang an müssen wir erkennen, daß Suchen Leiden ist und daß Suchen, von Natur aus, uns selbst allein läßt, daß die Aktivität des Suchens uns von unserer natürlichen Entfaltung abhält und unser Sein in weite Ferne rückt. Suchen ist Handeln von einer falschen Prämisse aus, während Verstehen ein natürlicher, gewöhnlicher Vorgang ist, der keine Anstrengung verlangt.

Schüler: Ich sehe, daß ich, besonders in letzter Zeit, viel Zeit damit verbringe, Wissen zu suchen. Ich lerne Dinge auswendig und versuche Dinge zu lernen; weil es einen Quiz darüber geben wird. Ich glaube, was ich fragen möchte, ist, wie ich damit auf eine Weise umgehen kann, die …

A. H. Almaas: Gut, ich sage dir, wie du es machen mußt. Ich lese alle möglichen psychologischen Bücher. Ich lese sie sehr genau. Aber ich lese sie, weil ich sie lesen möchte. Es geschieht spontan. Ich strenge mich nicht an. Ich bin wirklich interessiert. Gewöhnlich entsteht daraus eine Menge Verstehen, aber es ist eine spontane Aktivität, wenn ich ein Buch nehme und es lese. Aus dieser Perspektive kann man eine Menge absorbieren und das Wissen, das man sich so aneignet, kann sehr viel Verstehen in einem erzeugen. Man kann etwas über sich selbst oder über andere Menschen erkennen. Es hat mit Neugierde zu tun und es ist aufregend. Aus dem Grund lese ich das Buch sehr langsam, wenn ich es lese. Mein Ziel ist nicht, das Buch zu beenden. Mein Interesse ist, es zu lesen und den Inhalt zu verstehen. Da ist ein Vergnügen dabei, wie wenn jemand wirklich von einem Roman gepackt ist. Studieren kann auch so sein. Es sieht vielleicht nach Aktivität aus: Ich lese und suche und schaue durch die Anmerkungen und so weiter, aber in Wirklichkeit ist das keine Suche. Es ist eine spontan entstehende Aktivität, die sehr kreativ ist. Ich schaue mir also ein Buch an, und verstehe etwas nicht. Ich schaue im Wörterbuch nach und wirke dabei sehr angespannt. Jemand könnte den Eindruck haben, anscheinend suchte ich. Aber ich suche nicht. Ich genieße.

Schüler: Es scheint also davon abzuhängen, woher man kommt.

A. H. Almaas: Wenn etwas in dir von innen entsteht, das natürlich und spontan und tief ist, ist das nicht Suchen. Dein Sein kann in eine bestimmte Richtung fließen und aktiv sein, ohne daß es Ego-Aktivität ist. Ego-Aktivität ist vom Sein abgetrennt. Sein funktioniert nicht dementsprechend, was dein Geist sagt: „Du solltest dies nicht tun, du solltest jenes nicht tun. Dies ist gut oder jenes ist schlecht.“ Diese Haltung des Beurteilens, wie die Dinge sein sollten, führt nur zum Suchen. Auf der anderen Seite fließt deine Energie, dein eigenes Sein, manchmal in einem spontanen, mühelosen Strömen in einen bestimmten Kanal. In diesem Strömen gibt es kein Suchen.

Sehr viel Wissen und Verstehen kann aus so einer authentischen Aktivität entstehen und als wahres Verstehen integriert werden. Aus dem Grund können zwei Menschen ein Buch lesen und es auf verschiedenen Tiefenstufen verstehen. Der Unterschied besteht nicht darin, daß einer klüger ist, sondern daß er wirklich gepackt ist – der Impuls zum Verstehen kommt aus dem Herzen. Es ist nicht so, weil er mehr wissen oder erfolgreicher werden will. Das meiste, das ich gelesen habe, habe ich zu keinem erkennbaren Zweck gelesen. Ich wußte nicht, wohin es mich führen würde; ich war einfach interessiert. Auf diese Weise habe ich viel aus Büchern gelernt.

 

Ich bin sicher, daß jeder diese Erfahrung von Absorption gemacht hat. Man absorbiert etwas so ganz, weil man es genießt. Man liebt es. Manchmal ist Lesen eine schwere Aufgabe. Man muß sich hindurchkämpfen. „Wann bin ich fertig? Ich kann es nicht abwarten, zur letzten Seite zu kommen.“ Aber wenn ich ein Buch lese, zum Beispiel ein wissenschaftliches Buch, tue ich es nicht, um meine Kenntnisse zu erweitern. Ich erlange Wissen, das gehört dazu; aber es ist zugleich unterhaltend für mich. Ich lese Bücher über Objektbeziehungstheorie, wie manche Menschen Comics lesen. Ich genieße sie genauso. Manchmal ist etwas schwer zu verstehen, aber das ist in Ordnung. Es lohnt sich.

Ferner: ein anderer Faktor ist, warum man etwas liebt. Gewöhnlich ist es so: wenn euer Sein präsent ist, wenn ihr etwas tut, was ihr liebt, dann hat es nicht nur mit euch zu tun; es hat mit etwas Größerem zu tun. Was ich lese und studiere, hat gewöhnlich eine Beziehung zu meiner Arbeit. Mein Lesen ist nützlich für die Arbeit, die ich tue, und die Menschen, mit denen ich arbeite. Es ist nützlicher für sie als für mich. Aber diese Nützlichkeit übersetzt sich in meinen Genuß beim Lesen. So ist es in gewissem Sinn ein mitfühlender Akt. Aber die Tatsache, daß ich oft Dinge aus Mitgefühl und Anteilnahme für andere lerne, heißt nicht, daß ich mir Sorgen um andere mache und anderen helfen möchte. Das Handeln nimmt nicht diesen Verlauf. Es manifestiert sich in der Form, daß ich wirklich daran interessiert bin, und es mag. Es fühlt sich also an, als wäre es für mich. Es fühlt sich an, als wäre es ganz für mich allein, aber zugleich ist es nicht nur für mich. Und wenn das zutrifft, dann denke ich nicht darüber nach, ob es für andere oder für mich ist.

Wenn Sein präsent ist, hat es diese Wirkung– wenn ihr euch selbst Sein sein laßt, dann ist seine Natur selbst eine Quelle von Liebe (Love), eine Quelle von Mitgefühl (Compassion), eine Quelle von Intelligenz (Intelligence), Verstehen, Willen, Stärke und aller essentiellen Aspekte. Wenn wir in den Bereich von Suchen gehen, dann schneiden wir uns von diesen Dingen ab und wir empfinden Mangel. Wenn wir uns wirklich erlauben zu sein und wir lernen, unsere Erfahrungen zu verdauen, wie gesagt, was sich dann entwickelt, was auftaucht und reift, das ist die Persönliche Essenz. Die Persönliche Essenz ist das, was der Menschensohn (Son of Man) genannt wird. Ein anderer Ausdruck dafür ist der Sohn Gottes (Son of God). Weil wir dies sind, sind wir die Kinder des Seins. Wir sind die individuellen persönlichen Manifestationen des absoluten Seins. Wir sind Sein. Das steht fest, müssen nicht erst dahin gelangen. Es ist immer der wahre Zustand der Dinge; es kann nicht anders sein. Wenn wir nicht dieses Sein wären, hätten wir keine Bewußtheit (awareness).

Weihnachten ist nicht das Fest der Geburt und des Lebens eines Individuums; es ist das Fest der Geburt und des Lebens des menschlichen Individuums, des wahren essentiellen Menschen. Christus vertritt die gesamte Menschheit. Er war nicht nur ein besonderer Mensch. Seine Besonderheit besteht darin, daß er die wahre Bedeutung davon, ein menschliches Individuum zu sein, erkannte und verkörperte. Er ließ sich selbst offen sein. Er hatte den Mut, das zu tun, und war uns ein Modell. Wenn er sagt: „Ich bin der Sohn Gottes“, dann verstehe ich ihn so, daß jeder Mensch der Sohn Gottes ist, daß jeder Mensch wissen kann, daß er oder sie Kind Gottes ist. Wenn er von Gott als seinem Vater sprach, dann sprach er aus, was für uns alle Gültigkeit hat.

Wenn Gott unser Vater ist, warum gehen wir mit unserem Leben so um, als wären wir mangelhaft und arm? Nach etwas zu suchen ist für einen Menschen ein würdeloser Akt. Indem wir suchen, respektieren wir nicht, wer wir sind. Wenn wir die Kinder Gottes sind, dann sind wir an sich schon reich. Warum nach Dingen suchen, als ob wir nichts besäßen?

Wir müssen diese Haltung, arm zu sein, in Frage stellen, diese Haltung des Suchens und des Strebens nach etwas. Wir müssen es sehr objektiv anschauen. Wir müssen erkennen, wie es Leiden ist und wie es zu Leiden führt. Wir müssen auch erkennen, wie es die Quelle von Leiden ist und wie absolut unnötig und überflüssig es ist. Es geht nicht darum, das eine oder andere Problem zu lösen. Es geht darum, euch einfach sein zu lassen, euch selbst in Ruhe zu lassen und euch in euer eigenes Wesen niederzulassen.

Menschliche Reife

Um ein erfüllendes und lohnendes Leben zu leben, müssen wir wie Menschen leben. Unsere Probleme, unsere Konflikte, unser Leiden, unsere Enttäuschungen und unsere Mängel verdanken wir nicht den Ursachen, die wir ihnen gewöhnlich zuschreiben, sondern sie sind vor allem das Resultat der Tatsache, daß wir nicht so leben, wie wir leben sollen. Wenn ein Wesen nicht so lebt, wie es leben soll, dann wird sich die Abweichung von dem innewohnenden Potential dieses Wesens als Disharmonie, Konflikt, Problem oder vielleicht als physische oder mentale Funktionsstörung manifestieren.

Nur eine Lebensweise, die für uns natürlich und wahrhaft menschlich ist, wird uns von unnötigem Kampf und Hader befreien. Ein natürliches Leben ist nicht dadurch definiert, was irgendeine Autorität sagt; vielmehr ist es ein Leben, das in Einklang mit natürlichen Gesetzen des Funktionierens unserer Seiendheit (beingness), dessen, was wir wirklich sind, gelebt wird. Diese Tatsache wirklich ins Auge zu fassen, macht eine radikale Veränderung in der Weise nötig, wie wir uns selbst betrachten, und in der Weise, wie wir unser Leben führen. Da es in unserem Leben unnötigen Hader, Kampf und Schmerz gibt, müssen wir zuerst akzeptieren, daß das bedeutet, daß wir wirklich nicht wissen, was es heißt als Menschen zu leben. Wir müssen einsehen, daß wir wirklich nicht wissen, wie ein wirklich reifer Mensch lebt, oder was für Werte und Prinzipien das Leben eines solchen Menschen bestimmen.

Das erste, was wir dann konfrontieren müssen, ist der immer präsente, arrogante Glauben, daß wir zu wissen meinen, was ein Mensch ist, wie es ist, als Mensch zu leben, worum es im Leben eines Menschen geht und wie ein Mensch sich verhalten sollte. Nehmen wir einmal an, daß ein Mensch mit dem normalen Grad an Bewußtsein – bestehend aus emotionalen Reaktionen, Vorstellungen und Überzeugungen, die aus der Vergangenheit und von anderen Menschen stammen – noch kein Mensch ist. Er ist ein Abbild, eine Imitation, ein unfertiger Versuch, ein Mensch zu werden. Sein Potential ist nicht entwickelt. So ein Mensch wird von Einflüssen beherrscht, die nur Kinder beherrschen sollten.

Die Kräfte, die das Leben des gewöhnlichen Menschen beherrschen, sind nicht die, die das Leben von jemandem beherrschen sollten, der zum vollen Potential eines erwachsenen Menschen herangewachsen ist. Wenn wir weiter diesen Prinzipien, Werten und Einflüssen gemäß leben, bleiben wir auf einer kindlichen Entwicklungsstufe stehen. Ich sage nicht, daß das moralisch schlecht ist, sondern eher, daß es hinter dem Potential zurückbleibt, ein authentisch reifer Mensch zu sein. Wenn wir uns nicht erlauben, so zu wachsen, wie es uns bestimmt ist, dann führt das notwendigerweise zu Konflikt, Spannung, Leiden, Mißverständnis und Problemen in unserem Leben.

Um wirklich zu verstehen, was es heißt, ein reifer Mensch zu sein, müssen wir unsere Annahme in Frage zu stellen, daß wir wissen, was ein Mensch ist, wie ein Mensch sein Leben führen sollte, welche Prinzipien das Leben solch eines Menschen leiten sollten und was ein reifer Mensch tut. Wir sind mit den Prinzipien und Einflüssen vertraut, die den Geist eines gewöhnlichen Menschen beherrschen: Angst, Begehren, Gier, Unsicherheit, Konkurrenz, Eifersucht und alle möglichen elementaren Bedürfnisse. Diese Einflüsse sind die Spuren unserer Ahnen im Tierreich in uns, hinzu kommen Vorstellungen, Mißverständnisse und Vorurteile, die wir erworben haben. Diese Überzeugungen sind für eine bestimmte Stufe des menschlichen Lebens angemessen, aber nicht für alle Stufen. Sie passen zum Kind, aber ein Erwachsener sollte aus ihnen herausgewachsen sein. Ein echter, reifer Mensch ist ein Mensch, der nicht von solchen Einflüssen beherrscht ist.

Sicherheitsbedürfnisse wie das Bedürfnis nach Geld, Macht, Ansehen, Angenommensein und Bestätigung sind eigentlich Bedürfnisse eines Kindes. Diese Bedürfnisse drücken den Teil des Menschen aus, der unentwickelt und ungeschliffen bleibt. Sogar eine Vorstellung, die die meisten Menschen für selbstverständlich halten würden – die Vorstellung, daß ein Mensch glücklich sein sollte und Lust und nicht Schmerz und Leiden empfinden sollte –, ist kein Prinzip, das einen reifen Menschen beherrschen sollte. Dieses Prinzip beherrscht das ganze Tierreich, aber ein Mensch kann sich darüber erheben und mit höheren, verfeinerteren und befriedigenderen Werten leben.

Was wir, wie gesagt, also als Erstes tun müssen, ist, unseren Glauben außer Kraft setzen, daß wir nämlich wissen, was ein Mensch ist und worum es im Leben eines Menschen geht. Wir müssen uns eingestehen, daß wir nicht wissen, was es heißt, Mensch zu sein, oder erkennen, wenn wir doch etwas darüber wissen, daß wir nur sehr wenig wissen. Wir müssen anerkennen, daß es sehr viel mehr darüber zu wissen gibt, was es heißt, ein Mensch zu sein. Vielleicht habt ihr euch aus dieser Perspektive noch nicht in Frage gestellt. Vielleicht habt ihr die gewöhnlichen Ereignisse in eurem Leben dafür gehalten, worum es im Leben eines Menschen geht. Vielleicht seid ihr von der Richtigkeit der Prinzipien ausgegangen, die euer Leben und das Leben aller anderen, die ihr kennt, beherrschen.

Die Mehrheit der Menschheit lebt auf einer infantilen Stufe. Wir müssen diese Stufe notwendigerweise durchmachen, aber wir müssen nicht da stehenbleiben. Doch gehört es nicht zum allgemein akzeptierten gesellschaftlichen Wissensschatz zu verstehen, was ein wahrer Mensch ist oder was die Aufgabe eines Menschen ist. Weil die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit dieses Wissen nicht besitzt und auf einem unentwickelten Niveau funktioniert, bekommen wir keine Anleitung dafür, wie man erwachsen wird. Gesellschaft ist für die grundlegenden Sicherheitsbedürfnisse und sozialen Bedürfnisse von Menschen notwendig, aber der Mensch braucht mehr als das. Die Erfüllung des wahren menschlichen Potentials verlangt, daß viel tiefere, subtilere und feinere Bedürfnisse befriedigt werden.

Innere Arbeit wie unsere legt die animalischen und kindlichen Einflüsse und Bedürfnisse offen, die unser Leben beherrschen, und führt dazu, daß unsere verfeinerteren Aspekte Einfluß auf unser Leben ausüben. So sehr überzeugt sind wir von unserer niedrigen und mangelhaften Natur, daß wir in diesem Prozeß oft wirklich versuchen, die feineren Elemente dessen, wer wir sind, zu benutzen, um unsere elementaren Bedürfnisse zu befriedigen. Ein Beispiel für dieses Muster ist der Gebrauch essentieller oder spiritueller Erfahrung, um sich den Mitmenschen überlegen zu fühlen. Doch unsere Seiendheit (beingness) und ihre Fähigkeiten sind nicht dazu da, die Bedürfnisse der Persönlichkeit zu befriedigen, wie das Bedürfnis nach Bestätigung, Anerkennung, Liebe, Angenommensein, Sicherheit, Macht oder sogar Lust oder Freude. Die feineren Elemente der menschlichen Seele sind da, um eure Persönlichkeit zu transformieren, damit sie aus diesen kindlichen Mustern herauswächst. Kontakt mit essentiellen Eigenschaften soll eine Wirkung darauf haben, wer ihr seid, damit ihr reife Menschen werden und sein könnt, wozu ihr bestimmt seid. Diese feineren Elemente sind nicht dazu da, in uns verschlossen zu sein, um uns ein Gefühl zu vermitteln, daß wir etwas geschafft haben oder um uns auf andere Weise ein gutes Gefühl zu geben. Das Bedürfnis, sich gut zu fühlen, ist das Bedürfnis eines Kindes oder eines Teenagers. Ihr denkt vielleicht, wenn ihr glücklich seid und ganz viel Spaß habt, dann habt ihr es geschafft. Gut, ja, ihr habt es geschafft, als Teenager. Das ist immer noch weit davon entfernt, ein reifer Erwachsener zu sein.

Das Lernen, das wir hier praktizieren, und die Art Erfahrungen, die es in uns erzeugt, bilden eine bestimmte Art Nahrung, die uns hilft, erwachsen zu werden. Diese Erfahrungen verändern uns, und diese Veränderung wird sich als eine Transformation der Werte und Prinzipien manifestieren, die unser Leben beherrschen. Während diese Transformation sich auf unser ganzes übriges Leben auswirken wird, wird sie am deutlichsten in unseren Beziehungen sichtbar sein, da heißt, wie wir uns als Individuen zu anderen menschlichen Individuen verhalten.

Wenn ihr innere Erfahrungen davon habt, daß ihr Wert (Value) und Mitgefühl und Klarheit und Frieden seid, euch zu anderen Menschen aber immer noch wie ein wimmerndes Kleinkind verhaltet, dann hat eure Arbeit ihre Aufgabe noch nicht erfüllt. Diese Qualitäten sind nicht nur zu eurem Vergnügen da. So sieht ein Kind die Dinge. Ein reifer Mensch kann diese Erfahrungen gut gebrauchen und wirklich auf eine Weise leben, die diese realen menschlichen Qualitäten verkörpert.

 

Der Zweck der Tatsache, daß wir Erfahrungen der verfeinerten Elemente unserer Natur haben, ist nicht, daß wir sie wie Geld auf einem Sparkonto anhäufen, damit wir sie benutzen können, um uns ein Gefühl zu geben, daß wir etwas besitzen. Wenn ihr nach solchen kindischen Prinzipien handelt, dann hat sich etwas in euch noch nicht verändert. Es ist nicht das Ziel der inneren Arbeit, kindische Bedürfnisse zu befriedigen. Das Ziel der inneren Arbeit ist es, euch zum Wachsen und Reifen anzuleiten, damit ihr im Einklang mit eurer wahren Natur leben könnt.

Obwohl es bei der inneren Arbeit nicht darum geht, kindliche Bedürfnisse zu befriedigen, bedeutet das nicht, daß wir diese Bedürfnisse ablehnen oder abwerten müssen. Im Gegenteil: Sie müssen anerkannt und verstanden werden, damit ihr erkennen könnt, daß ihr nicht wirklich Kinder seid, und sie loslassen oder über sie hinausgehen könnt.

Aus dieser Perspektive sehen wir, daß die innere Arbeit, die wir hier tun, nicht einfach ist; sie ist nicht leicht. Sie soll auch nicht leicht sein. Sie beruht nicht auf den Werten und Prinzipien, die die meisten Menschen mitbringen, sondern auf völlig anderen Werten. Zu einem großen Teil der Arbeit hier gehört die Reibung zwischen diesen zwei Wertsystemen. Die Interaktion zwischen ihnen führt zu einem Schleifen, einem Schärfen, das die alten Überzeugungen und die kindlichen Muster freilegen soll, damit wir sie aufgeben können. Das bedeutet nicht, daß Menschen kein Recht darauf haben, ihr Leben dementsprechend zu leben, was wir kindliche Werte und Prinzipien nennen. Jeder hat das Recht, das zu tun. Aber ein Mensch, der sich dafür entscheidet, die innere Arbeit zu machen, ist ein Mensch, der schon fühlt, daß er erwachsen werden möchte. Er hat bereits eine Ahnung davon, daß kindliche Werte uns nicht voranbringen. Die Funktion der inneren Arbeit ist es, das Wachstum reifer Menschen zu unterstützen, nicht Babys zu füttern oder zu trösten.

Die innere Arbeit, die wir hier tun, ist die Art von Arbeit, die jeder Mensch machen muß, um wahrhaft erwachsen zu werden. Sie ist schwierig, sie erfordert viel Zeit, sie ist komplex und dazu gehört viel mehr, als ihr euch zu Beginn vorstellen könnt. Wenn ihr hierher kommt, dann kommt ihr mit vielen Vorstellungen und Überzeugungen davon, was diese Arbeit für euch leisten wird. Wenn ihr dabei bleibt, dann werdet ihr merken, daß die innere Arbeit nicht nur Erwartungen erfüllt, sondern tausend Dinge mehr. Ihr werdet auch feststellen, daß ihr, um aufrichtig an euch zu arbeiten, damit ihr zu einem reifen Menschen heranwachsen könnt, noch sehr viel mehr tun müßt, als ihr gedacht habt. Weil zu einem Menschen viel mehr gehört, als ihr ursprünglich geglaubt habt. Der Prozeß der Reifung verlangt ganz viel Arbeit, ganz viel Mühe, ein hohes Maß an Entschlossenheit und reichlich Geduld.

Nach ein paar Monaten oder Jahren der inneren Arbeit seid ihr vielleicht besser in der Lage, eure Emotionen zu fühlen und auszudrücken und mit eurem Körper mehr in Kontakt zu sein. Vielen Menschen genügt das. Aber das ist nur der erste, elementarste Schritt bei der inneren Arbeit. Dieser Schritt ist notwendig und wichtig, wir betrachten ihn jedoch nicht als das Ziel. Ein Mensch sollte letztlich nicht von seinen Emotionen oder körperlichen Empfindungen beherrscht werden. Wie gesagt, wenn eure Vorstellungen vom Gewinn der inneren Arbeit und weiterhin von euren emotionalen und physischen Begierden bestimmt werden, werdet ihr eine große Enttäuschung erleben. Um euch wirklich auf diese innere Arbeit einzulassen, müßt ihr bereit sein, eure Überzeugungen davon, worum es im Leben geht, aufgeben. Ihr müßt den Mut haben zu sagen: „Ich weiß nicht“. Und dann braucht ihr noch mehr Mut, um zu spüren, daß ihr wissen wollt.

Wenn wir also mit der inneren Arbeit beginnen, müssen wir an den emotionalen Teilen unserer Persönlichkeit arbeiten. Dann arbeiten wir, um unsere vorgefaßten Meinungen, Annahmen und Überzeugungen über Wirklichkeit und uns selbst freizulegen. Später machen wir vielleicht Erfahrungen von Essenz in ihren verschiedenen Stufen und Aspekten, und die innere Arbeit wird die Integration dieser unserer verfeinerten Elemente. Dann muß die ganze Persönlichkeit selbst im Einklang mit diesen unseren tieferen Elementen umgebildet und transformiert werden. Wir müssen verfeinertere Menschen, reifere Menschen, entwickeltere Menschen, echtere Menschen werden. Dann können wir vielleicht das Leben eines wahren erwachsenen Menschen leben.

Dieser Prozeß ist lang und komplex, und natürlich verläuft er bei jedem Menschen anders. Aber für jeden bedeutet er eine lange, harte Arbeit. Ihr müßt viel von eurer Psyche (mind) verstehen, von euren Emotionen, davon, welche Muster euren Charakter ausmachen, und was euch veranlaßt, euch so zu verhalten, wie ihr euch verhaltet. Dies braucht Zeit und Geduld. Der Prozeß bringt sehr viel Schmerz und Schwierigkeit mit sich, obwohl er auch erheiternd, freudvoll und aufregend ist. Viel Ausdauer ist nötig, um eure essentiellen Aspekte wahrzunehmen und sie dann zu verwirklichen und zu integrieren. Nichts davon ist leicht, und niemand wird es euch abnehmen. Der Lehrer kann euch nur anleiten, indem er auf Dinge hinweist; ihr müßt die Arbeit selbst tun, und es ist sehr viel schwierige Arbeit. Und in der Gesellschaft, in der wir leben, gibt es für diese Art Prozeß keine Unterstützung. Unsere soziale Umgebung erkennt solch eine Entwicklung nicht an, versteht sie nicht und unterstützt sie nicht. Ihr wurdet von dieser Gesellschaft konditioniert, also sind die Hindernisse, von denen ihr euch befreien müßt, zahlreich und mächtig, und sie durchdringen euer Denken und eure Persönlichkeit.

Die Arten von Verstehen, die Arten von Wahrnehmungen, die Arten von Erfahrung und die Arten von Einsichten, die ihr durchleben müßt, sind zahlreich und finden auf vielen Ebenen und in vielen Dimensionen statt. Ihr bewegt euch von einer Stufe zur anderen, hin und her, und dazu braucht man Geduld und Mitgefühl mit sich selbst. Dazu braucht man die großzügige, realistische und reife Haltung zum Leben, daß ihr, wenn ihr etwas wollt, dafür arbeiten müßt. Niemand kann es euch abnehmen und für euch tun und niemand kann es euch geben, weil ihr es seid.

Wir sollten uns für glücklich halten, wenn wir jemanden finden, der etwas davon versteht, wie man an diesen Prozeß herangeht, und der an der Entwicklung eures menschlichen Potentials wirklich interessiert ist. So ein Mensch ist in menschlicher Gesellschaft selten, man sollte ihm äußerste Wertschätzung und Dankbarkeit entgegenbringen. Jede Arbeit, die euch bei diesem Prozeß hilft, sollte hoch geachtet und gewürdigt werden, denn dies bedeutet, euer eigenes Potential und das der Menschheit im Allgemeinen zu respektieren und wertzuschätzen. So eine Arbeit sollte über alles andere gestellt werden, weil sie letztlich über allem steht. Sie sollte zuallererst über die eigenen kindischen Werte, Prinzipien und Einflüsse gestellt werden. Das ist es, was man braucht. Dies ist kein moralischer Standpunkt, sondern ein praktischer. Die innere Arbeit muß auf diese Weise gemacht werden, sonst geht es nicht.