Killer sind auch nur Mörder: 7 Strand Krimis

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7


„Der Boss empfängt keine Presseleute“, erklärte Harry Brother mürrisch. Er saß im Vorzimmer von Greenes Büro, einem Raum, der gerade groß genug war, einen Schreibtisch, einen Garderobenständer und zwei Besucher aufzunehmen vorausgesetzt, dass sie keinen Anspruch auf Sitzplätze erhoben. An den Wänden hingen knallige Poster mit erotischen Motiven.

Harry Brother war ein kleiner, schiefgesichtiger Mann von neunundzwanzig Jahren, dessen deformiertes Gesicht immer noch in sehr viel besserem Zustand war als sein Charakter. Er war Greenes rechte Hand.

„Bei mir wird er eine Ausnahme machen“, sagte Roberto. „Nennen Sie ihm meinen Namen. Ich heiße Briggs. Rick Briggs.“

„Mir ist es scheißegal, wie Sie heißen. Herbie hat die Nase voll. Wie wäre Ihnen wohl zumute, wenn man Ihnen die Puppe aus den Armen pustete? Verschwinden Sie! Herb hat gesagt, was er weiß, er hat es ein Dutzend Mal wiederholt und ist nicht in der Stimmung, die verdammte Platte nochmal abzuleiern.“

„Rick Briggs“, sagte Roberto mit der souveränen Ruhe, die seine Persönlichkeit prägte. „Geben Sie ihm den Namen durch.“

Harry Brother seufzte. „Okay, damit Sie Ruhe geben.“ Er griff nach dem Telefonhörer. „Hier ist so’n Verrückter von der Presse“, erklärte er. „Heißt Brigg Ricks oder so ähnlich. Ja, Rick Briggs. Bildet sich ein, dass ... Wie, bitte?“ Seine Augen weiteten sich. „Okay, Boss, okay. Ich schicke ihn auf der Stelle rein! Was?“ Er schob die Unterlippe nach vorn und nickte, als könnte er dem Sprecher zeigen, dass er dessen Worte verstand und akzeptierte.

Brother blinzelte beim Auflegen. „Ihr Name hat offenbar das gewisse Etwas“, spottete er. „Spazieren Sie ’rein. Der Boss macht eine Ausnahme.“

Roberto betrat Greenes Privatoffice. Greene saß hinter seinem anthrazitfarbigen Metallschreibtisch in einem Raum, der zur Hälfte als Lager genutzt wurde und an dessen Wände bis unter die Decke Kisten, Kästen und Kartons gestapelt waren. Greenes Kinnladen bewegten sich träge kauend, in seinem Blick war eine drohende, hellwache Neugier. Er trug unter seinem grauen Fischgrätsakko einen dünnen, roten Rollkragenpullover und betonte mit ihm das dichte, drahtige Weiß seines Haares.

Roberto schloss die Tür hinter sich. In seinem Inneren schlug eine Alarmglocke an. Er glaubte zu wissen, was der merkwürdige Glanz in den Augen des Weißhaarigen zu bedeuten hatte.

„Setzen Sie sich“, sagte Greene.

Er stand nicht auf. Er saß gleichsam auf dem Sprung. Sein rechter Ellenbogen parkte auf der Schreibtischplatte, sein Oberkörper war vorgeneigt, seine Blicke ließen das Gesicht des Besuchers nicht los.

Roberto befolgte die Aufforderung.

„Ich bin ziemlich fertig“, sagte Greene. „Fix und fertig, um genau zu sein. Dieses Erlebnis hat mich geschafft. Für welche Zeitung schreiben Sie?“

„Ich arbeite für eine Agentur“, sagte Roberto. „Sie kennen meinen Namen.“

„Mir ist es, als hätte ich ihn schon mal gehört, aber ich weiß nicht wo. Helfen Sie mir auf die Sprünge“, meinte Herb Greene.

„Cindy hat ihn erwähnt.“

„Sie kannten mein Mädchen?“

„Ich habe einige Male mit ihr telefoniert“, sagte Roberto.

„Rick Briggs. Ja, kann sein, dass Cindy Ihren Namen erwähnt hat“, murmelte Herb Greene.

„Ich hatte vor, sie im 'Plaza' zu treffen“, sagte Roberto.

„Haben Sie eine Ahnung, wer sie getötet haben könnte?“, fragte Greene.

„Ja, aber das ist nicht wichtig. Nicht im Augenblick. Was zählt, ist der Mann, der Cindy verraten hat. Ich weiß, wer es ist. Und Sie wissen es auch.“

„He, wovon reden Sie überhaupt?“

„Von Cindys Tod. Sie wussten, was Cindy im 'Plaza' erwartet. Sie haben dem Killer den entscheidenden Hinweis geliefert“, sagte Roberto.

Greene schwieg ein paar Sekunden, dann sagte er sehr langsam: „Ich könnte jetzt aufspringen und versuchen, Ihnen die Fresse zu polieren. Aber warum soll ich mich aufregen? Sie versuchen mich aus der Reserve zu locken, aber mit dieser Masche legen Sie mich nicht aufs Kreuz. Ich bin unschuldig an Cindys Tod. Verdammt, ich habe sie geliebt. Ein Mädchen wie sie läuft mir kein zweites Mal über den Weg. Ihr Vorwurf ist so dumm, dass ich mir die Mühe ersparen sollte, mich mit Ihnen zu unterhalten.“

„Ich habe Sie beim Tanzen beobachtet“, sagte Roberto. „Offene Figuren bei einem Slow. Das fiel mir auf. Ich fand es merkwürdig, wissen Sie. Der langsame Rhythmus lud zu anderen Dingen ein. Erst später wusste ich, warum Sie sich das Mädchen strikt vom Leibe hielten. Ihnen war klar, dass der Killer sie im Fadenkreuz hatte. Sie schwitzten vor Angst bei dem quälenden Gedanken, dass der Schütze das Mädchen verfehlen und stattdessen Sie treffen könnte.“

„Sie haben eine blühende Fantasie“, sagte Greene kaum hörbar. „Ich könnte Sie bewundern, aber mir ist nicht danach zumute. Haben Sie überhaupt eine Ahnung, wie mich das Geschehen mitgenommen hat?“

„Ich beobachte genau, das ist alles“, sagte Roberto ungerührt. „Sie wissen, dass ich nicht Rick Briggs heiße, und ich weiß, dass Sie es wissen. Das ist die Lage. Cindy wollte ein paar Superbosse aus dem Verkehr ziehen, vielleicht auch nur einen. Sie wollte mir die dafür notwendigen Informationen im 'Plaza' liefern. Ich wette, sie hat mit Ihnen darüber gesprochen. Nicht gerade im Detail, aber in groben Umrissen. Sie hielten es für angezeigt, daraus Kapital zu schlagen. Dass Sie dabei Cindys Leben aufs Spiel setzten, war Ihnen gleichgültig. Sie haben Cindy auf dem Gewissen, Greene.“

Herb Greene lehnte sich zurück. „Was für ein Blech“, sagte er. „Absoluter Quatsch! Wer so etwas in die Welt setzt, sollte vorsichtig sein. Was sich nicht beweisen lässt, wird leicht zum Bumerang.“

„Ich bin dabei, den Beweis zu erbringen.“

„Sie reden eine Menge Unsinn daher, das ist alles“, knurrte Greene.

„Was fühlten Sie, als das Mädchen blutüberströmt zu Boden sank?“, fragte Roberto.

Herb Greene holte tief Luft, dann gab er sich einen Ruck. Er öffnete die Schreibtischschublade und riss einen Revolver daraus hervor. Greene richtete die Waffenmündung auf sein Gegenüber und stellte drohend fest: „Sie sind einen Schritt zu weit gegangen!“

Roberto rührte sich nicht. Sein Blick verriet keine Furcht, er klebte an dem kleinen, hässlichen Stahlloch, aus dem jederzeit der Tod hervortreten konnte.

Herb Greene war leichenblass. Er hatte Mühe, seine Erregung zu verbergen. Unter seinen Augen waren dunkle Schatten. Er hatte eine schlaflose Nacht hinter sich.

„Ich sollte Sie jetzt und hier umlegen“, keuchte er. „Sie hätten es verdient. Aber ich bin kein Killer. Das ist Ihr verdammtes Glück. Trotzdem muss ich Sie warnen. Ich dulde es nicht, dass jemand so mit mir spricht – wer es auch sei. Ich lasse mich nicht beschimpfen.“

„Oh, beschimpfe ich Sie? Sie verdienen es, aber ich halte mich lieber an die Fakten. Die sind schlimm genug“, sagte Roberto.

Greene ließ den Revolver sinken. Auf seiner Stirn glänzten kleine Schweißtropfen. „Worüber rege ich mich auf? Was Sie da treiben, ist bewusste Provokation. Ich wüsste gern, was Sie damit bezwecken.“

„Das ist doch klar. Ich will, dass Sie für das von Ihnen begangene Verbrechen geradestehen.“

„Sind Sie ’n Bulle?“

„Nein.“

„Wer bezahlt Sie?“

„Wie soll ich Ihnen das verständlich machen?“, spottete Roberto. „Jedenfalls stehe ich nicht auf der Seite derjenigen, die Ihnen den Auftrag gaben, an Cindys Tod mitzuwirken.“

„Das ist infam. Ich habe Cindy geliebt“, schrie Greene, in dessen Augen plötzlich Tränen standen.

„Mag sein. Aber noch mehr liebten Sie das Geld – oder Sie hatten ganz einfach Angst, dass man Sie mit Cindy in einen Topf werfen und kurzerhand aus dem Verkehr ziehen könnte“, sagte Roberto.

„Ich bin unschuldig, ich schwöre es Ihnen“, murmelte Greene. Seine Worte klangen flach, sie waren ohne Überzeugungskraft.

Roberto erhob sich und rückte seine Krawatte gerade. Er war an diesem Morgen konservativ gekleidet, und sein Aussehen hatte keine Ähnlichkeit mehr mit der Aufmachung, die ihn bei seinem Besuch im 'Plaza' ausgezeichnet hatte. „Sie haben noch ein paar Stunden Zeit“, sagte er. „Überlegen Sie sich das Ganze.“

„Was soll ich mir überlegen?“

„Wie Sie das Blut abwaschen können, das an Ihren Händen klebt“, sagte Roberto. „Es gibt nur einen Weg. Nennen Sie mir die Hintermänner des Killers.“

„Warum nicht gleich den Mörder selbst?“, höhnte Greene und stand gleichfalls auf. Er warf den Revolver in die Schublade zurück.

„Den kenne ich.“

Herb Greene schluckte und bekam schmale Augen. Die gelassene, selbstsichere Art seines Besuchers entnervte ihn. Greene war es nicht gewöhnt, sich auf diese Weise ins Bockshorn jagen zu lassen. Er hielt sich für eine starke Persönlichkeit. Umso mehr ging es ihm unter die Haut, dass „Briggs“ das Geschehen auf seine Weise diktierte. Greenes Augen begannen zu funkeln. Wenn Harry mit der gewohnten Schnelligkeit handelte und tat, was ihm am Telefon aufgetragen worden war, stand „Briggs“ vor seinem Waterloo, er wusste es bloß noch nicht.

 

„Bis heute Abend“, versicherte Roberto. „Sie hören von mir.“

„Warten Sie noch einen Moment ...“, rief Greene.

Roberto verlangsamte das Tempo, blieb aber nicht stehen. Er hatte sich seinen eigenen Vers auf die Weisungen gemacht, die der schiefgesichtige Mann im Vorzimmer am Telefon bekommen haben mochte. Er war nicht bereit, die Folgen abzuwarten.

Greene kam um den Schreibtisch herum. „Ich will nicht, dass Sie so weggehen“, sagte er.

Roberto öffnete die Tür. Brother war aus dem Vorzimmer verschwunden. Der kleine Raum war leer. Roberto wandte sich Greene zu. „Fassen Sie sich kurz“, sagte er.

„Cindy war wundervoll, aber in einem Punkt tickte sie nicht sauber“, meinte Greene, dem es darum ging, Roberto bis zu dem Zeitpunkt aufzuhalten, wo Harry mit der Schlägertruppe zurück sein würde.

„Nämlich?“, fragte Roberto.

„Sie konnte einfach nicht vergessen, dass man ihr diesen Hillary weggenommen hatte“, sagte Greene. „Cindy sah das völlig falsch, wissen Sie. Hillary ist ein Mann, der die Abwechslung liebt – und der sie sich leisten kann. Welcher Millionär heiratet schon ein mittelloses Modell? So was gibt’s bloß in Romanen. Aber in Cindys Augen war alles das Werk einer großen Intrige, sie hielt Wingate für den Schuldigen.“

Greene legte den Kopf schief. Vielleicht war es falsch, den Namen des großen Bosses zu erwähnen, aber noch blieben die Worte ja Hypothese, damit konnte „Briggs“ nicht viel anfangen.

„Ich habe versucht, ihr das auszureden“, meinte Greene. „Es war sinnlos. Dann machte Cindy ihren zweiten großen Fehler. Sie konstruierte aus Halbwahrheiten und Gehörtem die sogenannten 'Informationen', eben die Hinweise, mit denen sie Ihnen imponieren und sich selbst ein bisschen Luft verschaffen wollte. Ich habe ihr geraten, vorsichtig zu sein. Mit Wingate ist nicht zu spaßen. Verdammt, ich behaupte nicht, dass Wingate den Mord veranlasste, dazu hatte er keinen Grund. Ich sage nur, dass ich Cindy gewarnt habe.“

„Sie drehen und wenden sich wie ein getretener Wurm“, erkannte Roberto verächtlich. „Bis heute Abend. Ich hoffe, dass Sie mir dann mehr zu sagen haben werden.“

Er betrat das Vorzimmer.

In diesem Augenblick öffnete sich die Außentür. Sie führte geradewegs in einen von Greenes Second-Hand-Läden. Im Rahmen der Tür zeigten sich zwei Gorilla-Typen. Sie waren nicht älter als fünfundzwanzig und dreißig und hatten die grobschlächtigen Gesichter von Leuten, die es lieben, ihr Durchsetzungsvermögen mit den Fäusten zu demonstrieren.

„Hallo, Boys“, sagte Greene. Er war sichtlich erleichtert. „Das ist der Kerl. Nehmt ihn auseinander bis zu dem Punkt, wo er kooperationswillig wird. Ich gebe euch grünes Licht dafür.“




8


Die Männer grinsten. Der Jüngere hatte kupferrotes Kräuselhaar und eine weiße, sommersprossige Haut, die am Kinn stark mit Pickeln besetzt war. Der zweite Mann besaß dunkles, gescheiteltes Haar, fast schwarze Augen und makellos gewachsene Zähne. Beide Männer trugen Jeans und Sportblousons.

Sie griffen sofort an. Roberto wich zurück, er ließ die Gegner kommen. Die Männer versuchten, ihn in die Zange zu nehmen. Es schien, als sollte ihnen das gelingen, aber dann zeigte sich, dass Roberto imstande war, ihr Manöver zu durchkreuzen.

Er zuckte jäh zurück, packte die Männer am Nacken und knallte ihre Schädel zusammen. Der Anfangserfolg war spektakulär, aber nicht frei von negativen Begleiterscheinungen. Robertos Attacke machte die Männer stocksauer. Sie kamen erst richtig in Schwung und brannten darauf, es ihrem Kontrahenten heimzuzahlen.

Roberto beging nicht den Fehler, beide Männer gleichzeitig zu bekämpfen. Er konzentrierte sich jeweils auf einen und nahm es hin, dass er dabei vom anderen Prügel bezog. Das war riskant, aber die Situation ließ andere Varianten nicht zu.

Roberto steckte viel ein, aber er ging nicht zu Boden. Er blieb beweglich, hielt den Kampf offen und schickte seine Gegner abwechselnd auf die Matte.

Sie waren sofort wieder auf den Beinen, wie Stehaufmännchen. Sie ließen ihre Fäuste fliegen und versuchten, Roberto unterhalb der Gürtellinie zu erwischen.

Roberto blockte die gefährlichsten Schläge ab. Als er merkte, wozu die Männer fähig waren, änderte er Technik und Methode. Er würzte seine Abwehraktionen mit Karateschlägen.

Das Keuchen, Stampfen und Fluchen und das dumpfe Dröhnen der Schläge nahmen zu, die Auseinandersetzung wurde grimmiger und verbissener. Roberto hob den Rothaarigen hoch und schleuderte ihn auf den Schreibtisch. Der Rothaarige drehte sich wie ein Kreisel, er fegte die Platte sauber, ließ Akten, Papiere und Schreibutensilien durch die Luft fliegen und knallte dann mit ihnen zu Boden.

Der brüllende Schmerz eines empfangenen Nierentreffers raubte Roberto die Luft. Er zuckte trotzdem herum und schickte seine Rechte in das verzerrte Gesicht des Angreifers. Der kippte nach hinten weg, schaffte es aber, sich noch im Fall durch einen Reflex vor dem endgültigen Sturz zu bewahren.

Der Rothaarige tauchte hinter dem Schreibtisch auf. Er hielt ein Stilett in der Hand. Es gehörte zu Greenes Schreibtischausrüstung und diente normalerweise als Brieföffner.

Roberto schnappte nach Luft. Der wühlende, stechende Schmerz in seiner Nierengegend war von lähmendem Effekt. Zum Glück war eine kurze Kampfpause eingetreten. Der Rothaarige kam mit dem Stilett hinter dem Schreibtisch hervor, leicht geduckt und sprungbereit. Er suchte mit verkniffenen, hasserfüllten Augen seine Chance.

Herb Greene und Harry Brother standen auf der Türschwelle. Sie gaben sich vorerst damit zufrieden, dem Kampf als stumme Beobachter beizuwohnen, aber etwas in Greenes Augen signalisierte, dass er durchaus bereit war, dem Kampf notfalls durch sein Eingreifen die entscheidende Wende zu geben.

„Gib’s ihm, Red!“, keuchte der Dunkelhaarige.

Der Rotkopf schnellte sich ab. Roberto biss die Zähne zusammen und handelte wie einer, der sich schmerzfrei auf seine Reflexe verlassen kann. Mit einem Sidestep entkam er der gefährlichen Attacke. Sein Handkantenschlag war von präzisem Timing. Er traf den Angreifer und fällte ihn wie einen Baumstamm.

Noch ehe die Zuschauer sich von ihrer Überraschung erholt hatten, griff Roberto erneut an. Er nagelte dem anderen Typ die Faust auf den Punkt. Der drehte sich ab und sackte in die Knie. Seine Augen wurden glasig. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder, dann kippte er um.

Roberto holte tief Luft. Er schaute Greene in die Augen. Dem war plötzlich die Lust auf ein Eingreifen vergangen. Harry Brother machte sich noch vor seinem Chef aus dem Staub. Er hatte keine Lust, eine ähnliche Lektion wie die Schläger zu beziehen.

Greene versuchte etwas zu sagen, aber ihm fiel nichts Passendes ein. Ihm war klar, dass er bis zum Hals im Dreck steckte.

„Bis heute Abend“, sagte Roberto schwer atmend und rückte seine verrutschte Krawatte zurecht. „Ich bin sicher, dass Sie es nicht vergessen werden.“

Dann ging er.




9


Archie Wingate kam aus dem Bad. Er hatte sich ein dunkelblaues Frottiertuch um die Hüften geschlungen. In eine Ecke des weichen, flauschigen Tuches waren seine Initialen eingestickt. Sie fanden sich überall in der Sechs-Zimmer-Penthouse-Wohnung, auf Gläsern und Flaschen, auf Kissen, Morgenmänteln und sogar Pantoffeln. Wingate war ein Mann, der seine Initialen liebte, und wer ihm zu schmeicheln versuchte, redete ihn einfach mit A. W. an.

Wingate war siebenunddreißig und besaß eine Figur von Modellcharakter. Er opferte täglich eine volle Stunde Zeit, um sich in Form zu halten und wachte aufmerksam darüber, dass seine Idealmaße erhalten blieben.

Er war verheiratet mit Babs, einer geborenen Gonella, der Tochter von Don Bruno, einem der einflussreichsten Mafiabosse der Stadt.

Obwohl Archie Wingate es geschickt verstand, diese Familienbindung zu nutzen, war er nur selten Gast seiner Schwiegereltern, die die Verbindung nicht ohne Einwände hingenommen hatten und in Archie einen Aufsteiger sahen, der es gelegentlich am rechten Augenmaß fehlen ließ.

Archie kannte die Spielregeln der Mafia, schließlich hatte er ihr selbst einmal als Leutnant angehört. Er bemühte sich, diese Regeln nicht zu verletzen. Er pfuschte seinem Schwiegervater und dessen ehrenwerten Gesellschaftern nicht ins Handwerk, wenn es um so traditionelle Einnahmequellen wie Schmuggel, Falschspiel, Prostitution und Rauschgifthandel ging. Stattdessen war Archie seit Langem bemüht, sich eigene Verdienstmöglichkeiten zu schaffen, und zwar dort, wo sie nicht die Bezirke der alteingesessenen Mafiosi verletzten.

Natürlich war es in einer Stadt wie Chicago so gut wie unmöglich, ein illegales, florierendes Rackett aufzuziehen, ohne sich früher oder später mit denen anzulegen, die ein Monopol auf derlei Einnahmen zu haben glaubten. Aber Archies genialer Schachzug, die Tochter des Dons zu heiraten, hatte ihn bislang vor ernstzunehmenden Schwierigkeiten bewahrt.

Die meisten hielten ihn für ein Mitglied des großen, allmächtigen Mafia-Clans. Archie war clever genug, diesen Eindruck beständig zu nähren, aber tatsächlich war er kein offizielles Mitglied der Organisation. Was ihn betraf, so hatte er auch nicht die Absicht, es zu werden. Er hasste Abhängigkeiten und legte Wert darauf, sein eigener Herr zu sein.

Er wusste, dass er nicht im luftleeren Raum operierte und taktierte geschickt, wenn es darum ging, den Mafiosi ein paar Konzessionen abzukaufen. Das gehörte zum Geschäft und tat ihm nicht weh. Damit hielt er sich den Rücken frei für sein ständig wachsendes Einnahmevolumen.

Archie Wingate war hochgewachsen und dunkelhaarig. Er hatte ein bisschen Ähnlichkeit mit Rock Hudson und versuchte, dessen Lächeln zu kopieren. Was dabei herauskam, hatte allerdings nur wenig mit dem Charme des Originals zu schaffen, es fiel stets um ein paar Nuancen zu schief und verschlagen aus.

Archie Wingate betrat das Schlafzimmer. Auf dem breiten Bett räkelte sich Linda Dorsey, die erst kürzlich von New York nach Chicago gekommen war – einem Mann zuliebe, der sie hatte sitzenlassen müssen, weil seine vermögende Frau der Eskapade ein Ende gemacht hatte.

Sie hieß eigentlich Linda Dobroczin, aber seitdem sie in der Modellbranche tätig war, schmückte sie sich mit dem eindrucksvolleren Namen.

Linda war zwanzig. Sie trug in diesem Augenblick auf ihrem schimmernden, biegsamen Leib nur ein Platinkettchen mit Namensplatte. Es zierte ihr rechtes Fußgelenk. Linda war schön und wusste es. Ihr schulterlanges Blondhaar war leicht getönt und schimmerte in einem sanften Rotton.

 

„Hallo“, hauchte sie.

Es war zweifellos eine Auszeichnung, in Archie Wingates Schlafzimmer gebeten zu werden. Archie zeigte sich im Allgemeinen recht großzügig, so schien es jedenfalls, aber seine Geschenke und Vermittlungsdienste erfolgten niemals ohne Zweck und Berechnung, er schlug selbst noch aus der Liebe Kapital.

Es war nicht schwer für ihn, attraktiven Mädchen zu Jobs und kurzfristigen Erfolgen zu verhelfen. Die Werbebranche war unersättlich und hatte einen unstillbaren Hunger nach frischen, anziehenden Gesichtern. Hatte Wingate die Mädchen erst einmal auf diese Weise zur Dankbarkeit verpflichtet, verstrickte er sie mit großem Geschick in nicht immer einwandfreie Geschäfte. Er machte sie abhängig und zwang sie schließlich zu Aktionen von dubiosem und kriminellem Zuschnitt.

„Hallo“, sagte er, setzte sich auf den Bettrand und griff nach einer Zigarette. Linda fuhr ihm mit einer Fingerspitze verspielt über den Rücken und zählte seine Wirbel.

„Ist was?“, fragte er und zündete sich die Zigarette an.

Er fühlte sich eher gereizt als entspannt. So war es fast immer, wenn er Babs betrogen hatte.

Er hatte die Tochter des Dons aus purer Zweckmäßigkeit geheiratet und sich über ihren grotesk anmutenden Hang zur konservativen Bürgerlichkeit insgeheim lustig gemacht, aber seit einiger Zeit schätzte und respektierte er Babs zielstrebige Linie. Er hatte angefangen, seine Frau zu verehren.

„Was war mit Cindy?“, fragte Linda.

Archie Wingates Kopf zuckte herum, er warf einen Blick über seine nackte Schulter. „Was soll mit ihr gewesen sein?“, fragte er.

„Sie ist tot.“

„Ich weiß, dass sie tot ist.“

„Sie war meine Freundin“, erklärte Linda. „Warum musste sie sterben?“

Archie Wingate blickte wieder nach vorn. Er musterte das glühende Ende seiner Zigarette. „Warum fragst du mich?“, wollte er wissen.

„Du hast sie gekannt. So gut wie mich. Du hattest Streit mit ihr, nicht wahr?“

„Hat sie das gesagt?“

„Nein, aber ich weiß es.“

„Warum hätte ich mich mit ihr streiten sollen?“

„Es ging um diesen Hillary, glaube ich.“

„Glaubst du. Ich frage, was du weißt, alles andere ist doch Quatsch“, knurrte Wingate.

„Du hast keinen Grund, böse zu werden. Aber es ist so schrecklich. Ich habe das Foto in den Zeitungen gesehen. Ich möchte ja nur hören, dass du nichts mit dieser schrecklichen Geschichte zu tun hast!“ Archie Wingate entzog sich dem streichelnden Finger und stand auf. Er lächelte. „Dummchen. Ich bin doch kein Killer.“

In Lindas Augen war ein seltsamer Ausdruck. „Jeder weiß, dass du dir einen leisten könntest – gleich ein Dutzend, wenn es sein müsste.“

„Ich habe nichts mit der Sache zu tun“, sagte Wingate. Er log überzeugend. Das war seine Stärke. Er hätte selbst dann nicht die reine Wahrheit sagen können, wenn es in seiner Absicht gelegen hätte. Die Lüge war ihm zur zweiten Natur geworden.

„Ich bin so froh, dass du das sagst“, hauchte Linda und öffnete ihm ihre Arme. „Komm!“

„Ich möchte, dass du mir einen Gefallen tust“, sagte Wingate.

„Gern. Welchen?“, fragte das Mädchen erwartungsvoll.

Archie Wingate klaubte sich einen Tabakkrümel von der Lippe. „Du ziehst ins Hotel. Palmer House, Monroe Street. Ich habe dort ein Zimmer für dich reservieren lassen. Dein Nachbar ist Araber, ein junger Mann namens Kemal Maffet. Sein Vater ist Ölminister. Kemal ist immens reich. Er ist nach Chicago gekommen, um hier zu studieren. Ich möchte, dass du mit ihm bekannt wirst.“

„Wie soll ich das anstellen?“

„Ich habe gehört, dass er auf Mädchen deines Typs steht – besonders dann, wenn ihr Blondhaar einen rötlichen Schimmer hat. Du bist nicht von gestern. Es wird dir gelingen, seine Aufmerksamkeit auf dich zu ziehen. Ich will, dass du mit ihm intim wirst und ihn in den Klub bringst.“ Linda setzte sich auf, zog die Knie an und legte ihre Arme darum. Sie kannte den 'Klub'. Es war eine illegale Spielhölle für die oberen Zehntausend. Aus unerfindlichen Gründen war der Klub noch niemals in eine Razzia verwickelt worden. Wingate hatte es offenbar verstanden, die richtigen Leute zu schmieren.

Über den Klub wurde manches gemunkelt, vieles davon nur hinter vorgehaltener Hand. Linda war es ein Rätsel, dass reiche, respektierte Leute sich der Gefahr aussetzten, in dem Klub geneppt und betrogen zu werden. Der Ruch des Bösen schien für sie von magnetischer Wirkung zu sein, sie erlagen ihm mit naiver Freude. Entscheidend für die Anziehungskraft des Klubs, der sich 'Top Five' nannte, war sicherlich der Umstand, dass in ihm vornehmlich Gäste verkehrten, deren Jahreseinkommen die Millionengrenze überstieg.

Dass sich dazwischen auch ein paar Goldfische tummelten, die als Zierde und Köder dienten, Mädchen wie Cindy Bell und Linda Dorsey, hing mit dem Charakter des Etablissements zusammen.

„Ich mag keine Araber“, sagte Linda.

„Er ist nett, er wird dir gefallen.“

„Wäre es nicht einfacher, wenn du ihn einladen würdest?“, fragte Linda.

„Ich gehe den richtigen Weg, verlass dich darauf“, sagte Wingate und blickte auf seine Uhr. Linda kannte Wingate gut genug, um zu wissen, was die Geste bedeutete. Die Zeit des Kosens und Schmusens war vorbei, jetzt begann der Ernst des Lebens.

Sie stand auf und eilte ins Badezimmer.

Als sie sich von Wingate mit einem Kuss verabschiedete, prallte sie beim Verlassen des Penthouses um ein Haar mit einem Besucher zusammen.

„Pardon“, sagte Roberto.

Wingate hatte sich den Morgenmantel übergestreift, seine Füße steckten in ledernen Pantoffeln, deren Spitzen seine Initialen trugen.

„Sind Sie angemeldet?“, fragte er und machte eine unwirsche Handbewegung, die der stehen gebliebenen Linda bedeuten sollte, dass ihre Anwesenheit nicht länger erwünscht war.

„Nein“, sagte Roberto.

Linda ging.

Archie Wingate musterte den Besucher prüfend und fand, dass er das gewisse Etwas hatte. Wingate hielt sich auf seine Menschenkenntnis einiges zugute, sie hatte ihm geholfen, seine jetzige Position zu erobern.

„Worum geht’s?“, fragte Wingate.

„Um Cindy Bell.“

„Treten Sie näher“, sagte Wingate gelassen, machte kehrt und strebte durch die große Diele in das elegant möblierte Wohnzimmer.

Roberto schloss die Tür hinter sich und folgte Wingate. „Sind wir allein?“, fragte er beim Überqueren der Wohnzimmerschwelle.

„Ja, warum?“, fragte Wingate. Er zog den Gürtel seines seidenen, blaurot abgesetzten Morgenmantels straffer und ließ sich in einen Sessel fallen. Dann lachte er plötzlich. „Ich kenne meinen Ruf. Die meisten Leute vermuten bei mir Gorillas oder so was Ähnliches. Düstere Gestalten mit viel Muskeln und Kanonen. Ich kenne ein paar Leute, die mir, falls notwendig, Schützenhilfe leisten würden, aber in meinen eigenen vier Wänden hasse ich solche Typen, ihr Schweißgeruch verursacht mir Übelkeit. Wie heißen Sie, bitte?“

„Briggs“, sagte Roberto.

„Briggs, Briggs“, murmelte Wingate und legte die Stirn in Falten. „Klingt irgendwie vertraut. Muss ich den Namen kennen?“

„Sie kennen ihn. Durch Herb Greene“, sagte Roberto, der neben der Tür stehen geblieben war.

„Was wollen Sie von mir?“

„Die Antworten auf ein paar Fragen. Ich werde sie nicht gleich bekommen“, befürchtete Roberto, „aber früher oder später werde ich Sie dazu zwingen, mir das Gewünschte zu geben.“

„Sie riskieren eine ganze Menge, junger Mann“, sagte Wingate lächelnd.

Er fühlte sich keineswegs unbehaglich. Angst war ihm nahezu fremd. Er hatte seinen Weg vor allem deshalb gemacht, weil er sich jeder Herausforderung gestellt hatte und mit seinen Problemen auf diese oder jene Weise fertiggeworden war. Obwohl er keine Skrupel hatte und zur Brutalität neigte, war er durchaus imstande, vorsichtig zu handeln und vor einem Stärkeren auf Distanz zu gehen. Er suchte den Kampf nicht um jeden Preis, aber er ging ihm auch nicht aus dem Weg.

„Ich war dabei, als Cindy starb“, sagte Roberto. „Ich habe beschlossen, die Hintergründe des Mordes aufzuklären. Deshalb bin ich hier.“

„Sie sind Reporter?“

„Sagen wir: ein Wahrheitsfinder“, meinte Roberto.

„Sie waren mit dem Girl befreundet?“

„Nein. Das waren Sie.“

„Das ist lange her“, erklärte Wingate und zuckte mit den Schultern. „Sehen Sie mich an. Ich bin verheiratet, glücklich verheiratet, wie ich betonen möchte. Das hält mich nicht davon ab, den Reiz amouröser Abenteuer zu suchen. Ich habe eine Schwäche für schöne Mädchen. Eines davon ist Ihnen gerade über den Weg gelaufen. Linda Dorsey, ein Topmodell. Ich war auch mit Cindy intim, vor langer Zeit. Ich habe sie aus den Augen verloren. Ich hatte keinen Grund, ihr zu schaden – von Mord ganz zu schweigen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das zur Kenntnis nehmen würden!

„Wie ich hörte, haben Sie eine steile Karriere hinter sich“, sagte Roberto.

„Sie sind keineswegs einer Falschinformation zum Opfer gefallen“, spottete Wingate. „Ich bin mit mir zufrieden. Ich bin ein Junge aus den Slums, wissen Sie. Der einzige aus einer Straßenbande von zwanzig, der es zu etwas gebracht hat. Sie mögen darüber denken, wie Sie wollen, aber darauf bin ich stolz.“

„Ich finde Leistung imponierend – vorausgesetzt, dass sie auf persönlicher Tüchtigkeit, auf Fleiß und Ehrlichkeit beruht.“

„Ehrlichkeit! Jetzt muss ich lachen. In dieser Welt gibt es keine Ehrlichkeit. Oder sind Sie ehrlich? Ich wette, Sie treten unter falschem Namen auf und taktieren auch sonst so, wie es Ihnen nützlich erscheint. Ich verüble Ihnen das nicht. Ehrlichkeit ist Dummheit. Die Politiker exerzieren uns das ja vor. Wir wären verrückt, wenn wir daraus nicht unsere Lehren zögen.“