Die Großmeister des Mordes: Alfred Bekker präsentiert 12 Strand Krimis

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»Ich hätte grundsätzlich Zeit und Lust, Boss«, sagte Corrington unverfänglich. »Was ich sonst noch in Planung habe, kann warten. Alles, was von dir kommt, hat selbstverständlich Vorrang.«

Das hast du schön gesagt, Jack, dachte er zufrieden. Nun liegt der Ball wieder bei ihm. Wird er jetzt die Katze aus dem Sack lassen?

*

Belinda Fox ließ es sich nicht nehmen, in einem Steakhaus in der 45. Straße West ihre »Wiedergeburt« zu feiern. Eingeladen waren Hank Hogan, Milo, ich - und Kimberley Gish, nachdem sie das Krankenhaus verlassen durfte. Wir feierten zunächst in fröhlicher Runde, doch es blieb nicht aus, dass sich auch ein paar ernste Töne einschlichen, sobald Belinda darüber sprach, welch psychischer und physischer Pein sie ausgesetzt gewesen war. Schließlich musste sie ihr traumatisches Erlebnis ja irgendwie verarbeiten und loswerden.

»Ving Wipper hatte großes Glück«, knurrte Hank Hogan. Sein Blick war grimmig. Er ballte seine riesigen Hände zu klobigen Fäusten. »Wenn Belinda mich nicht daran gehindert hätte, hätte ich ihm eine Tracht Prügel verabreicht, die er bis ans Ende seiner Tage nicht vergessen hätte.«

»Er wird sein Fett kriegen«, tröstete ihn mein Partner.

»Und nicht zu knapp«, fügte ich hinzu.

Kimberley Gish schüttelte seufzend den Kopf. Sie hatte heute bestimmt etwas länger als sonst fürs Schminken gebraucht, um die Schatten der Vergangenheit weitgehend unsichtbar zu machen. Ganz war es ihr jedoch nicht gelungen.

»Ich hätte nie gedacht, dass mir einmal so etwas zustoßen könnte«, sagte sie schaudernd.

Ich konnte unter ihrer Schminke erkennen, wie zerbrechlich das Erlebnis sie gemacht hatte. Nichts würde für sie mehr so sein wie davor.

»Das glaubt niemand«, sagte Hank Hogan. »Und doch passieren diese Dinge immer wieder. Überall auf der Welt. Genau so. Oder ziemlich ähnlich.«

Wir mussten ihm leider Recht geben. Diese bösen Jungs, die solche Verbrechen begingen, würden niemals aussterben. Das war eine Tatsache, mit der wir leben mussten.

Ich klatschte in die Hände und sagte, um eine bessere Stimmung bemüht: »Genug der tristen Töne, Freunde. Wir sind hier, um zu feiern – und nicht, um zu trauern. Die Sache fand ja Gott sei Dank einen positiven Abschluss. Und nun sitzen wir hier – und Ving Wipper im Knast.«

Hank nickte mit Schadenfreude und Genugtuung im Blick. »Genau da, wo er hingehört.«

Ich hob die Hand. »Die nächste Runde geht auf mich.«

Es gab von keiner Seite einen Einwand.

Mein Handy klingelte. Ich sah Belinda, Kimberley, Hank und Milo an. »Entschuldigt kurz.«

Ich holte mein Mobiltelefon heraus und meldete mich. Jonathan D. McKee war am andern Ende. Belindas, Kimberleys, Hanks und Milos Augen waren abwartend und neugierig auf mich gerichtet. Sobald der Assistant Director die ersten Worte gesprochen hatte, verfinsterte sich meine Miene. Ich sprach kaum, ließ unseren Chef reden und hörte ihm zu.

Als ich das Handy einsteckte, fragte mein Partner gespannt: »Das war Mr McKee, nicht wahr?«

»Ja.«

»Was hat er gesagt?«, wollte Milo wissen. »Ist etwas passiert?«

»Das kann man wohl sagen«, gab ich dumpf zur Antwort.

»Und was?«, fragte Milo.

»Ving Wipper ist tot«, sagte ich.

Milo riss die Augen auf. »Was? Das gibt's doch nicht.«

»Er hat sein Bettlaken in Streifen gerissen und sich in seiner Zelle erhängt.«

Kapitel 6

»Endlich hat Ving Wipper mal was Richtiges getan«, sagte Nic Orlando gefühllos, als er von dessen Freitod hörte.

»Man soll ja über Tote nicht schlecht reden«, meinte Craig Travis mit gerümpfter Nase, »aber Ving war ein Arschloch.«

Nic Orlando hob die Schultern. »Was wahr ist, muss wahr bleiben.«

Sie befanden sich in seinem Penthouse. Eine hässliche Wolkenfront hatte sich New York genähert, und ein Großteil davon hing jetzt über Brooklyn.

Es regnete Katzen und Hunde. Travis hatte es noch trockenen Fußes hierher geschafft. Er blickte durch das Panoramafenster und schüttelte den Kopf.

»Sieh dir das an, Nic. Jetzt möchte ich nicht draußen sein. Woher kommt bloß das viele Wasser? Es schüttet so stark, dass selbst die Enten Gefahr laufen zu ertrinken, wenn sie sich nicht vorsehen.«

Nic Orlando winkte ab. »Das ist in einer halben Stunde vorbei.«

Travis drehte sich zu ihm um. »Hast du inzwischen mit Jack Corrington gesprochen?«

Orlando nickte. »Vorgestern.«

»Und? Was hat er gesagt?«

Orlando schmunzelte. »Er hat so getan, als würde sich die gesamte New Yorker Unterwelt um ihn reißen.«

»Blödsinn. Kein Schwanz steht vor seiner Tür. Das weiß ich von Thandie. Er will bloß seinen Marktwert pushen.«

Orlando zuckte gleichgültig mit den Achseln. »Soll er.«

»Weiß er bereits, worum es geht?«, erkundigte sich Craig Travis.

Orlando schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Ich habe ihn nur mal ganz grundsätzlich gefragt, ob er wieder für mich arbeiten möchte. Und ich habe ihn wissen lassen, dass ich – mit seiner Hilfe - etwas ganz Großes auf den Weg bringen möchte.«

Travis richtete seinen Blick auf Orlando. »Ist er interessiert?«

Dieser nickte. »Sehr sogar.« Er lächelte. »Er hat zwar versucht, es sich nicht anmerken zu lassen, aber ich habe ihn durchschaut.«

»Der Köder ist also nicht nur ausgelegt. Jack Corrington hat ihn auch schon geschluckt.«

»Und wahrscheinlich inzwischen auch verdaut«, sagte Nic Orlando.

»Und wie geht es nun weiter?«

»Jack kommt in zwei Stunden hierher«, sagte Orlando. »Dann reden wir. Unter vier Augen.«

»Okay.«

»Wie sieht es mit Eddie Gallo aus?«, wollte Nic Orlando wissen.

»Der steht in den Startlöchern«, gab Travis zur Antwort. »Er ist jederzeit abrufbereit. Hoffentlich hat Jack nichts dagegen, mit ihm zu arbeiten. Er ist nicht gerade ein Fan von Eddie, wie wir wissen. Die beiden sind Alpha-Tiere. Keiner wird sich vom andern etwas sagen lassen wollen.«

»Sie werden sich dieses eine Mal zusammenreißen müssen«, erklärte Orlando. »Im Interesse dieser großen Sache. Der größten ihres Lebens. Danach kann jeder wieder seinen eigenen Weg gehen.« Er deutete mit dem Kopf zum Fenster. »Siehst du? Was habe ich gesagt. Der Wolkenbruch ist schon wieder zu Ende. In fünf Minuten fallen die letzten Tropfen. Und zehn Minuten danach scheint wieder die Sonne.«

Genau so kam es.

Ving Wipper hatte sich der irdischen Gerichtsbarkeit durch Suizid entzogen.

Die Medien nahmen kaum Notiz davon. Sie befassten sich lieber mit dem weltweiten freien Fall der Aktien, mit katastrophalen Banken-Crashes auf allen fünf Kontinenten, mit Horror-Szenarien im Wirtschaftsbereich und mit Panikverkäufen in New York, Tokio, Frankfurt, Hongkong, Singapur, Seoul …

Pessimisten prophezeiten eine verheerende globale Kernschmelze der Börsen, wie es sie noch nie gegeben hatte. Das gab etwas her. Das interessierte die Menschen. Das ging ihnen unter die Haut. Und nicht der Freitod eines kriminellen Psyhopathen.

Während Wipper auf irgendeinem Friedhof verscharrt wurde, ohne dass ihm jemand das letzte Geleit gab, feilten Milo und ich ein letztes Mal an unserem Bericht, legten ihn sodann zuerst Mr McKee vor und anschließend zu den Akten und übernahmen neue Aufgaben, die dringend erledigt werden mussten. Einen kurzen Stillstand, ein zufriedenes Aufatmen, ein erholsames Zurücklehnen gab es nicht für uns. Denn das Unterwelt-Karussell drehte sich unaufhörlich weiter und bescherte uns stetig neue verbrecherische Fahrgäste, die ihren Mitmenschen – und somit auch uns - das Leben schwer machten.

Dass am Horizont in aller Stille und Heimlichkeit die schwärzesten Wolken seit langem aufzogen, ahnten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

*

Immer wenn Craig Travis anderweitig beschäftigt war, legte sich Jack Corrington zu Thandie Scott ins Bett und gab ihr, was sein Rivale ihr nicht geben konnte oder – es lebe der sexuelle Egoismus – ihr nicht geben wollte.

Irgendwann würde die Sache auffliegen, damit rechnete Jack Corrington. Aber er hoffte, bis dahin schon so gut im Rennen zu sein, dass Nic Orlando gezwungen war, schützend seine Hand über ihn zu halten und Craig Travis weder ihm noch Thandie Scott etwas anhaben konnte.

Er saß im Fond eines Taxis und war zu Orlando unterwegs. Die Straßen waren noch nass, aber es regnete nicht mehr. Der Fahrer, ein Mulatte zwischen fünfunddreißig und fünfundvierzig Jahren, fühlte sich bemüßigt, seinen Fahrgast zu unterhalten. Er sprach übers Wetter, den globalen Klimawandel, das Versiegen des Golfstroms und einer damit einhergehenden neuen Eiszeit. »Wir werden das nicht mehr erleben«, sagte er. »Aber unsere Kinder und Kindeskinder. Die Menschheit rennt auf einen Abgrund zu – und keiner bleibt stehen. Ist das nicht verrückt?«

Corrington ließ ihn reden. Er hörte ihm kaum zu, war mit seinen Gedanken bei Nic Orlando, der ihm noch immer nicht verraten hatte, um welche große Sache es eigentlich ging.

Heute wird er es ausspucken, dachte Corrington. Ich bin gespannt, was es ist.

Jetzt redete der Fahrer übers Wirtschaftswachstum. »Keiner gibt sich mit dem Erreichten zufrieden«, sagte er. »Es muss immer mehr werden. Immer mehr. Keiner kriegt jemals genug. Ich frage mich, wohin das führen soll. Mein Schwager ist Vertreter. Wenn er in diesem Jahr sein vorgeschriebenes Umsatzziel erreicht, muss er im kommenden Jahr fünf Prozent mehr schaffen. Und im darauffolgenden Jahr wieder fünf Prozent mehr. Und so weiter und so fort. Das verlangt die Firma von ihm. Bleibt er auch nur ein einziges Mal unter der festgesetzten Marke, ist er seinen Job los.«

 

Corrington spürte ein vages Brennen hinter dem Brustbein. Es strahlte in den linken Arm aus. Er setzte sich gerade, atmete tief durch und verzog das Gesicht.

Dem Fahrer fiel es auf. »Ist alles in Ordnung, Mister?«

»Ja«, antwortete Corrington. »Alles okay.«

»Sind Sie sicher?«

Corrington warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Hören Sie, könnten Sie ein bisschen schneller fahren? Ich hab's eilig. Bin verabredet und möchte nicht zu spät kommen. Es ist ein sehr wichtiger Termin.«

Der Mulatte drückte etwas kräftiger auf die Tube, vergaß aber nicht, ein neues Thema anzuschneiden. Jetzt zog er über Paris Hilton her, und es war in seinen Augen ein unglaublicher Affront, eine unverschämte Frechheit, wie man dieser »Oberzicke« die Millionen nur so hinterher warf. »Diese nichtsnutzige Unperson hat in ihrem ganzen Leben noch nie richtig gearbeitet«, wetterte er. »Wofür bekommt sie so viel Geld? Ich begreife das einfach nicht. Unsereins muss bis zum Umfallen malochen und sie … Ist das nicht ungerecht?«

Bis zum Umfallen malochen?, dachte Corrington. Das habe ich noch nie getan. Und das werde ich auch niemals tun. In dieser Hinsicht bin ich wie das Wasser. Ich wähle immer den Weg des geringsten Widerstands.

Da er nicht antwortete, geriet der Monolog des Fahrers zuerst ins Stocken und versiegte schließlich. Für ein neues Thema war dann keine Zeit mehr, weil Jack Corrington bereits am Ziel war. Er bezahlte die Fahrt, stieg aus und betrat das Haus, in dem Nic Orlando wohnte.

Er fuhr mit dem Lift zum Penthouse hoch und läutete an Orlandos Tür. Als sie sich öffnete, sagte Corrington: »Hallo, Boss, da bin ich.«

»Wunderbar. Komm herein. Nimm dir einen Drink. Die Bar ist dort drüben.«

Jack Corrington mixte sich einen Campari-Wodka. Nic Orlando hatte sich vor fünf Minuten einen Bourbon on the rocks gemacht. Das Glas stand noch unberührt auf dem Couchtisch aus grünem Carrara-Marmor. Die Eiswürfel waren noch nicht geschmolzen. Die Männer setzten sich. Corrington schlug ein Bein über das andere.

Orlando hob sein Glas. »Cheers!«

»Cheers!«, erwiderte Corrington.

»Auf eine Frucht bringende Zusammenarbeit«, sagte Nic Orlando.

»Auf eine ertragreiche Kooperation«, sagte Jack Corrington.

Sie tranken.

»Ertragreich.« Orlando ließ dieses in seinen und Corringtons Ohren so wohlklingende Wort wie edelste Marken-Schokolade auf seiner Zunge zergehen. Er betrachtete versonnen den Inhalt seines Glases. »O ja, das wird sie sein. Für alle Beteiligten. Ich behaupte nicht zu viel, wenn ich sage: Wir werden den Schnitt unseres Leben machen.«

»In welcher Höhe?« Das interessierte Corrington schon lange. Er fand, dass die Zeit reif war, danach zu fragen.

Und Orlando hielt damit auch nicht länger hinterm Berg. »In Millionenhöhe.«

Corrington staunte. »Habe ich Millionenhöhe gehört, Boss?«

Orlando nickte. »Im zweistelligen Bereich.«

»Ich kriege gleich weiche Knie.« Corrington lachte. »Gut, dass ich sitze.«

Er brauchte auf den freudigen Schock ganz dringend einen Schluck. Seine Kehle war schlagartig ausgetrocknet. In solch schwindelnder Höhe hatten sich seine Coups noch nie bewegt. Verdammt, auf was für eine Goldader ist Orlando da gestoßen?, fragte sich der Einbrecher, und eine Menge Adrenalin begann in seinen Adern zu kreisen.

*

Milo war mit Orry Medina und Clive Caravaggio unterwegs. Sie sollten einen wichtigen Augenzeugen in Gewahrsam nehmen. Man hatte dem Mann gedroht, ihn umzubringen, wenn er seine Aussage nicht zurückzog, doch dazu war dieser erfreulicherweise nicht bereit. Damit ihm nichts zustieß, hatte Mr McKee beschlossen, ihn ins Zeugenschutzprogramm aufzunehmen und bis zum Prozess aus der Schusslinie zu nehmen.

Ich saß allein in unserem Büro und telefonierte mit einem Kollegen der Metropolitan Police, der sich von Sarah Hunter übergangen fühlte.

Ich empfahl ihm, die Angelegenheit, für die ich nicht zuständig war, mit Sarah selbst zu regeln, doch davon wollte er nichts wissen.

Er warf Sarah vor, stur, blasiert, engstirnig, anmaßend, verbohrt, überheblich, arrogant, keinem vernünftigen Argument zugänglich zu sein - und noch vieles mehr. Ich hatte den Eindruck, dass wir nicht von derselben Person sprachen, denn das, was der Beamte alles aufzählte, war Sarah Hunter in meinen Augen ganz und gar nicht.

Um ihn loszuwerden, empfahl ich ihm, sich bei Assistant Director Jonathan D. McKee, unserem unmittelbaren Vorgesetzten, zu beschweren und legte auf.

Fünf Minuten später läutete das Telefon wieder. Wenn er das noch mal ist, werde ich sehr viel weniger freundlich sein, nahm ich mir vor.

Dann schnappte ich mir den Hörer und blaffte meinen Namen hinein. Doch am andern Ende war kein Polizeibeamter, sondern »Pinky«.

Ein alkoholkranker V-Mann. Manchmal sah er weiße Mäuse. Manchmal sah er kleine grüne Männchen. Manchmal hörte er Stimmen, obwohl er nachweislich allein war.

Manchmal sah und hörte er aber auch Dinge, die für uns von eminenter Wichtigkeit waren und in der Vergangenheit mehrfach zu Festnahmen geführt hatten, die ohne Pinkys hochkarätige Information nicht zustande gekommen wären.

Eigentlich hieß er Ty Plane. Da er aber zu allen vier Jahreszeiten – ja, auch im heißesten, schwülsten, Schweiß treibendsten Sommer – einen selbst gestrickten rosa Wollschal um den Hals trug (bei Kälte verknotet, bei Wärme lose), hatte ihm das den Namen Pinky eingebracht.

»Hi, Mr Jesse«, sagte er. Er nannte mich schon seit Jahren so. Warum, weiß ich nicht. Ich war von Anfang an für ihn Mr Jesse gewesen, und es störte mich nicht. »Wie ist das werte Befinden?«, erkundigte er sich. »Geht es dir gut?«

»Mir geht es blendend, Pinky«, antwortete ich.

Er lachte. »Dir wird es gleich noch sehr viel blendender gehen, Mr Jesse.«

»Tatsächlich? Lass mal hören, wieso.«

»Ich habe etwas Großes für dich, Mr Jesse«, behauptete der V-Mann. »Etwas ganz Großes. Etwas so Großes, wie ich es noch nie für dich hatte.«

»Wie viel hast du heute schon getrunken, Pinky?«, erkundigte ich mich.

»Ich bin stocknüchtern, Mr Jesse«, versicherte er mir. »Ich bin schon seit drei Monaten trocken.«

»Gratuliere.« Ich freute mich ehrlich für ihn. »Und wie fühlst du dich?«

»Hervorragend.«

»Hast du es allein geschafft?«

»Neely hat mir geholfen«, sagte Pinky.

»Wer ist Neely?« Ich hörte diesen Namen von ihm zum ersten Mal.

»Meine neue Lebensabschnittspartnerin«, klärte er mich auf. Seine Stimme klang so, als wäre er dem Schicksal unendlich dankbar dafür, dass es ihm Neely beschert hatte.

»Wieso weiß ich nichts von ihr?«

»Ich kenne sie erst seit einem halben Jahr«, antwortete Pinky. »Sie hat mich so lange bearbeitet, bis ich ihr zuliebe zu den anonymen Alkoholikern ging, und die haben mir geholfen.«

»Neely ist mit Gold nicht aufzuwiegen.«

»Ich weiß, was ich an ihr habe, Mr Jesse. Und ich halte diesen Schatz auch mit beiden Händen ganz, ganz fest.«

»Das würde ich an deiner Stelle auch tun. Ich hoffe, du stellst mir dein Juwel demnächst mal vor.«

»Das tue ich sehr gern, Mr Jesse.«

»Du hast also etwas ganz Großes für mich«, kam ich wieder auf den Grund seines Anrufs zu sprechen.

»So ist es, Mr Jesse.«

»Ich lausche.«

»Nicht am Telefon, Mr Jesse.«

»Okay. Wohin soll ich kommen?«

»Ich warte im Alley Pond Park. Auf dem Parkplatz. Kannst du in zwanzig Minuten da sein?«

»Ich denke, das schaffe ich.«

»Fein. Also bis dann, Mr Jesse.«

»Bis dann.« Ich wollte auflegen.

»Mr Jesse!«, rief der nunmehr trockene V-Mann.

»Ja, Pinky?«

»Bring ein bisschen Geld mit«, sagte er. »Du wirst sehen, die Sache ist es wert.«

*

»Angepeilt sind fürs Erste zwanzig Millionen«, sagte Nic Orlando. »Mal sehen, wie viel tatsächlich für uns drin ist. Vielleicht mehr. Vielleicht weniger. Das werden die Verhandlungen ergeben. Unter zehn Millionen gehe ich aber auf gar keinen Fall.«

Jack Corrington sah – freudig geschockt - in sein leeres Glas. »Kann ich noch einen haben, Boss?«

»Selbstverständlich.«

Corrington stand auf und mixte sich einen zweiten Campari-Wodka – fünfzig zu fünfzig. Der Arzt hatte ihm zwar geraten, mit dem Alkohol – vor allem mit Schnäpsen – vorsichtig zu sein, doch in dieser Situation musste er sich einfach dopen. Es ging nicht anders.

Nachdem er mit dem zweiten Drink wieder Platz genommen hatte, sagte Orlando: »Du hast bisher immer allein gearbeitet.«

Corrington lächelte. »Ich bin ein einsamer Wolf.«

»Diesmal musst du einen Partner akzeptieren.«

Corrington schwieg kurz. Dann fragte er: »Angenommen ich sage Nein.«

»Du musst.« Orlando sagte es mit so viel Nachdruck, dass für Corrington klar war, dass der Boss kein Nein akzeptieren würde. »Es steht zu viel auf dem Spiel. Die Sache darf auf gar keinen Fall schief gehen.«

Corrington trank und überlegte. Er war an einem hochprofitablen Coup natürlich sehr interessiert. Aber nicht um jeden Preis. Deshalb erkundigte er sich: »Wer wäre mein Partner?«

»Eddie Gallo.«

Die Antwort war für Jack Corrington wie ein Schlag in die Magengrube. Er schüttelte sofort heftig den Kopf und sagte: »Kommt nicht in Frage, Boss. Vergiss es.«

Orlando seufzte. Er hatte mit dieser Reaktion gerechnet. »Ich weiß, dass du ihn nicht riechen kannst«, sagte er. »Und er dich nicht. Aber diese unermesslich große Sache verlangt von euch und von uns allen, dass wir dieses eine Mal alle Aversionen, Feindseligkeiten, Antipathien, Animositäten, Ressentiments – wie auch immer man es nennen mag - hintanstellen und am selben Strang ziehen. Ich sage es mit aller Klarheit, Jack. Du und Eddie Gallo, ihr seid die Besten, und ich werde weder auf dich noch auf ihn verzichten.«

Was ist, wenn ich bei meinem Nein bleibe?, fragte sich Corrington im Geist. Was wird Nic dann tun? Wird er für Eddie einen anderen Partner suchen? Bin ich dann draußen? Wie sehr brauchst du mich, Nic Orlando? Wie hoch kann ich pokern? Bist du in der Lage, mich zu ersetzen?

Orlandos Miene verdüsterte sich. »Ich habe auf dich gewartet, Jack«, sagte er sehr ernst. »Ich hätte den Coup schon vor drei Monaten mit einer anderen Besetzung durchziehen können. Aber ich sagte mir: Nein, ich warte, bis Jack Corrington, das Ass der Asse der Einbrecherzunft, wieder zur Verfügung steht. Ich würde es dir sehr übel nehmen, wenn du mich jetzt im Stich lässt. Es wäre nicht klug von dir, mich zu enttäuschen, mein Junge.«

Er droht mir, dachte Corrington wütend. Das ist eine gottverdammte Drohung, die er soeben ausgesprochen hat. Zwar versteckt, aber doch unmissverständlich.

»Ich könnte dich zu diesem Coup zwingen, Jack«, sagte Orlando noch deutlicher. Seine Augen waren jetzt ganz schmal. »Das weißt du. Ich könnte eine Menge Druck auf dich ausüben. Aber das will ich nicht. Ich möchte, dass du freiwillig und voll motiviert mitmachst. Mit Eddie habe ich bereits gesprochen. Er wäre bereit, dieses eine Mal mit dir zu arbeiten. Verdammte Scheiße, ich verlange doch nicht von dir, dass du Eddie Gallo ein Kind machst. Ihr erledigt euren Job und trennt euch danach gleich wieder. Für immer. Das muss doch möglich sein.«

Jack Corrington schwieg. Aber in seinem Kopf ging es rund. Er dachte an ein gemeinsames Leben mit Thandie Scott. Wenn er mitmachte, war ihre Zukunft finanziell gesichert. Und er konnte sich auch ausbedingen, dass Craig Travis von nun an – und für immer und ewig - die Griffel von Thandie lassen musste. Orlando hätte das bestimmt in seinem Sinn regeln können. Was mich an der ganzen Geschichte stört, was mir sauer aufstößt, ist die Art und Weise, wie Nic mit mir redet, ging es ihm durch den Sinn. Ich bin keiner deiner vielen kleinen schleimigen Lakaien, Nic Orlando. Ich bin nicht dein serviler Speichellecker. Du hast es mit Jack Corrington zu tun, dem Ass der Asse der Einbrecherzunft, wie du vorhin richtig bemerkt hast. Wieso behandelst du mich nicht so? Du brauchst mich. Du hättest nicht gewartet, bis ich wieder aus dem Knast bin, wenn dir ein gleichwertiger Ersatz für mich zur Verfügung stünde.

 

»Hey, Jack«, sagte Orlando. »Wieso habe ich das Gefühl, dass du mir überhaupt nicht zuhörst?«

Ich höre dir zu, Scheißkerl, dachte Corrington. Und was du bisher zum Mund rausgelassen hast, missfällt mir in mehreren gravierenden Punkten.

»Was ist nun?«, fragte Orlando ungeduldig. »Kann ich mit dir rechnen?«

Corrington sah ihn an und erwiderte mit einem entwaffnenden Lächeln: »Ich weiß ja noch nicht einmal genau, worum es geht, Boss.«

*

Mein Sportwagen schnurrte über den Cross Island Parkway. Im Moment befand sich der Alley Pond Park zu meiner Rechten. Links überholte mich ein Van, der mit sieben jungen, fidelen Mädchen besetzt war.

Die Fracht war ziemlich heiß. Die Mädchen winkten mir fröhlich. Ich winkte lächelnd zurück. Sie lachten übermütig, schnitten witzige Grimassen.

Zwei von ihnen schickten mir Küsschen. Und eine hob ihr T-Shirt, um mir ganz kurz zu zeigen, was sie darunter zu bieten hatte.

Es war für eine Siebzehn- oder Achtzehnjährige schon recht beachtlich. Kleine, wenn das deine Eltern wüssten, dachte ich. Ein paar Wochen Hausarrest wären dir sicher. Vielleicht sogar ein unbefristeter.

Ich wechselte auf den Grand Central Parkway und verlor den Van aus den Augen. Kurz darauf musste ich auch diesen Parkway verlassen, und dann rollte der Sportwagen - an einer dichten Baum- und Buschgruppe vorbei - auf den Parkplatz zu, auf dem Pinky mich erwartete.

Ich sah acht abgestellte Fahrzeuge. Sieben waren leer. Im achten saß jemand. Pinky? Ich nahm es an. Ich fuhr zur Parkplatzmitte und tippte kurz auf das Bremspedal. Der Sportwagen blieb stehen.

Ich wartete. Nichts geschah. Warum stieg Pinky nicht aus? Ich stellte den Motor ab … Stille. Ich sah mich argwöhnisch um. Irgend etwas stimmt hier nicht, dachte ich. Hat Pinky gar nichts Großes, Wichtiges für mich? Hat er mich nur in eine Falle gelockt? Freiwillig hätte er das nicht getan. Davon war ich überzeugt. Pinky mochte Mr Jesse.

Hatte man ihn dazu gezwungen? Weshalb? Wer wollte etwas von mir? Was wollte man von mir? Ich öffnete langsam die Tür. Bevor ich ausstieg, zog ich meine SIG Sauer. Innerlich angespannt verließ ich den Sportwagen.

Ich drehte mich einmal in Zeitlupe um die eigene Achse, versuchte alles zu registrieren, was mich umgab. Niemand schien sich in der Nähe zu befinden.

In der Ferne bellte ein Hund. Ich setzte mich schleichend in Bewegung, und ich hatte das unangenehme Gefühl, permanent beobachtet zu werden.

Ahnung? Intuition? Einbildung? Stand jemand, gut verborgen, in den Büschen? Oder hinter einem Baum? Was hatte das hier alles zu bedeuten?

Ich näherte mich vorsichtig dem einzigen besetzten Wagen. Ich kannte das Fahrzeug nicht. Es war neu für mich, dass Pinky mit einem Auto durch die Stadt kutschierte.

Das hatte er sich früher nicht erlauben können, weil er ja ständig eine Menge Promille im Blut gehabt hatte. Aber jetzt war er trocken.

Ich erreichte das Fahrzeugheck. War Pinky schon eine Weile hier? War er eingenickt? Die Ruhe hier draußen lud dazu ein. Ich klopfte mit der flachen Hand auf den Kofferraumdeckel. »Hey, Schlafmütze! Aufwachen! Mr Jesse ist da!«

Der Mann im Auto rührte sich nicht. Fühlte er sich nicht angesprochen? War er nicht Ty »Pinky« Plane? Egal. Auch wenn er es nicht war, hätte er irgendwie reagieren müssen. Ich ging gespannt weiter.

Das Wagenfenster war offen. Und im Fahrzeug saß ein Mann, der nicht Pinky sein konnte, denn er trug keinen rosa Schal. Und er war auch nicht so klapperdürr wie Ty »Pinky« Plane. Anderseits … Pinky konnte zugenommen haben. Neely konnte ihn aufgepäppelt haben.

Und er konnte nicht nur seine Alkoholkrankheit, sondern auch seinen rosa Schal für immer abgelegt haben. Zum äußeren Zeichen dafür, dass er ein neuer Mensch geworden war, der ein neues Leben angefangen hatte. Mit Neely.

Ich beugte mich zu dem Mann auf dem Fahrersitz hinunter. Es war Pinky. Mindestens fünfzehn Kilo schwerer als bei unserer letzten Begegnung.

Und tot!

*

»Schon mal von den ›Grodin Labs‹ gehört?«, erkundigte sich Nic Orlando. Er betrachtete angelegentlich seine gepflegten Finger.

Jack Corrington zupfte nachdenklich an seinem linken Ohrläppchen. »Nein«, antwortete er.

»Brian Grodin ist einer der besten Chemiker unseres Landes«, erklärte Orlando. Er entfernte ein Fusselchen von seinem Maßanzug. »Ein unermüdlicher Tüftler. Ein ideenreiches Genie. Ein bisweilen nicht ganz unumstrittener Grenzgänger. Er besitzt ein eigenes privates Forschungszentrum – ›Grodin Labs‹ - und bekommt immer wieder hoch dotierte Regierungsaufträge. Zwischendurch entwickelt er Dopingmittel für Sportler, die mit herkömmlichen Tests nicht nachweisbar sind, fortschrittliche chemische Kampfstoffe, bahnbrechende Schädlingsbekämpfungsmittel, wirksame Gase gegen alle möglichen Parasiten, neue Insektenschutzmittel, revolutionäre Sprengstoffe, progressive Düngemittel …«

»Du hast einen Einbruch in dieses Forschungszentrum im Sinn?«, warf Jack Corrington ein.

»Richtig.«

»Und was willst du Brian Grodin klauen?«

»Was fällt dir ein, wenn ich Aum Shinrikyo sage?«, fragte Nic Orlando zurück. »Woran denkst du bei dem Wort Sarin?«

»Hast du vor, mich zu testen, Boss?« Jack Corrington lächelte. Er hatte zwar nicht studiert, verfügte aber über ein profundes Allgemeinwissen. »Sarin ist ein tödliches Nervengift«, sagte er. »Und Aum Shinrikyo ist eine japanische Sekte.«

»Bravo«, sagte Orlando. »Ich hätte nicht gedacht, dass du das weißt.«

Corrington streckte den Zeigefinger in Orlandos Richtung. »Du solltest deine Mitmenschen niemals unterschätzen, Boss. Es leben nicht nur Vollidioten auf der Welt.«

»Weißt du zufällig auch, wer Aum Shinrikyo gegründet hat?«, fragte Orlando.

»Shoko Asahara«, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen.

Orlando wiegte den Kopf. »Ich bin beeindruckt. Am 20. März 1995 sterben in der Tokioter U-Bahn zwölf Menschen. Mehr als fünftausend werden zum Teil schwer verletzt. Die Aum-Sekte ist eine wirre Mischung aus allen möglichen Religionen. Ein bisschen Buddhismus, etwas Hinduismus, dazu noch ein wenig Taoismus und Christentum. Asahara sieht sich als die Reinkarnation Buddhas sowie als Verkörperung von Shiva und Christus. Seine Gruppe versteht sich als Endzeitsekte. Ihrer Lehre zufolge ist die Welt böse und muss von satanischen Elementen gereinigt werden …«

»Mit Sarin«, sagte Corrington.

Orlando nickte. »Mit Sarin. Und jetzt kommt der Hammer: Brian Grodin hat dieses Nervengas weiterentwickelt und ihm seinen Namen gegeben. Es heißt nicht mehr Sarin, sondern Grodin und ist tausendmal tödlicher. Damit kannst du eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes auslösen.«

Corrington sah Orlando groß an. Er fühlte sich mit einem Mal unbehaglich. »Hast du das etwa vor, Boss?«

Nic Orlando war nicht bereit, seine Absichten zu sehr zu präzisieren. Was Jack Corrington wissen musste, wusste er jetzt. Mehr sollte er nicht erfahren. Jedenfalls zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

»Deine Aufgabe ist es, das Gift zu beschaffen«, erklärte Orlando mit finsterer Miene. »Alles andere ist meine Sache.«

Corrington musterte Orlando eine Weile schweigend. Schließlich fragte er: »Wieso weißt du so gut über Grodins Tätigkeiten Bescheid, Boss? Er hängt das alles doch bestimmt nicht an die große Glocke.«

Nic Orlando lächelte undurchsichtig. »Man hat so seine Quellen.«

*

Jemand hatte Ty »Pinky« Plane in den Kopf geschossen. Aus nächster Nähe. In die Schläfe. Meinetwegen? Weil er sich hier mit mir treffen wollte?

Damit er nicht ausplaudern konnte, was ihm zu Ohren gekommen war? Wegen dieser großen, wichtigen Sache? Oder wegen irgendeiner anderen?

Er hatte ja laufend irgendetwas gehört, das das FBI – nach Meinung verbrecherischer Elemente - nichts anging. Pinky war vermutlich kurz vor meinem Eintreffen liquidiert worden. Da ich mich schon die ganze Zeit beobachtet fühlte, ging ich davon aus, dass der Mörder noch in der Nähe war. Meine Nackenhärchen sträubten sich.