Die Großmeister des Mordes: Alfred Bekker präsentiert 12 Strand Krimis

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Sein Blick wanderte zur Tür, die Craig Travis sicherte. An dem kam keiner vorbei. Und an den beiden Gorillas, die sich im Moment noch zahm gaben, auch nicht.

»Hab dich eine Menge Geld verdienen lassen«, sagte Nic Orlando mit verstecktem Vorwurf.

»Dafür bin ich dir auch sehr dankbar«, beeilte sich Judd zu erwidern.

Orlando zog die Augenbrauen zusammen. Sein Blick verfinsterte sich. Er sah jetzt gefährlich aus. »Man beißt die Hand nicht, die einen füttert.«

»Da hast du vollkommen Recht, Nic.« In Judd vibrierte eine stetig wachsende Furcht. »Und ich würde das auch niemals tun. Daran zweifelst du doch nicht etwa, oder?«

Orlando sagte nichts.

»Oder?«, fragte Judd noch einmal. Er wischte sich mit einem Taschentuch die Schweißperlen von der Stirn, bevor sie zu rinnen begannen.

»Wieso bist du mit den Konditionen, die wir vor sieben Jahren ausgehandelt haben, nicht mehr zufrieden, Bruce? Sie waren sieben Jahre lang für dich okay. Du hast gutes Geld verdient. Und auch nicht zu knapp. Wieso verlangst du auf einmal mehr?«

Judd redete sich mit zitternder Stimme auf bedrohlich gestiegene Betriebskosten aus. Auf die Inflation. Auf die umfassende Finanzkrise. Auf den stetig schrumpfenden Markt. Auf die allgemein sehr angespannte Wirtschaftslage. Auf die rasch wachsende Konkurrenz, die die Preise hemmungslos hochtrieb. Auf stagnierende Absätze.

Doch das alles wollte Orlando nicht hören. »Ich kann deine unverschämte Forderung nicht akzeptieren, Bruce«, sagte er feindselig.

Judd schluckte. »Sie ist doch nicht unverschämt, Nic.«

»Doch das ist sie«, widersprach Orlando scharf. Seine Gorillas und Craig Travis hörten schweigend zu. Keiner von ihnen regte sich. Wie elegant gekleidete Schaufensterpuppen standen sie da.

Judd hüstelte. »Ich habe alles ganz genau durchgerechnet und versucht, so maßvoll wie nur irgend möglich zu sein. Das musst du mir glauben, Nic.«

»Ich habe meinen Kunden – basierend auf den seit Jahren gleich gebliebenen Usancen - Zugeständnisse gemacht, die ich sehr ernst nehme. Ich muss auch weiterhin in der Lage sein, sie einzuhalten. Das kann ich aber nur, wenn mir niemand in den Rücken fällt. Man kann das Vertrauen seiner Geschäftspartner sehr schnell – buchstäblich über Nacht - verlieren, wie du weißt, und es dauert unvergleichlich länger, es zurückzugewinnen. Wenn in diesem System, das bislang so hervorragend und zu aller Zufriedenheit funktioniert hat, jemand aus der Reihe tanzt, bricht es zwangsläufig zusammen und ich bleibe auf meiner Ware sitzen. Meinst du, dass mir solche Aussichten gefallen? Hm, glaubst du das?«

»Natürlich nicht, Nic, und ich versichere dir …«

»Du wirst das Ganze noch einmal gründlich überdenken, Bruce!«, fiel ihm Orlando mit erhobener Stimme ins Wort. »Und ich erwarte von dir, dass du dich mit einer geringeren Provision als bisher begnügst.«

Der Schock fuhr Judd tief in die Glieder. Er riss bestürzt die Augen auf. »Mein Gott, Nic, willst du mich ruinieren? Ich komme schon jetzt kaum noch über die Runden.«

»Das interessiert mich nicht«, schnappte Orlando aggressiv. »Strafe muss sein. Und sie muss weh tun.«

Judds Miene wurde weinerlich. »Aber …«

Orlando stach mit seinem Zeigefinger hart gegen Judds Brustbein. »Und wage ja nicht, in Zukunft mit Ralph Welles, Otis Peeker oder Don Monson Geschäfte zu machen. Das würdest du mit Sicherheit nicht überleben.«

Er trat zurück, und dann war »Showtime« für Chris Keeslar und Jeff Fahey. Die beiden Brutalos nahmen Judd in die Mangel und verpassten ihm eine Abreibung, die dieser nicht so bald vergessen würde.

Als Judd sich kaum noch auf den Beinen halten konnte und Blut sabberte, sagte Nic Orlando: »Das reicht, Jungs.«

Chris Keeslar und Jeff Fahey ließen augenblicklich von Judd ab. Judd ließ sich groggy in seinen Schreibtischsessel fallen. Seine Arme hingen seitlich herab.

Orlando beugte sich zu ihm hinunter. »Das war ein kleiner Vorgeschmack auf das, was dich erwartet, wenn du mich noch mal enttäuschst, mein Bester.« Er wandte sich an seine Männer. »Gehen wir. Lassen wir unseren Freund allein. Er hat jetzt viel zu tun, muss neue Prämissen schaffen, wichtige Dinge überdenken, rechnen, kalkulieren … Wir wollen ihn dabei nicht stören.«

Kapitel 4

Unser nächster Weg führte uns zu Nic Orlando, da aus unseren Unterlagen hervorging, dass Ving Wipper für ihn arbeitete. Der noble Geschäftsmann stieg soeben aus einer weißen Stretchlimousine, als ich meinen Sportwagen etwa hundert Meter vor dem Haus, in dem er wohnte, ausrollen ließ. Orlando betrat das Gebäude.

Die Angeberlimousine kam uns entgegen. Am Steuer saß Craig Travis. Im Fond sahen wir Chris Keeslar und Jeff Fahey, die uns ebenfalls bekannt waren.

Sie fuhren an uns vorbei, ohne uns zu bemerken. Wir verließen den Sportwagen, und wenig später standen wir vor Nic Orlandos einbruchssicherer Penthousetür.

Ich drückte auf den Klingelknopf. Drinnen brüllte eine Raubkatze. Ein Gag, der nicht so recht zu dem seriösen Anstrich passte, den sich Orlando mit Kleidung und Gehabe gab. Der Geschäftsmann öffnete. Wir brauchten uns nicht auszuweisen. Er wusste, wer wir waren. Wir hatten nicht zum ersten Mal mit ihm zu tun.

Er hob irritiert die linke Augenbraue. »Habe ich irgendwo falsch geparkt?«

»Dafür sind wir nicht zuständig«, gab ich trocken zurück.

»Treten Sie näher.« Er gab die Tür frei und machte eine einladende Handbewegung. »Was kann ich für Sie tun? Ich bin soeben heimgekommen.«

»Wir haben es gesehen«, sagte ich.

»Ihre Männer in der weißen Snobkutsche haben wir auch gesehen«, ergänzte Milo.

Wir betraten das Penthouse. Das war keine Wohnung, sondern eine Residenz.

Wenn ich an mein schlichtes Apartment denke …, ging es mir durch den Sinn. Dazwischen liegen Welten.

Nic Orlando schien Gedanken lesen zu können. »Ich gebe Ihnen gerne die Adresse meines Innenarchitekten, Agent Trevellian«, sagte er leicht spöttisch.

Ich ließ mich von ihm nicht provozieren. »Ach, lassen Sie nur«, gab ich gleichmütig zurück. »Ich könnte ihn mir nicht leisten.«

Er grinste überheblich. »Sieht so aus, als hätten Sie sich für den falschen Beruf entschieden.«

»Für mich ist es der einzig richtige«, erklärte ich überzeugt.

»Drink?« Er zeigte auf die Hausbar. Whisky, Kognak, Rum, Gin, Wodka, Ouzo, eine Auswahl erlesener Liköre. Es war alles da.

Ich schüttelte den Kopf. »Danke nein. Wir sind im Dienst.«

»Haben Sie viel zu tun?«, erkundigte sich Orlando.

Ich nickte. »O ja, Sir. Das haben wir.«

Nic Orlando schmunzelte. »Die bösen Buben sterben nicht aus, nicht wahr?«

»Sie sagen es«, gab ich ihm Recht.

»Wie gehen die Geschäfte?«, erkundigte sich Milo.

»Zufriedenstellend«, gab Orlando zur Antwort. »Man hat mir gestern einen größeren Posten Teppiche aus dem anatolischen Hochland angeboten. Reine Seide. Handgeknüpft. Wunderschön. Wahre Meisterwerke. Eine echte Wertanlage. Wenn Sie dafür Verwendung hätten, würde ich Ihnen mit einem leistbaren Sonderpreis entgegenkommen.«

Mein Partner griente. »Sie haben doch nicht etwa die Absicht, uns zu bestechen, Mr Orlando?«

Nic Orlando legte die Hände auf seine Brust. Seine Unschuldsmiene war sehenswert. »Welchen Grund sollte ich haben, Sie zu bestechen? Mein Gewissen ist so rein wie frisch gefallener Schnee in der Arktis.«

Wer soll dir das abkaufen?, dachte ich verdrossen. Für wie dämlich hältst du uns eigentlich? Meinst du, wir wüssten nichts von deinen ebenso einträglichen wie schmutzigen Nebengeschäften? Eines Tages werden wir sie dir auch nachweisen können.

Er wollte wissen, warum wir ihm auf den Geist gingen. Natürlich formulierte er es wesentlich freundlicher, netter und feinfühliger, aber es lief trotzdem darauf hinaus.

»Sie kennen Hank Hogan«, sagte Milo.

»Ja, natürlich. Tüchtiger Mann. Durchschlagskräftig, effizient und kompromisslos. Ein Privatdetektiv von bestem Schrot und Korn. Seine Aufklärungsquote kann sich sehen lassen.«

»Seine Assistentin wurde entführt«, sagte mein Partner knallhart.

Ich beobachtete Orlando sehr genau. Er bemerkte es und lachte blechern. »Sie nehmen doch nicht etwa an, ich hätte damit etwas zu tun.«

»Haben Sie?«, fragte ihn Milo direkt.

»Selbstverständlich nicht.« Orlando sagte es entrüstet. »Ich achte und schätze Mr Hogan sehr. Sollte ich jemals die Hilfe eines Privatdetektivs benötigen, ist er meine erste Wahl.«

»Wir wissen, wer Belinda Fox gekidnappt hat«, sagte mein Partner.

»Ach, das wissen Sie bereits. Nun …«

»Es ist jemand, der für Sie arbeitet«, sagte ich.

Orlando schaute mich groß an. »Für mich?«, fragte er ungläubig. »Das kann nicht sein, Agent Trevellian. Ich beschäftige keine Kriminellen.«

O Gott, dachte ich. Mir wird gleich schlecht.

»Wer ist es denn?«, wollte Orlando wissen.

»Ving Wipper«, antwortete ich.

»Ving Wipper? Der arbeitet nicht für mich.«

»Es steht aber in unseren Unterlagen«, warf Milo ein.

»Wipper hat mal für mich gearbeitet, tut es aber nicht mehr«, stellte Orlando klar. »Ich habe ihn gefeuert.«

»Warum?«, wollte mein Kollege wissen.

Nic Orlandos Lippen wurden schmal. »Weil er ein unberechenbarer Psychopath ist«, sagte er ungezügelt. »Man kann sich nicht auf ihn verlassen, hat nichts wie Schwierigkeiten mit ihm.«

»Könnte er die Entführung auf eigene Faust durchgeführt haben?«, fragte Milo.

 

Orlando nickte. »Das traue ich ihm durchaus zu.«

»Können Sie uns einen Grund dafür nennen?«, fragte ich.

Orlando schüttelte den Kopf. »Nein, das kann ich nicht.«

»Was bezweckt er damit?«, fragte Milo trotzdem.

Orlando hob die Schultern. »Ich habe keine Ahnung.«

»Wir haben eine Adresse von ihm, die leider nicht mehr aktuell ist«, bemerkte Milo. Er nannte sie. »Wissen Sie, wo Wipper jetzt wohnt?«

»Wo er jetzt wohnt.« Orlando kratzte sich am Hinterkopf und sah auf den Boden. »Warten Sie mal.« Er dachte uns zuliebe nach. »Angeblich hat er irgendwo ein kleines Haus gemietet. Entweder in Brooklyn oder in Queens. Ich bin mir nicht sicher. Wenn Sie möchten, versuche ich das für Sie in Erfahrung zu bringen.«

»Das wäre wirklich sehr entgegenkommend von Ihnen«, sagte ich.

»Mach ich doch gern«, behauptete Nic Orlando.

Heuchler!, dachte ich. Es wäre mir recht gewesen, wenn er nicht so dick aufgetragen hätte. Anderseits … Wenn Ving Wipper tatsächlich nicht mehr für ihn arbeitete, lag es sehr wohl in seinem Interesse, dass wir den Psychopathen fassten, damit wir ihn in Ruhe ließen und er weiter ungestört seinen zwielichtigen Geschäften nachgehen konnte.

*

Als Belinda Fox zu sich kam, war sie wieder allein. Sie fühlte sich elend. Ihr Körper schien in Flammen zu stehen. Es gab keine Stelle, die sie nicht schmerzte. Bisher hatte sie noch nie einen Menschen gehasst.

Doch bei Ving Wipper machte sie zum ersten Mal eine Ausnahme. Diesem brutalen, geistesgestörten Verbrecher wünschte sie alles Schlechte an den Hals. Er hatte sich diese Sonderstellung redlich verdient.

Wenn er wiederkommt, darf ich nicht mehr hier sein, sagte sich die blonde Detektivin. Er würde mich wieder so grausam verprügeln, weil ihm das Spaß macht. Und ich weiß nicht, ob ich das abermals verkraften würde. Ich muss weg von hier. Mein Leben hängt davon ab.

Sie hob den Kopf und blickte zu dem Haken hinauf, an dem sie hing. Er war, nach Wipper, ihr zweitgrößter Feind. Weil er sie schon so lange daran hinderte, das Weite zu suchen.

Sie starrte den rissigen Querbalken an und dachte: Ich muss da hinauf. Wenn ich vom Haken loskommen möchte, muss ich irgendwie da hinauf. Aber sie hatte zwei Ohnmachten hinter sich, war geschwächt. Wenn ich mich da hinaufschwingen möchte, habe ich nur einen Versuch, sagte sie sich. Für einen zweiten reichen meine Kräfte nicht. Ich muss mich sammeln, muss mich konzentrieren, muss all meine Kraftreserven mobilisieren, kann mir keinen Fehler leisten.

Sie schloss die Augen und wartete auf den einen, alles entscheidenden Moment. Würde sie es schaffen? Würde sie scheitern? Sie wusste es nicht.

*

»Soeben waren zwei G-men bei mir«, sagte Nic Orlando am Telefon.

»Wie heißen sie?«, wollte Craig Travis wissen.

»Trevellian und Tucker.«

»Scheiße. Was wollten sie, Boss?«

»Sie suchen Ving.«

»Was hat der blöde Hund angestellt?«, fragte Travis.

»Er hat Hank Hogans Assistentin gekidnappt.«

»Ist er denn von allen guten Geistern verla … Warum denn das?«

»Weil er meschugge ist«, antwortete Orlando ärgerlich. »Hör zu, Craig, ich möchte in Ruhe arbeiten können. Du weißt, dass ich was Großes ins Auge gefasst habe. Ich kann keine weiteren Belästigungen der Bundesbullen gebrauchen. Das irritiert meine Geschäfte und beeinträchtigt meine Vorbereitungen auf diese große Sache.«

»Was soll geschehen, Boss?«

»Weißt du, wo Ving wohnt?«

»Im Moment nicht.«

»Finde es heraus!«, verlangte Nic Orlando.

»Okay. Und dann?«

»Das überlege ich mir noch. Entweder liefern wir ihn ans Messer oder …«

»Oder?«

»Oder wir machen ihn selbst unschädlich«, sagte Orlando. Seine Stimme klang hart und gefühllos. Es war ein Fehler gewesen, Ving Wipper zu beschäftigen. Das wusste er schon lange. Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass dies so unerfreuliche Nachwirkungen haben würde.

»Unschädlich?«, fragte Craig Travis. »Du meinst, wir liquidieren ihn?«

»Genau.«

»Und was wird dann aus Hogans Assistentin?«

»Zuvor müsste Ving uns natürlich verraten, wo er sie gefangen hält«, sagte Nic Orlando.

»Alles klar, Boss.«

»Mach schnell, Craig«, drängte Orlando. »Wir müssen uns den Rücken frei halten.«

»Ich begebe mich mit Chris und Jeff gleich auf die Suche«, versprach Travis.

»Ich warte auf deinen Anruf«, sagte Nic Orlando und beendete das Gespräch.

*

Mr McKee beorderte uns zu sich und bat uns um einen umfassenden Bericht. Während wir Mandys Spitzenkaffee tranken, informierten wir unseren Vorgesetzten so ausführlich wie möglich. Nachdem wir damit fertig waren, wusste er genauso viel wie wir. Er kannte Belinda Fox persönlich. Sie in der Gewalt eines unberechenbaren, zu extremer Gewalttätigkeit neigenden Psychopathen zu wissen, machte ihm – wie uns - große Sorgen. Der Assistant Director schlug eine Fahndung nach Ving Wipper vor. Wir waren damit einverstanden.

»Ich werde das gleich in die Wege leiten«, sagte Jonathan D. McKee.

Vor meinem inneren Auge begann ohne mein Zutun ein hässlicher Film zu laufen. Ich sah Ving Wipper. Cops hatten ihn gestellt. Er war bewaffnet.

Die Cops – einer von ihnen, ein sehr junger, war hochgradig nervös - forderten ihn auf, die Waffe fallen zu lassen. Er tat es nicht, drohte, die Uniformierten umzulegen, wenn sie ihn nicht gehen ließen. Als er jäh eine ruckartige Bewegung machte, drückte der nervöse Cop ab, und seine Kugel stanzte ein Loch in Wippers Stirn.

Damit nahm er mit ins Grab, wo er Belinda versteckt hatte, und mein Magen krampfte sich zu einem schmerzhaften Klumpen zusammen. Wie sollten wir Belinda jetzt noch finden?

»Jesse«, sagte Mr McKee. »Jesse?« Seine Stimme drang endlich zu mir durch.

»Sir?« Ich blinzelte. »Entschuldigen Sie, Chef. Ich war mit meinen Gedanken gerade … Wir brauchen Ving Wipper auf jeden Fall lebend. Es darf nichts schief gehen, sonst ist Belinda Fox verloren.«

Jonathan D. McKee nickte ernst.

*

Jetzt!, befahl sich Belinda im Geist, und dann schwang sie sich mit der ganzen Kraft, die ihr noch zur Verfügung stand, hoch. Beinahe hätte sie es nicht geschafft.

Es war Millimeterarbeit. Sie hielt sich mit den Fersen am Balken fest und schob ihre Waden ächzend darüber. Sobald sie das rissige Holz in den Kniekehlen spürte, durchströmte sie eine nie erlebte Euphorie.

Du schaffst es! Du schaffst es! Du schaffst es!, hallte es in ihr. Gleichzeitig spannte sie ihre Bauchmuskeln an, drückte sich hoch und kam endlich von dem dicken Eisenhaken los. Sie hätte vor Freude beinahe laut aufgeschrien. Endlich war sie frei. Fast frei. Denn noch war sie gefesselt. Aber sie hing wenigstens nicht länger an diesem verflixten Haken.

Sie ließ sich fallen. Die Landung war hart und schmerzhaft. Aber Belinda war zäh wie eine Katze. Sie biss die Zähne zusammen, wartete, bis der heftige Schmerz etwas abgeebbt war und kroch dann stöhnend durch die Hütte.

Ihr Ziel war eine verbogene Sense, die an der morschen Wand lehnte. Sobald sie sie erreicht hatte, richtete sie sich auf und begann das Klebeband, mit dem ihre Arme gefesselt waren, so lange auf dem stumpfen Sensenblatt hin und her zu bewegen, bis das gewebeverstärkte Plastik kapitulierte. Freudentränen glänzten in ihren blauen Augen, als ihre Arme endlich nicht mehr zusammengebunden waren. Sie riss die Kunststofffetzen von ihren Handgelenken und wurde dabei von einem unbeschreiblichen Glücksgefühl durchströmt.

Neben der Sense lag eine Sichel. Damit schnitt Belinda ihre Beinfesseln durch, und nun rückten für sie Freiheit und Rettung in greifbare Nähe.

Du hast es geschafft, Mädchen, dachte sie stolz. Sie jubelte innerlich. Ohne fremde Hilfe. Du brauchst nur noch die Hütte zu verlassen und wegzulaufen, dann ist das Martyrium endgültig ausgestanden.

Sie quälte sich hoch, stand etwas wackelig auf den Beinen. War das verwunderlich nach all dem, was sie hinter sich hatte? Sie stolperte auf die Tür zu.

Dahinter lag die Freiheit. Belinda wusste zwar nicht, in welchem Wald sie sich befand, aber wenn sie konsequent in eine Richtung ging, würde sie irgendwann aus dem Wald rauskommen und auf Menschen stoßen, mit denen sie reden konnte, die ihr helfen würden.

Als sie die schäbige Waldhütte, dieses Auffanglager für wertloses Gerümpel, verlassen wollte, vernahm sie Motorlärm. Ihr stockte unwillkürlich der Atem.

Ving Wipper kam zurück!

*

Norman Saldana saß bei seinem Italiener und aß mampfend und schmatzend Spagetti mit Fleischsoße. Er drehte die Gabel meisterhaft und stopfte sich dicke Nudelknäuel in den Mund. Eine große Stoffserviette steckte in seinem Hemdkragen und bedeckte seine Brust. Er streute zwischendurch immer wieder geriebenen Parmesankäse nach.

Craig Travis setzte sich zu ihm. »Hi, Norman.«

»Verzieh dich«, schnappte Saldana unfreundlich. Er war mal schwarzhaarig gewesen. Jetzt hatte er nur noch einen spärlichen grauen Haarkranz. Der Rest des Kopfes glänzte wie poliert. »Du verdirbst mir den Appetit.«

»Du sollst ohnedies nicht so viel in dich hineinschaufeln«, erwiderte Travis. »Sieh dich an. Du bist ein fettes Schwein geworden. Dir wachsen langsam die Augen zu.«

»Du weißt, dass ich dich nicht leiden kann. Also geh mir nicht auf den Sack.«

Saldana hatte sich vor zwei Jahren um einen Job bei Nic Orlando bemüht, war aber an Travis' Veto gescheitert, und seitdem war er nicht mehr gut auf diesen zu sprechen. Chris Keeslar und Jeff Fahey standen – abrufbereit - am Tresen und genehmigten sich einen Grappa, der fünfzehn Jahre im Eichenfass gereift war und aussah wie Kognak.

»Ich suche deinen Freund Ving«, sagte Travis.

»Ving ist nicht mein Freund«, gab Norman Saldana griesgrämig zurück.

»Hast du überhaupt einen Freund?«, höhnte Travis.

»Verdammt, warum lässt du mich nicht in Ruhe?«, brauste Saldana auf.

»Weil es für mich sehr wichtig ist, Ving zu finden. Du steckst häufig mit ihm zusammen …«

»Das war mal«, behauptete Saldana. »Du bist nicht auf dem Laufenden, Kumpel. Ich habe Ving vor einem halben Jahr zum letzten Mal gesehen.«

»Wo wohnt er?«, wollte Travis wissen.

Norman Saldana grinste ihn verächtlich an. »Frisst du immer noch Nic Orlandos Scheiße?«

Das hätte er nicht sagen dürfen. Travis explodierte. Er griff blitzschnell nach Saldanas Nacken und schleuderte ihn kraftvoll mit dem Gesicht in den vor ihm stehenden Spagettiteller. Als der Wirt das sah, wollte er eingreifen, doch Keeslar und Fahey hielten ihn davon ab.

»Nicht einmischen«, knurrte Fahey. »Das ist eine Sache, die nur die beiden angeht.«

Saldana richtete sich auf. Spagetti, Fleischsoße und Parmesankäse klebten in seinem Gesicht, und Blut rann aus seiner Nase.

»Verdammt …«

»Wo wohnt Ving?«, fragte Travis scharf.

»In Queens.« Saldana begann mit der Serviette vorsichtig sein Gesicht zu säubern. »Bellerose. Am Little League Ball Park. Er hat da ein Haus gemietet.«

Travis stand auf. »Na also. Geht doch. Ich wünsche dir noch einen schönen Tag, mein Freund.« Er winkte Keeslar und Fahey und verließ mit ihnen das Restaurant.

Zwanzig Minuten später brachen sie Wippers Haustür auf und traten mit schussbereiten Waffen ein.

»Hallo!«, rief Travis. »Hey, Ving! Bist du zuhause?«

Sie suchten ihn. Zuerst im Erdgeschoss, dann im Obergeschoss. Der Knabe glänzte durch Abwesenheit.

Travis rief den Boss an. »Wir befinden uns in Vings Haus«, berichtete er. »Bellerose. Am Little League Ball Park.«

»Und Ving?«

»Ist ausgeflogen.«

»Von wem habt ihr die Adresse?«

»Norman Saldana war so nett, sie mir zu verraten.«

»Norman Saldana?«, fragte Orlando ungläubig.

»Na ja, ich musste ein wenig nachhelfen«, sagte Travis. Er lachte selbstgefällig. »Und wie soll es nun weitergehen, Boss? Bedienst du Trevellian und Tucker mit der Adresse?«

»Weiß ich noch nicht«, antwortete Orlando. »Muss ich mir noch überlegen. Stellt inzwischen Vings Haus auf den Kopf. Vielleicht findet ihr irgendwo einen Hinweis darauf, wo er Hogans Assistentin gefangen hält. Eine solche Information würde mir bei den G-men beträchtlich mehr Punkte einbringen.«

 

*

David Baxley, der Tanzlehrer, der jetzt in Ving Wippers Apartment wohnte, meldete sich telefonisch. Wir befanden uns noch im Field Office an der Federal Plaza, hatten Mr McKees Büro vor einer Viertelstunde verlassen. Ich drückte auf einen Knopf, damit mein Partner das Gespräch von Anfang an mithören konnte.

»Es ist wegen dieser Frau …«, sagte Baxley. »Die angerufen hat … Der Wipper Geld schuldete … Sie wissen schon.«

»Ja, Mr Baxley?«, sagte ich abwartend.

»Mir ist ihr Name eingefallen.« Baxley schien sich ehrlich darüber zu freuen. »Ich hatte schon befürchtet, ihn für immer vergessen zu haben, aber – klick - auf einmal war er wieder da.«

»Ich höre.«

»Ghita Lommer.«

»So heißt die Lady?«

»Ja, Agent Trevellian, so heißt sie. Mit ihrer Adresse oder ihrer Telefonnummer kann ich Ihnen aber leider nicht dienen.«

»Das macht nichts«, tröstete ich ihn. »Sie haben uns trotzdem geholfen. Vielen Dank.«

Ich legte auf und sah zu Milo hinüber. »Ghita Lommer«, sagte ich. »Der Name ist mir irgendwie geläufig.«

»Mir kommt er auch nicht fremd vor. Ich weiß im Moment nur nicht, wo ich ihn unterbringen soll.«

Ich schnippte plötzlich mit den Fingern. »Ihr gehört ein Wettbüro in der 46. Straße West.«

»Genau.«

»Ich schlage vor, wir reden gleich mal mit der Dame.«

Milo hatte nichts dagegen einzuwenden. Er nickte. Wir verließen unser Büro. Auf dem Flur kam uns Medina entgegen.

»Meine Güte, Orry, wie siehst du denn aus?«, fragte Milo. »Ich hätte dich beinahe nicht erkannt.«

Er hatte Recht. Medina wirkte normalerweise immer wie aus dem Ei gepellt. Heute nicht. Sein teurer Anzug war dreckig. Sein Gesicht ebenfalls. Der Ärmel war eingerissen.

»Wir hatten einen Unfall«, erzählte er. »Clive und ich.« Er meinte seinen Partner Clive Caravaggio. »Wir waren hinter einem Mann her, der nach einem Streit seine Frau und seine drei Kinder ermordet hatte. Er raste auf die Brooklyn Piers zu. Kurz davor war dann Endstation. Für uns und für ihn. Wobei wir noch relativ glimpflich davonkamen. Unser Wagen hat sich zum Glück nur überschlagen. Seiner wurde von einem Zug erfasst und zermalmt. Und wohin seid ihr unterwegs?«

»Zu Ghita Lommer«, antwortete Milo.

»Sollte ich die Lady kennen?«

»Nur, wenn du gerne zockst«, sagte mein Partner. »Ihr gehört ein Wettbüro in der 46. Straße.«

Medina nickte. »Das kenne ich. Aber ich war noch nie drinnen.«

Milo schmunzelte. »Damit hast du dir unter Umständen eine Menge Geld erspart.«

Wir verließen das FBI Building.

Orry hatte Ghita Lommer als Lady bezeichnet, aber das war sie nicht. Man hätte sie auf den ersten Blick für einen Mann halten können. Ihre Züge waren hart und wenig weiblich. Sie rasierte sich auch. Und sie hatte Haare auf den Zähnen.

»FBI?«, sagte sie befremdet, ärgerlich, renitent und abweisend, als wir ihr unsere Dienstmarken zeigten. Wir befanden uns in ihrem winzigen Büro. Der Raum war schon für eine Person nicht groß genug. Zu dritt überkamen uns beinahe klaustrophobische Gefühle. »Bei mir ist alles in Ordnung«, erklärte das Mannweib kriegerisch. »Hier werdet ihr nichts finden, das zu beanstanden wäre. Bei mir laufen keine illegalen Geschäfte nebenbei.«

»Deshalb sind wir auch nicht hier«, erwiderte ich.

»Sondern weshalb?«, wollte Ghita Lommer forsch wissen.

»Wir suchen Ving Wipper«, sagte ich.

Zorn blitzte in ihren Augen auf. »Der gottverdammte Mistkerl schuldet mir Geld.«

»Das wissen wir.«

Ghita Lommer durchbohre mich mit ihrem stechenden Blick. »Von wem?«

Ich sagte es ihr. »Wann haben Sie Wipper das letzte Mal gesehen?«, fragte ich anschließend.

»Vorgestern.«

»Wo?«

»Er war hier«, antwortete Ghita Lommer.

»Um zu wetten?«

»Um mich zu beschwichtigen«, sagte die Besitzerin des Wettbüros. »Ich hatte eine Stinkwut auf ihn. Das wusste er. Ich hatte gedroht, ihm die Eier abzuschneiden, wenn er nicht endlich seine Schulden begleichen würde. Er sagte, wenn ich mich noch ein paar Tage gedulden würde, wäre er wieder flüssig und könne mir mein Geld wiedergeben.«

»Wie viel schuldet er Ihnen?«

»Zwölftausend Dollar.«

»Er erwartete also einen warmen Geldregen«, sagte Milo.

»Offenbar.«

»Sagte er, aus welcher Richtung der kommen würde?«, fragte mein Partner.

Ghita Lommer winkte verdrossen ab. »Er redete, wie immer, eine Menge Blech. Es ist ja allgemein bekannt, dass er nicht ganz sauber im Oberstübchen ist. Er sagte, er habe was in Planung und würde es in Kürze erfolgreich durchziehen. Auch ihm schulde jemand Geld, aber das würde er demnächst kriegen. Dann würde er wiederkommen und seine Schulden bezahlen. Denn Spielschulden seien Ehrenschulden. Bla-bla-bla. Reines Geschwafel. Ich machte ihm klar, dass mich nur eines interessiert: Wann ich die zwölf Riesen endlich auf der Haben-Seite verbuchen kann.«

»Er hat eine junge Frau entführt«, sagte Milo. »Ihr Name ist Belinda Fox.«

Ghita Lommer sah meinen Kollegen groß an. »Ving hat jemanden gekidnappt? Dann hatte er also das ›in Planung‹. So ein verdammter Dreckskerl.«

»Kennen Sie seine neue Adresse?«, erkundigte sich Milo.

»Ja. Die ist mir inzwischen bekannt.«

Ghita Lommer sagte uns, wo Ving Wipper jetzt wohnte, obwohl ihr klar war, dass sie dadurch ihr Geld mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht wiedersehen würde. Aber sie wollte das Ihre dazu beitragen, dass wir Belinda Fox aus Wippers Gewalt befreien konnten. Und wir trennten uns – beinahe - in Freundschaft von ihr.

*

Sie hatten zunächst noch warten wollen, aber dann erwachte in ihnen eine zügellose Leidenschaft, deren wildes Feuer sich nicht unterdrücken ließ, und sie beschlossen, die Gunst der Stunde zu nutzen.

Gleich in der Umkleidekabine. Die Dessous-Boutique war vorübergehend geschlossen, und Thandie Scott und Jack Corrington waren so heiß aufeinander, dass sie sofort, umgehend, auf der Stelle wissen wollten, ob es noch so fantastisch wie früher sein würde, wenn sie miteinander Liebe machten.

Es war sogar noch besser als früher – fand Thandie hinterher. »O mein Gott«, seufzte sie überwältigt. »Das – das – das war … Wow! Mir fehlen die Worte.« Sie küsste Corrington mit glühenden Lippen. So gut war Craig Travis noch nie gewesen, würde er auch niemals sein. Weil er immer nur an sich selbst dachte. »Ich möchte wieder mit dir zusammen sein, Jack«, hauchte sie gegen seinen Hals. »Du bist mein Traummann. Wir sind füreinander bestimmt. Wir gehören zusammen wie …«

Corrington grinste breit und zählte auf: »Wie Adam und Eva, Samson und Delilah, Cäsar und Cleopatra, Romeo und Julia, Tarzan und Jane, Elizabeth Taylor und Richard Burton, Evita und Juan Peron, Angelina Jolie und Brad Pitt. Und so weiter und so fort.«

Thandie brachte zuerst ihr Kleid und dann ihre Frisur in Ordnung. Sie äußerte sich bewundernd über Corringtons unglaubliche Ausdauer.

Obwohl er dreieinhalb Jahre weggesperrt gewesen war. Er verschwieg ihr, wo er seinen Überdruck losgeworden war, genoss es einfach, dass er für sie der absolut Größte war. Doch trotz aller Euphorie vergaß Thandie Scott nicht, noch einmal darauf hinzuweisen, dass es nur dann zu einer Neuauflage ihrer ebenso grandiosen wie erfüllenden Beziehung kommen könne, wenn Jack in der Lage wäre, mit einem soliden finanziellen Rückhalt aufzuweisen.

»Geh zu Nic Orlando«, empfahl sie ihm, während sie aus der Umkleidekabine trat und die Ladentür wieder aufschloss. »Ich glaube, er hat einen Job für dich.«

Corrington folgte ihr. »Orlando?«

»Ja. Eine größere Sache, für die er nicht jeden nehmen kann. Für die er einen Spezialisten wie dich braucht. Nic hat schon zweimal nach dir gefragt.«

»Erzähl mir mehr«, verlangte Corrington wissbegierig.

»Das kann ich nicht«, antwortete Thandie zu seiner Enttäuschung. »Ich weiß nur, dass es eine große Sache sein soll, bei der alle Beteiligten viel Geld verdienen können. Wirst du dich bei Nic melden?«