Die Großmeister des Mordes: Alfred Bekker präsentiert 12 Strand Krimis

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Er betrat das Haus, in dem er sein Büro hatte, fuhr mit dem Fahrstuhl zur vierten Etage hinauf. Sein Mund trocknete aus. Seine Kehle wurde eng. Sein Herz schlug schneller, während er den Gang entlangging.

Gleich würde er sein Büro betreten und Jodies verwaisten Schreibtisch sehen. Jodie … Er blieb vor der Tür stehen, hatte nicht den Mut, sie zu öffnen.

Aber es musste sein. Er musste sein Büro betreten und einige wichtige Telefonate führen, um die dreihunderttausend Bucks aufzutreiben, die Ving Wipper verlangte.

Rasch griff er nach dem Knauf. In der nächsten Sekunde schwang die Tür zur Seite, und ihm stockte der Atem. Jodies Schreibtisch …

Er war nicht verwaist. Seine Sekretärin saß dort. Jung, attraktiv, strahlend schön und unversehrt. Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr, hallte es in seinem Kopf. Was hat das zu bedeuten?

»Hallo, Chef.« Jodie funkelte ihn mit ihren wunderschönen blauen Augen an. »Hast du gut gespeist?«

Er war nicht fähig, zu antworten.

Sie lachte. »Wieso siehst du mich an, als hättest du einen Geist vor dir?«

Ihm fiel ein riesengroßer Stein vom Herzen, und er atmete unendlich erleichtert auf.

*

Es stimmte, was Jim Burns gesagt hatte. Die Assistentin des Zahnarztes bestätigte seine Aussage, dass er zur Tatzeit auf Dr. Millers Folterstuhl gesessen hatte.

Der nächste Name auf Hank Hogans Liste – gleich unter Jim Burns - war Cal Morano. Er spielte nicht nur als Wrestler den Bad Guy.

Er war es auch privat. Er hatte seiner Freundin so übel zugesetzt, dass sie wochenlang im Krankenhaus gelegen hatte. Und Hank hatte dafür gesorgt, dass er dafür zur Rechenschaft gezogen, vor Gericht gestellt und eine Weile eingebuchtet wurde. Möglicherweise hatte er Belinda Fox entführt, um sich an Hank zu rächen.

Als wir in meinen Sportwagen stiegen, läutete mein Mobiltelefon. Hank war dran. Er wollte wissen, ob wir uns Jim Burns schon vorgenommen hatten. Ich berichtete ihm, wie unser Besuch bei diesem Sonderling verlaufen war und dass der Mann, den Hank auf Platz zwei gereiht hatte, ein hieb- und stichfestes Alibi hatte.

»Jetzt fahren wir zu Cal Morano«, sagte ich abschließend.

»Den Weg könnt ihr euch sparen.«

»Ach ja? Und wieso?«

»Ich habe vor knapp zwanzig Minuten erfahren, dass Morano vor vier Tagen beim Training eine Ader im Kopf geplatzt ist«, teilte mir Hank Hogan mit. »Er ist seitdem blind und gelähmt. Die Ärzte haben ihn in künstlichen Tiefschlaf versetzt. Sie befürchten, dass er nicht durchkommen wird.«

»Dann statten wir der Nummer vier auf deiner Liste einen Besuch ab: Ben Warwick«, entschied ich. »Und was tust du inzwischen?«

Unser bester V-Mann seufzte. »Ich sitze hier däumchendrehend in meinem Wagen vor Norman Kowalskis Haus. Der Gute ist nicht daheim. Also muss ich auf ihn warten.«

»Schlaf nicht ein dabei.«

»Ich werde mir Mühe geben.«

*

George Jones fluchte und tobte am Telefon. Sein Kopf war knallrot. Er brüllte so laut, dass Jodie Simon draußen im Vorzimmer durch die geschlossene Tür jedes Wort verstehen konnte. Der Immobilien-Spekulant verwendete die deftigsten Ausdrücke und die schlimmsten Beleidigungen. Er musste sich einfach Luft machen und seinen Zorn bei Ving Wipper abladen.

Wipper beschränkte sich aufs Zuhören. Eine andere Möglichkeit gab es im Moment nicht. Außer der, aufzulegen. Doch das tat er nicht.

Er wartete auf die erste Pause, und als die kam, fragte er: »Bist du endlich fertig?«

»Ich würde zu gern wissen, was in deinem kranken Kopf vorgeht«, sagte Jones. Er saß an seinem Schreibtisch und schob einen Brieföffner fortwährend hin und her.

»Das weißt du doch«, erwiderte Wipper gelassen. »Habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt? Wenn ich mein Geld nicht wiederbekomme, schneide ich deiner hübschen Sekretärin die Kehle durch. Mit einem stumpfen Messer. Damit sie ein bisschen mehr davon hat.«

»Was soll das?«, schrie Jones. Die Adern traten ihm weit aus dem Hals. Wie die Seile einer Standseilbahn sahen sie aus. »Meine Sekretärin sitzt draußen im Vorzimmer und erfreut sich bester Gesundheit, du blödes Arschloch. Ich weiß nicht, wen du gekidnappt und mit deinem Handy fotografiert hast. Ich weiß nur, dass es ganz sicher nicht Jodie Simon ist.«

Pause am andern Ende.

»Jetzt möchte ich dein Gesicht sehen, Dämlack«, spottete George Jones.

Pause.

Dann Wipper, unsicher: »Du bluffst.«

»Soll ich Jodie ans Telefon holen? Möchtest du mit ihr reden?«

Pause.

»Du wirst verstehen, dass ich für die Freilassung einer wildfremden Frau keine dreihundert Riesen blechen werde«, höhnte Jones, während er nicht aufhörte, den Brieföffner mal hier hin, mal dort hin zu schieben.

Pause.

»Bist du noch dran, Ving?«, erkundigte sich Jones.

»Klar bin ich noch dran«, antwortete Wipper. »Und ich werde dir jetzt mal was sagen, Mistkerl. Du hast mich betrogen. Du hast mein gutes Geld leichtfertig verspekuliert, und du wirst es mir wiedergeben, weil du sonst nämlich schuld am Tod meiner Geisel sein wirst. Jodie Simons oder nicht. Das macht für mich keinen Unterschied. Ich habe eine junge blonde Frau in meiner Gewalt, die haargenau so aussieht wie deine Sekretärin, und sie wird sterben, wenn du nicht zahlst. Kannst du damit leben? Kannst du es mit deinem Gewissen vereinbaren, den Tod dieser Frau nicht verhindert zu haben, obwohl du es gekonnt hättest? Welchen Stellenwert hat Geld für dich, George Jones? Steht es über dem Leben einer bildschönen, unschuldigen Frau?« Er senkte seine Stimme. »Drei Tage, George. Das ist nicht sehr viel. Du musst dich beeilen. Der Countdown läuft. Und ich werde die Frist ganz sicher nicht verlängern.«

*

Belinda Fox hing an einem dicken Eisenhaken, der sich hoch über ihr befand. Ihr Gewicht zerrte an ihren Schultergelenken. Sie war zwar nicht schwer – gerade richtig -, aber die Zeit war ein Faktor, der sich immer schmerzhafter bemerkbar machte.

Sie hob den Kopf und sah nach oben. Gab es eine Möglichkeit, freizukommen? Ein dumpfes Pochen setzte zwischen ihren Schläfen ein.

Sie hatte schon x-mal im Geist Revue passieren lassen, was geschehen war. Zuerst der vergnügte Einkaufsbummel mit Kimberley Gish.

Lachen. Scherzen. Heitere Stimmung. Unbeschwertheit. Und dann … der Paukenschlag. Auf den Kopf. Hart und brutal. Schwärze. Das unendliche Nichts. Das große Vergessen … Irgendwann war sie zu sich gekommen.

Heftiges Rumpeln und Schütteln hatte sie geweckt. Dunkelheit hatte sie umgeben, und es hatte einige Augenblicke gedauert, bis sie begriffen hatte, dass sie im Kofferraum eines fahrenden Wagens lag.

Sie hatte gemerkt, dass sie an Händen und Füßen gefesselt war und nur durch die Nase atmen konnte, weil jemand ihr den Mund zugeklebt hatte.

Was hatte das alles zu bedeuten? Warum war das passiert? Wer überfällt in der Tiefgarage zwei junge Frauen und entführt eine von ihnen?

Ein Verrückter? Oder gab es für die Tat ein Motiv? Was hat der Kerl mit Kimberley gemacht?, durchzuckte es Belinda, während sie im dunklen Kofferraum kräftig durchgeschüttelt wurde. Lebt sie noch? Warum hat der Mann mich gekidnappt und nicht sie? Gefalle ich ihm besser? Ist er ein Triebtäter? Ein Sexmonster? Wohin bringt er mich? An einen Ort, an dem er mit mir ganz sicher allein ist? An dem ich ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert bin? Wo er mit mir anstellen kann, was immer ihm in den kranken Sinn kommt, ohne dass ihn dabei jemand stört? Wo ich mir die Seele aus dem Leib schreien kann, ohne gehört zu werden?

Unzählige Fragen stürmten auf sie ein. Und zu der Sorge um die eigene Zukunft gesellte sich immer wieder auch die Sorge um Kimberley.

Wieso sind es immer nur Männer, bei denen geistig alles aus dem Ruder läuft, sobald sie eine schöne Frau sehen?, fragte sich Belinda Fox. Umgekehrt passiert so etwas nie. Frauen haben sich in dieser Hinsicht sehr viel besser im Griff. Männer … Die Krone der Schöpfung – wie sie sich selbst gerne bezeichnen. Was für eine schmutzige, glanzlose Krone.

Der Wagen fuhr allmählich langsamer, und schließlich hielt er an. Stille. Kein Rütteln, Schaukeln und Schütteln mehr. Und was nun?, fragte sich Belinda nervös. Warum dauert es so lange, bis der Mistkerl aussteigt? Ist er Dr. Jekyll und Mr Hyde? Ringt er im Moment mit sich selbst? Wird das Böse in ihm siegen? Oder das Gute? Wird er mich laufen lassen? Oder wird er aussteigen, das Weite suchen und mich im Kofferraum liegen lassen? Einfach vergessen?

Die Tür öffnete sich. Der Fahrer stieg aus. Belindas Herzschlag beschleunigte. Ihre Zunge klebte am Gaumen. Sie regte sich nicht.

Gespannt lauschte sie auf jedes Geräusch, das zu ihr durchdrang. Sie hörte einen trockenen Zweig knacken. Knirschende Schritte, die sich dem Fahrzeugheck – und somit dem Kofferraum – näherten.

Dann geschah wieder quälend lange nichts. Sah der Kidnapper sich aufmerksam um? Vergewisserte er sich gründlich, dass niemand in der Nähe war, ehe er den Kofferraumdeckel hochklappte? Jetzt knackte der Verschluss, und im nächsten Moment stürzte sich eine quälende Helligkeit auf Belinda.

Sie schloss stöhnend die Augen, und als sie sie wieder öffnete, erblickte sie einen Mann, den sie noch nie zuvor gesehen hatte.

Sein drahtiges gewelltes Haar stand ungebändigt von seinem Kopf ab. In seinem Blick vereinten sich Verschlagenheit, Bosheit, Brutalität, Grausamkeit und noch viele andere unerfreuliche »Tugenden«.

Sie versuchte etwas zu sagen, doch sie brachte nur ein unartikuliertes »Mh, mh, mh!« zustande.

 

»Ach, halt's Maul!«, knurrte der Mann. »Sonst kriegst du gleich noch mal eins auf die Birne!«

Er packte sie mit beiden Händen, hievte sie aus dem Kofferraum und warf sie sich wie einen Kohlensack über die Schulter.

Mit dem Kopf nach unten bekam sie mit, dass sie sich mit ihrem Entführer in einem dichten Mischwald befand. Irgendwo außerhalb der Stadt.

Hank wird mich suchen, dachte sie. Vielleicht mit Jesse und Milo. Aber hier? Hier bestimmt nicht. Wie sollten sie auf eine solche Idee kommen? Ich muss mir selbst helfen, sonst bin ich verloren. Selbst helfen … Wie denn? Wenn man gefesselt ist und kaum genügend Luft zum Atmen bekommt.

Der Mann trug sie in eine vergammelte Hütte, die aus morschen, rissigen grauen Brettern bestand. In den Fensterrahmen befand sich kein Glas mehr.

Der Boden ächzte und knarrte. Überall stand Gerümpel herum. Unbrauchbar gewordene Betteinsätze. Ein Kühlturm ohne Türen. Eine Schaufel, deren Stiel abgebrochen war. Eine rostige Sense. Eine verbogene Sichel. Eine abgenutzte Spitzhacke. Eine stumpfe Axt. Zwei verbeulte Ölfässer.

Von den ausgetrockneten Deckenbalken, die ihrer Funktion wohl nicht mehr lange gerecht werden konnten, hingen Ketten unterschiedlicher Dicke herunter.

Das Ganze erinnerte an eine Werkstatt. Oder als Lager für das, was Menschen im Wald entsorgt hatten, weil sie dafür zuhause keinen Platz und keine Verwendung mehr hatten, und von anderen Menschen im Zuge einer groß angelegten Waldsäuberung eingesammelt und hier untergebracht worden war.

Der Kidnapper ließ Belinda von der Schulter rutschen und auf den Boden fallen. Sie schlug hart auf und stöhnte. Den Kerl kümmerte das nicht. Er stolperte durch die Hütte, beförderte jedes Hindernis mit einem kräftigen Tritt aus dem Weg – es schepperte, klapperte und klirrte -, beugte sich aus einem der Fenster und grunzte: »Hübsche kleine Waldvilla ist das. Beste Lage. Gute Luft. Keine Abgase. Keine Feinstaubbelastung. Hier lässt sich’s leben. Vorläufig.«

Was meint er damit?, fragte sich Belinda Fox. Was hat dieser fehlgesteuerte Mistkerl mit mir vor?

Der Mann kehrte zu ihr zurück. Er packte sie mit beiden Händen, hob sie hoch und hängte sie an diesen Haken, an dem sie jetzt noch immer hing.

»Hab was zu erledigen«, murmelte er. »Bin bald wieder zurück. Lauf inzwischen nicht weg, hörst du?«

Er lachte laut und gehässig, weil er genau wusste, dass sie nicht abhauen konnte. Schlendernd verließ er die einsame Waldhütte, die eines nicht mehr allzu fernen Tages in sich zusammenkrachen würde, weil sich niemand um ihr altes, pflegebedürftiges Holz kümmerte.

Belinda hörte ihn in den Wagen steigen, in dessen Kofferraum sie gelegen hatte, und als er am Fenster vorbeifuhr, sah sie, dass es Kimberley Gishs Wagen war.

Das war ihr vorhin nicht aufgefallen. Das Fahrzeug umrundete die Hütte und entfernte sich sodann in die Richtung, aus der es gekommen war.

Von da an herrschte um die Hütte herum die lebendige Stille der Natur. Das permanente Wispern in den Baumkronen. Das harte Klopfen eines Spechts. Das Knarren von sich aneinander reibenden Bäumen …

Und Belinda hing allein gelassen an diesem dicken Eisenhaken und hatte sehr viel Zeit, über ihre üble Situation nachzudenken. Sie dachte an Kimberley und hoffte, dass sie den Überfall weitgehend unbeschadet überlebt hatte, dachte an Hank Hogan, der Himmel und Hölle in Bewegung setzen würde, sobald er erfuhr, was ihr widerfahren war.

Und sie fragte sich immer wieder, wieso ausgerechnet sie in diese missliche Lage geraten war. Zufall? Absicht? Hatte der Entführer für das, was er tat, ein Motiv? Oder gab es nur in seinem wirren Kopf einen Grund für sein Handeln?

*

Als Norman Kowalski nach Hause kam, verließ Hank Hogan seinen Wagen. Er folgte der Nummer eins auf seiner Liste. Der Bursche war aalglatt, hinterlistig und verschlagen. Einen richtigen Beruf hatte er nicht.

Er war Spieler. Nicht aus Leidenschaft, sondern zwecks Broterwerbs. Er zockte Typen, die glaubten, sich mit ihm messen zu können, gnadenlos ab.

Selbstverständlich spielte er falsch. Jeder, der sich auf sein Glück verließ, war in seinen Augen ein ausgemachter Idiot. Er half seinem Glück lieber mit einer Vielzahl von Tricks auf die Beine.

In fünfundneunzig von hundert Fällen kam er damit durch. Es fiel so gut wie nie auf, wenn er Lady Luck gelegentlich einen kleinen Schubs gab, um sich den erforderlichen Vorteil zu verschaffen, denn er war sehr geschickt, mit allen Wassern gewaschen und mit allen Salben geschmiert und verfügte über die Fingerfertigkeit eines geübten Taschendiebs. Ging die Sache mal schief, war er sehr schnell mit dem Messer zur Hand. Vor drei Monaten hatte Norman Kowalski nach einer heißen Pokerrunde – die er mit gezinkten Karten für sich entschieden hatte - im Streit einen Mann erstochen.

Die Witwe hatte Hank Hogan engagiert, doch es war ihm nicht gelungen, Kowalski hinter Gitter zu bringen, weil dessen gerissener Anwalt für seinen Mandanten eine »Notwehrüberschreitung mit Todesfolge« herausgeholt hatte. Nach dem Prozess war Norman Kowalski dem Detektiv gefolgt, und als Hank in seinen Wagen gestiegen war, hatte Kowalski ihn daran gehindert, die Tür zu schließen.

Hank hatte zu ihm hochgesehen und frostig gefragt: »Ist noch was?«

»Du hast einen Fehler gemacht, Schnüffler.«

»Welchen?«

»Du hast dich mit Norman Kowalski angelegt. Das hättest du nicht tun dürfen. Du weißt nicht, wozu ich fähig bin.«

»Mir schlottern gleich die Knie.«

»Ich nehme dir verdammt übel, was du getan hast, Hogan. Irgendwann zahle ich dir das heim. Ich werde dich für das, was du dir mir gegenüber herausgenommen hast, bestrafen. Vielleicht schon morgen. Vielleicht aber erst in ein paar Monaten. Ich bin wie ein Elefant. Ich merke mir so etwas sehr lange. Und ich habe einen Geburtsfehler: Ich kann nicht vergeben.«

Hinter diesem Mann war Hank Hogan jetzt her. Er betrat das Haus, in dem Norman Kowalski soeben verschwunden war. Und im nächsten Moment packte ihn der Bursche von hinten und setzte ihm sein Messer an die Kehle.

»Keine Bewegung!«, zischte Kowalski.

Hank versteifte.

»Überraschung«, sagte Kowalski mit höhnischem Singsang. »Damit hast du nicht gerechnet, was? Tja, ich habe meine Augen überall, Stinker.«

»Nimm das Messer weg, Kowalski!«, verlangte Hank Hogan eisig.

»Warum sollte ich?«

»Weil ich sonst nicht garantieren kann, dass ich dir nicht den Arm breche.«

Norman Kowalski lachte rau. »Du hältst dich wohl für David Copperfield.«

Hank handelte. Denn zu diesem Zeitpunkt rechnete Kowalski bestimmt noch nicht damit. Und so war es auch. Hanks Schuhabsatz traf Kowalskis Schienbein. Hart. Kräftig. Schmerzvoll. Der Getroffene stieß einen heiseren Schrei aus. Hank griff blitzartig nach der Messerhand und wirbelte herum. Kowalski schrie noch einmal auf, und dann fiel das Messer auf den Boden. Hank Hogan hob es auf und richtete die Spitze der langen Klinge gegen Kowalskis Brust.

»Wie war das damals mit der Notwehrüberschreitung mit Todesfolge?«, fragte der Privatdetektiv grimmig.

Kowalski hielt sich den schmerzenden Arm. »Du wirst das nicht tun.« Er sagte es nicht sehr überzeugt. In seiner Stimme schwang ein gerüttelt Maß an Unsicherheit mit.

Hank kniff die Augen zusammen. »Und wieso nicht?«

»Du bist Privatdetektiv.«

»Du hast mich angegriffen.«

»Du warst hinter mir her«, verteidigte sich Norman Kowalski heiser.

»Wo ist Belinda Fox?«, wechselte Hank Hogan sprunghaft das Thema.

»Wer?«

»Du weißt, von wem ich rede.«

»Woher soll ich wissen, wo deine Sekretärin ist?«, fragte Kowalski.

»Du hast mir gedroht. Hast gesagt, du würdest mich bestrafen, weil ich gewagt habe, mich mit dir anzulegen. Schon vergessen? Ich dachte, du wärst ein Elefant.«

»Ich hab das damals im Zorn gesagt«, entgegnete Kowalski. »Inzwischen hatte ich Zeit, Dampf abzulassen und mir die Sache anders zu überlegen. Du bist die Mühe nicht wert, Hogan.« Er grinste frech. »Niemand kann mir verbieten, über Nacht klüger zu werden.«

Hank Hogan nannte die Tatzeit und verlangte von Norman Kowalski ein Alibi. Der Spieler straffte seinen Rücken. Damit schien er dienen zu können. Er wirkte sichtlich erleichtert, sagte, er wäre drei Tage in Las Vegas gewesen und erst vor einer Stunde zurückgekommen, und er konnte das auch mit einer Faust voll Zahlungsbelegen, die er achtlos in seine Hosentasche gestopft hatte, beweisen.

Hank drehte sich enttäuscht um und ging.

»Hey!«, rief ihm Norman Kowalski renitent nach. »Was ist mit meinem Messer?«

»Das ist konfisziert.«

»Es gehört mir.«

»Kannst mich ja verklagen.«

*

Belinda Fox versuchte vom Haken loszukommen, indem sie sich voll durchstreckte, und als das zuwenig war, hüpfte sie mehrmals hoch.

Doch auch auf diese Weise kam sie nicht frei. Es sah ganz danach aus, als wäre sie gezwungen, am Haken hängen zu bleiben und auf die Rückkehr ihres Entführers zu warten. Das sind bei Gott keine rosigen Aussichten, dachte sie. Die Schmerzen in ihren Schultergelenken nahmen von Minute zu Minute zu. Irgendwann werden sie unerträglich sein, dachte sie. Und ich werde meinen Schmerz wegen dieses verflixten Klebestreifens nicht einmal herausschreien können.

Die Zeit verrann wie langsam erkaltender Teer. Belinda wusste nicht, wie lange sie schon in dieser schäbigen Waldhütte – umgeben von Dreck, Staub, Modergeruch und Gerümpel - gefangen war. Ihr war bereits jeglicher Zeitbegriff abhanden gekommen.

Sie schaute einmal mehr nach oben. Hinauf zu diesem Haken, an dem sie hing und von dem sie trotz intensivster Bemühungen noch immer nicht losgekommen war.

Wie lange würde sie hier noch so hilflos hängen müssen? Würde ihr Entführer zurückkommen? Wenn ja – wann? Wenn nein … Sie fröstelte. Auch das war denkbar. Der Mann konnte einen Unfall haben.

Es brauchte nicht einmal ein tödlicher zu sein. Nur einer, der einen längeren Krankenhausaufenthalt erforderlich machte. Er könnte einige Zeit im Koma liegen, dachte Belinda. So dass er niemandem sagen kann, wo ich bin. Dann wird diese armselige Waldhütte zu meinem Sterbehaus.

Sie hatte sich noch nie in einer kläglicheren Lage befunden. Und die verrückte Situation machte es auch noch erforderlich, dass sie ihrem gemeinen Kidnapper die Daumen drücken musste, damit ihm nichts zustieß.

Plötzlich hörte sie ein Fahrzeug. Es kam näher, fuhr mit mäßiger Geschwindigkeit durch den dichten Mischwald und hielt vor der Hütte an.

Das ist bestimmt er, dachte Belinda. Wer sollte es sonst sein?

Jemand stieg aus. Schritte. Sie näherten sich der verwitterten Holztür. Sekunden später wurde die altersschwache Tür geöffnet.

Sie bewegte sich unter knarrendem, quietschendem und ächzendem Protest. Und dann sah Belinda Fox ihren Entführer wieder.

Das Daumen drücken hat genützt, dachte Hank Hogans Partnerin sarkastisch. Er lebt. Es geht ihm gut. Er ist zu mir zurückgekehrt.

Der Mann trat vor sie hin und musterte sie eingehend. Als suchte er in ihrem Gesicht nach einer speziellen Besonderheit. Eine Sommersprosse vielleicht?

»Scheiße ja«, sagte er nach einer Weile. Er nickte mit grimmiger Miene. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, als wollte er etwas wegwischen. »Verdammt, ich hätte besser hinsehen sollen. Du bist nicht Jodie Simon. Aber du siehst ihr so sehr ähnlich, als wärst du ihre eineiige Zwillingsschwester.«

Ein Irrtum, hallte es in Belinda Fox. Ich bin das Opfer eines Irrtums geworden. Ach herrje. Er hat die Falsche erwischt. Er wollte nicht mich entführen, sondern Jodie Simon – wer immer das sein mag.

»Durst?«, fragte der Mann.

Belinda reagierte nicht.

»Hast du Durst?«, blaffte der Kidnapper.

Sie nickte.

Er sagte mit gedämpfter Stimme: »Ich werde jetzt den Klebestreifen von deinem Mund entfernen. Aber ich warne dich. Wenn du mich nervst, wenn du zu viel redest oder gar anfängst zu schreien, klebe ich dir dein Maul gleich wieder zu, und du bekommst von mir weder zu trinken noch zu essen. Ist das bei dir angekommen?«

Belinda nickte wieder. Er riss daraufhin den Klebestreifen mit einem schnellen Ruck weg. Es tat kurz weh. Aber die Schmerzen in den Schultergelenken waren schlimmer.

 

Endlich konnte Belinda wieder richtig atmen. Sie tat es ausgiebig. Noch nie hatte sie das so sehr und so bewusst genossen. Luft. Luft …

»Schreien nützt hier draußen gar nichts«, informierte der Kidnapper sie. »Du bist mit mir allein. Also plärr mir nicht die Ohren voll, sonst …« Er hielt den Klebestreifen warnend vor ihre veilchenblauen Augen.

»Wer ist Jodie Simon?«, wagte Belinda zu fragen.

»Sie ist George Jones' Sekretärin.«

»Und wer ist …«

Er drehte sich um, ging hinaus, holte einen Becher Coca Cola und einen Hamburger aus dem Wagen, kehrte zu ihr zurück und begann sie zu füttern.

Mal musste sie trinken, mal essen, mal trinken, mal essen … Diesen Rhythmus behielt er bei, bis alles verfüttert war. Das Papier, in das der Hamburger eingewickelt gewesen war, warf er achtlos auf den Boden. Den leeren Becher hinterher. Das solle demnächst die »Putze« wegräumen, scherzte er. »Satt?«, erkundigte er sich.

Belinda nickte.

»Wie heißt du?«, wollte er wissen.

»Belinda Fox. Ich arbeite …«

»Interessiert mich nicht«, fiel er ihr harsch ins Wort.

»Okay«, sagte Belinda leise. »Sie haben also die Falsche erwischt.«

»Blöderweise«, gab er zu. »Aber die Ähnlichkeit ist wirklich frappant.«

»Und was nun?«, fragte Belinda Fox. »Werden – werden Sie mich freilassen?«

»Nein.« Er sah sie befremdet an. »Wie kommst du denn auf die Idee?«

»Na ja«, meinte Belinda, »wenn ich nicht die bin, die Sie kidnappen wollten …«

»Ich habe mit George geredet.«

»Ich kenne diesen Mann nicht«, sagte Belinda.

»Natürlich kennst du ihn nicht. Weil du nicht seine Sekretärin bist.« Er beschloss, ihr seine Beweggründe für diese Entführung darzulegen, damit sie sich auskannte. Er erzählte ihr von seinen dreihunderttausend Dollar, die der Immobilien-Spekulant George Jones – seiner Ansicht nach geradezu verantwortungslos leichtsinnig – falsch verplant hatte, und die er wiederhaben wollte. »Und damit der Mistkerl blecht, habe ich mir seine Sekretärin gekrallt, verstehst du?«, ergänzte er. »Jedenfalls war das meine Absicht. Jodie Simon ist nämlich nicht nur seine Sekretärin. Sie macht für ihn auch die Beine breit, wann immer er es möchte. Und sie macht das offenbar so gut, dass er total vernarrt in sie ist. Ich sagte mir: Wenn du Jodie in deine Gewalt bringst, frisst er dir aus der Hand und tut er alles, um sie unversehrt wiederzubekommen. Die Sache wäre auch garantiert wie geschmiert gelaufen, wenn ich die richtige Frau erwischt hätte. Aber sie wird auch so funktionieren.«

»Obwohl ich nicht Jodie Simon bin?«, fragte Belinda. Sie konnte sich das nicht vorstellen. »Warum sollte George Jones für mich dreihunderttausend Dollar lockermachen?«

»Weil er ein Badewannentaucher, ein Blasenteetrinker, ein Dünnstrahlpinkler ist«, antwortete der Entführer abschätzig. »Weil er es niemals mit seinem Gewissen vereinbaren könnte, wenn ich dich …« Er sprach nicht weiter.

»Was?«, fragte Belinda. Ihr Blutdruck stieg.

Er sagte noch immer nichts.

»Dass Sie mich – was?«, fragte Belinda mit Nachdruck.

Er zuckte mit den Achseln. »Ich habe ihm klar gemacht, dass ich dich umlegen werde, wenn er nicht blecht.«

»Mich?«

»Dich. An Stelle seiner Sekretärin.«

Belinda lief es kalt über den Rücken. Das hörte sich nicht so an, als wäre es bloß so dahergeredet. Der Kidnapper meinte es genau so, wie er es gesagt hatte. Das sah sie ihm an.

»Ich habe wahnsinnige Schmerzen«, sagte sie, mit wenig Hoffnung, ihn erweichen zu können. »Ich hänge seit Stunden an diesem Haken. Würden Sie mich davon befreien?«

Er schüttelte den Kopf. Sie hatte eigentlich nichts anderes erwartet. »Kann ich nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil ich nicht möchte, dass du abhaust.«

»Sie könnten mich irgendwo anders festbinden«, sagte Belinda. »Es gäbe genug Möglichkeiten …«

»Du bleibst, wo du bist, Baby«, knurrte der Kidnapper. »Sei froh, dass du noch imstande bist, Schmerzen zu empfinden. Wenn dir nämlich nichts mehr weh tut, bist du tot.«

»Sie werden Ihr Geld nicht bekommen.«

»Ich dachte, du kennst George nicht.«

»Tu ich auch nicht. Aber …«

»Ich habe den Typ vorhin schon mal beschrieben«, sagte der Kidnapper im Brustton tiefster Verachtung. »Er ist ein Weichei. Ein Warmduscher. Ein Vorwärtseinparker. Ein Achterbahnkotzer. Ein Entenfütterer. Diese Liste ließe sich noch sehr lange fortsetzen. George Jones kann nur mit Zahlen, Häusern und Grundstücken jonglieren. Und das nicht einmal besonders gut, wie ich zu meinem Leidwesen erfahren musste. George könnte nicht damit leben, schuld am Tod einer jungen Frau zu sein, die auch noch dazu genauso aussieht wie seine heiß geliebte Sekretärin. Deshalb wird er spuren, ohne dass ich Jodie Simon habe.« Seine Lippen wurden schmal. »Dreihunderttausend Bucks sind für mich viel Geld.«

»Das ist für jeden viel Geld«, sagte Belinda Fox.

»Ich kann, will und werde es mir nicht leisten, diesen Betrag mit einem lockeren Achselzucken einfach abzuschreiben. Deshalb ziehe ich die Sache, die ich angefangen habe, jetzt mit dir durch.«

Belinda bezweifelte, dass dieser Mann sie laufen ließ, sobald er sein Geld bekommen hatte. Der Kerl war nicht normal. Manchmal leuchtete ein gefährlich irres Flackern in seinen Augen auf. Er trat näher.

Sein unsympathisches Gesicht kam ihrem so nahe, dass sie seinen schlechten Atem riechen konnte. Selten hatte sie ein Mensch so angewidert.

»Ich habe kürzlich einen Film gesehen«, sagte er.

Was soll jetzt das?, fragte sich Belinda Fox befremdet. Hat er den Verstand verloren? Wieso redet er auf einmal über so etwas?

»Hat mir sehr gut gefallen«, fuhr der Mann fort, als wäre es ihm sehr wichtig, dass sie das wusste. »War eine japanische Produktion. Es ging um einen Profi-Killer, der einen Auftrag ausführte und dabei von einer jungen Frau beobachtet wurde. Er nannte ihr seinen Namen. Dann musste er vor den Komplizen des soeben Gekillten fliehen.«

Belinda sah ihn an.

Er lachte, als würde sie ihn amüsieren. »Ich sehe große Fragezeichen in deinen Augen.«

Belinda schwieg.

»'Warum redet er auf einmal über diesen Film?'«, sagte der Kidnapper. »'Hat er sie nicht alle? Ist er plemplem?' Das denkst du jetzt doch sicher, oder? ›Was will er mir eigentlich sagen?‹ Nun, du wirst gleich merken, dass ich nicht bekloppt bin. Diese japanischen Killer leben angeblich nach einem sehr strengen Kodex. So erzählt es jedenfalls der Film. Wenn sie einem Augenzeugen ihren Namen verraten, heißt das so viel wie: ›Ich werde dich töten.‹ Der Killer hatte keine Zeit, es gleich zu tun. Weil ihm diese Meute auf den Fersen war. Aber die Frau musste damit rechnen, dass er wiederkommen und tun würde, was ihm vorgeschrieben war.«

Belinda schwieg weiter. Aber in ihrem Kopf drehten sich die Gedanken wie schwere Mühlsteine.

»Mein Name ist Ving Wipper«, sagte der Kidnapper. Er grinste. »Du verstehst?«

Belinda verstand. »Ving Wipper«, kam es dünn über ihre bebenden Lippen. Ihre Widerstandskraft wurde allmählich brüchig.

Er nickte. »Du bist ein kluges Mädchen. Du begreifst sehr schnell.« Seine Miene wurde hart, sein Blick kalt. »Sobald ich mein Geld habe, sehen wir uns wieder«, sagte er dunkel. »Und dann …«

Belinda hatte das Gefühl, Eiswasser würde durch ihre Adern fließen.

»Du kennst jetzt meinen Namen«, sagte Wipper.

»Warum haben Sie ihn mir verraten?«, fragte Belinda Fox verständnislos.

Ving Wipper zuckte mit den Achseln. »Mir war danach. Und nun bin ich begreiflicherweise gezwungen, zu tun, was in so einem Fall getan werden muss. Wie dieser Killer im Film. Ist ja klar.« Er setzte ein abstoßendes Lächeln auf. »Aber zuvor werde ich noch ein bisschen Spaß mit dir haben.«

Er fasste seiner wehrlosen Gefangenen Besitz ergreifend an die Brüste und drückte sie so fest, dass es weh tat. Belinda konnte sich nicht wehren.