Die besten 12 Strand Krimis Juni 2021

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3

Es war buchstäblich die Hölle los, als Moeller am Ort des Geschehens eintraf. Der Baumarkt Dörner - DIE NUMMER EINS IN SÜDWESTFALEN, wie Moeller den Werbeslogan aus dem lokalen Radio im Ohr hatte - brannte lichterloh. Die Flammen machten die Nacht zum Tag. Auf der Werdohler Landstraße hatte sich indessen ein kleiner Stau von Gaffern gebildet.

Im Hintergrund ragte die mächtige Talbrücke auf, über die die A45 geführt wurde. Die Flammen ließen bizarre Schattengebilde auf den grauen Betonpfeilern tanzen.

Moeller stellte seinen rostigen Omega neben einem Einsatzwagen der Polizei ab und stieg aus.

Der Baumarkt war nicht mehr zu retten. Um das zu erkennen, brauchte man kein Brandfachmann sein. Ein ausgebranntes Betonskelett würde vielleicht am Ende bleiben. Und eine Menge Sondermüll.

Moeller hatte immer noch die swingende Basslinie aus SO WHAT im Kopf. In seinem inneren Ohr hörte er sie dauernd und stellte sich dabei ein fulminantes Saxophon-Solo vor, während er einen Augenblick das ganze Geschehen auf sich wirken ließ.

Feuerwehrleute liefen hektisch durcheinander. Dazwischen war auch ein Notarzt-Team inklusive Rettungswagen zu sehen.

Polizisten riegelten das Gelände ab und versuchten dafür zu sorgen, dass der Verkehr auf der Werdohler Landstraße nicht ins Stocken kam.

Moeller atmete tief durch.

Seine inneres Solo näherte sich seinem fulminanten Höhepunkt, und er hatte eigentlich nicht die geringste Lust dazu, jetzt näher auf das brennende Gebäude zuzugehen.

Schließlich spürte er schon ziemlich unangenehm die Hitze.

Die ersten Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.

Zögernd bewegte sich Moeller schließlich doch.

"Keine Zuschauer hier!", rief ihm ein uniformierter Kollege wild gestikulierend entgegen.

Moeller holte seine Kripomarke aus der Hosentasche und hielt sie dem Uniformierten entgegen.

"Ich bin dienstlich hier", sagte Moeller und gähnte.

"Entschuldigung", erwiderte der Uniformierte. "Konnte ich Ihnen ja nicht ansehen, woll?"

"Macht ja nichts."

"Ich glaub', ich hab' Sie auch schonmal gesehen..."

"Kann sein", sagte Moeller. Er grinste. "Wollen Sie mich nicht doch etwas energischer wegschicken? Dann hätte ich einen guten Grund, wieder nach Hause zu fahren... Ich habe nämlich keine Ahnung, was ich hier soll. Sieht mir mehr wie ein Fall für die Feuerwehr aus... Ein ziemlich aussichtsloser allerdings..."

"Kommen Sie. Ich glaube, Sie werden schon erwartet..."

Jetzt gab es kein zurück mehr! Keine Ausrede, um sich länger vor der Arbeit zu drücken. Moeller seufzte.

Er ging hinter dem Uniformierten her.

"Wenn Sie mich fragen, das riecht nach Brandstiftung", meinte dieser.

"So?"

Moellers Interesse war mäßig.

"DIE NUMMER EINS IN SÜDWESTFALEN ist der Dörner-Baumarkt doch schon lange nicht mehr. Mein Schwager arbeitet da, deshalb weiß ich Bescheid."

"Ach!"

"Die haben seit drei Monaten keine Löhne mehr dort gekriegt! Seit es hier den neuen OBI-Markt gibt, stehen die doch am Rand des Bankrotts!"

"Und Sie meinen, vorher haben die Besitzer schnell den eigenen Laden angezündet, um sich mit der Versicherungssumme schadlos zu halten", schloss Moeller.

"Ist doch der erste Gedanke in so einem Fall, woll?"

"Na, wenn Sie es sagen!" Eine Spur Ironie klang in Moellers Worten mit, die sein uniformierter Kollege aber nicht registrierte.

"Sagen Sie mal, irgendwo habe ich Sie doch auch schon mal gesehen", meinte Moeller dann. "Ich komm jetzt nicht drauf. War, glaube ich, in der Zeitung. Haben Sie mal bei Rot-Weiß gespielt?"

"Nee. Nicht einmal bei den Altherren."

"Oder waren Sie verdienter Sportler des Turnvereins?"

"Ich mache nur gerade so viel Sport, dass mich die Uniform nicht kneift!"

"Jetzt weiß ich es! Sie waren bei dem großen Unfall mit Sattelschlepper dabei! Vor einer Woche auf der A45!"

"Bingo!"

"Habe ich es mir doch gedacht! Sie waren gut zu sehen, sogar in bunt!"

"So'n Unfall regelt man ja nicht alle Tage, woll?"

Moeller nickte. "Da haben Sie allerdings recht!"

Die Körperhaltung des Uniformierten hatte sich gestrafft.

Jeder freut sich, wenn er mal prominent ist, dachte Moeller sarkastisch. Er nickte leicht den Kopf, während in seinem Kopf wieder die SO WHAT-Basslinie swingte.

Seitlich von ihm, mitten unter einem Pulk von Feuerwehrleuten befanden sich zwei Lokaljournalisten, die eifrig herumknipsten. Einer von den Lüdenscheider Nachrichten und einer von der Westfälischen Rundschau.

Konkurrenz belebte das Geschäft. Moeller kannte sie beide und wusste, dass sie nebenbei ihre Bilder auch noch an die Bildzeitung verkauften, wenn sie blutrünstig genug waren.

Die Unfälle auf der A45 boten in dieser Hinsicht eigentlich immer was. Ob dieser Brand allerdings republikweit gesehen genug sensationspotential hatte, bezweifelte Moeller.

Gut, dass die beiden beschäftigt sind, dachte Moeller. Dann belästigten sie wenigstens nicht ihn, um Dinge aus ihm herauszuquetschen, die er selbst nicht wusste.

Ein Mann mit wehendem Regenmantel kam auf ihn zu. Das war Moellers Kollege Klaus Simitsch. Unter dem fliegenden Regenmantel trug er ein elegantes Jackett und eine farblich darauf abgestimmte Krawatte. Er war ein paar Jahre jünger als Moeller und vom Outfit her so etwas wie das komplette Gegenteil. 'Angezogen für einen Undercover-Einsatz im Arbeitgeberverband', so stichelte Moeller manchmal.

"Da bist du ja endlich, Moeller!", rief Simitsch.

Die meisten Kollegen redeten ihn so an. Nachname und 'du'.

"Die wirklich Großen haben eben nur einen einzigen Namen", pflegte Moeller dazu immer zu sagen. Prince, Heino, Spock...

Und Moeller! Moeller mit oe wohlgemerkt.

Simitsch war ziemlich genervt. Seine Krawattennadel saß schief. Das war ein schlimmes Omen, fand Moeller.

Er sagte: "Immer mit der Ruhe, Kollege."

"Meine Güte, hast du dir Zeit gelassen, Moeller! Und dabei wohnst du doch hier ganz in der Nähe, woll?"

Eigentlich gehörte Simitsch gar nicht zu den Woll-Sagern.

Aber wenn er im Stress war, kam seine wahre Natur zum Vorschein.

"Na, ich geh dann mal!", meinte indessen der Uniformierte, der die dicke Luft roch.

Simitsch nahm Moeller zur Seite.

"Die Feuerwehrleute haben einen Mann aus dem Dörner-Markt herausgeholt..."

"Ach..."

"Er war mit Isolierband an einen Stuhl gefesselt. Der Brand ist relativ früh entdeckt worden, deswegen ist der Kerl mit dem Leben davongekommen. Ein bisschen viel Rauch hat er abbekommen, aber sonst fehlt ihm wohl nicht so viel..."

Moeller deutete auf das Flammenmeer.

"Wieso hat man den Brand nicht besser unter Kontrolle gekriegt? Ich meine, wenn man ihn doch so schnell entdeckt hat..."

"Bin ich ein Brandexperte, Moeller?"

"War ja nur 'ne Frage."

"Mann, das ist ein Baumarkt! Viel Holz, brennbare Chemikalien, Farben, Lacke... Das geht doch im Handumdrehen!"

4

Ein Mann mit einen Stethoskop um den Hals ging auf Simitsch und Moeller zu.

"Sie können jetzt mit ihm reden", meinte er mit ernstem Gesicht. "Aber nicht zu lange..."

"Gut", sagte Moeller.

"Der Mann hat wahnsinniges Glück gehabt. Eine leichte Rauchvergiftung, das ist alles."

Simitsch ging zum Rettungswagen. Moeller dackelte hinterher. Der Gerettete saß auf der Trage. Er hustete etwas.

Ein Sanitäter kümmerte sich um ihn, aber da konnte er kaum helfen.

Simitsch zeigte seine Dienstmarke herum. Moeller auch.

"Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen, Herr...", begann Simitsch.

Der Mann sah auf. Er war vermutlich zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt. Das Gesicht war faltig. Die Zähne so gelb, dass er nach Moellers Meinung ein Raucher sein musste.

Die Fingernägel sprachen auch dafür. Seine Kleidung sah ziemlich ramponiert aus. Aber der Aufdruck DÖRNER – DIE NUMMER EINS IN SÜDWESTFALEN war auf dem graublauen Kittel noch deutlich zu sehen. Nur die Ö-Striche von DÖRNER waren durch einen Rußfleck so verdreckt, dass man sie nicht mehr erkennen konnte.

"Wolf", sagte der Mann. Er hustete noch einmal. Dabei schloss er die Augen und fuhr sich mit der flachen Hand über den schütteren Haaransatz. "Norbert Wolf..." Er prustete zum Steinerweichen.

"Was ist passiert?", fragte Simitsch.

"Häh?" Wolf sah Simitsch an wie ein Auto.

"Mein Gott, jemand hat Sie überfallen, gefesselt und dort", - dabei deutete er in Richtung des Infernos - "zurückgelassen!"

"Ich weiß nicht...", murmelte Wolf.

"Sagen Sie uns, was passiert ist!"

"Ich kann dazu nichts sagen", erklärte Wolf.

"Das gibt's doch nicht!", rief Simitsch.

"Ich habe einen Schlag auf den Kopf bekommen", meinte Wolf. Der Arzt stand etwas abseits und nickte. "Kann ich bestätigen", erklärte er.

Simitsch fuhr sich durch das Haar und schüttelte den Kopf.

Jetzt mischte Moeller sich ein. "Wo waren Sie, als Sie den Schlag bekommen haben?"

"An der Eingangstür. Ich habe den Laden abgeschlossen."

"Sie sind bei Dörner angestellt", stellte Moeller fest.

"Ja."

"Als was?"

"Abteilungsleiter."

"Welche Abteilung leiten Sie?"

 

"Sanitäres!"

Unter Schock steht er jedenfalls nicht, dachte Moeller. Der Kerl schien auf einmal gut beieinander zu sein... Viel besser als noch vor zwei Minuten.

"Und den Schlag haben Sie an der Tür bekommen."

"Wohl schwerhörig, woll? Habe ich doch gesagt!", brauste Wolf jetzt auf einmal auf.

"Sie haben niemanden erkannt."

"Nee!"

"Und sonst, haben Sie..."

"Bin ich 'nen Papagei, dass ich alles wiederholen muss?", schimpfte Wolf. Er fasste sich theatralisch an den Kopf und hustete dann noch einmal zum Steinerweichen. "Vielleicht befragen Sie Herrn Wolf besser morgen", meinte der Arzt.

Mit dem ist was faul, dachte Moeller. Und eine andere Stimme in ihm konterte: Du siehst Gespenster! Was heute Abend passiert ist, war einfach zu viel für den armen Kerl!

Ein uniformierter Kollege kam herbei.

Er führte eine ziemlich abgerissen wirkende Gestalt neben sich her. Die Wollmütze hatte ein Loch und war entschieden zu warm für die Jahreszeit. Der graue Bart war so verfilzt, dass sich darin schon ganz von allein Rastalocken zu bilden begannen. Die Nase war knallrot, der Geruch nach Bier und Erbrochenem einfach nicht zu ignorieren.

"Dieser Herr hier hat eine Beobachtung gemacht", sagte der Uniformierte.

Der Herr rülpste erst einmal.

Dann sagte er: "Ich habe sie genau gesehen... Ganz genau! Und würde sie auch wiedererkennen!"

"Wen?", fragte Moeller.

"Die drei jungen Männer!"

"Wie sahen die denn aus?"

"Die trugen Ledersachen und alberten hier herum."

"Wo genau?"

"An den Müllcontainern. Sie haben mit Feuerzeugen herumgespielt, Kartons aus dem Papiercontainer herausgefischt und dann angezündet. Ich habe mich verzogen. Bis zur Brücke bin ich gegangen und habe mir ein besseres Plätzchen gesucht. Tja, und dann hat's wenig später gebrannt..."

"Der sieht doch alles doppelt", raunte Simitsch Moeller leise zu. Aber nicht leise genug. Der Zeuge hatte es mitgekriegt.

"Sie nehmen mich nicht ernst, woll? Nur, weil ich nicht so ein feiner Pinkel bin!" Die Farbe seiner Nase ging jetzt auf den Rest seines Gesichts über. Aber bevor er richtig ärgerlich werden konnte griff Moeller ein. Diplomatie ist mein Geschäft!, dachte er dabei. Manchmal jedenfalls. Klaus Simitschs Stärke war das jedenfalls nicht.

"Was halten Sie davon, wenn Sie mit uns aufs Präsidium kommen, um ein Protokoll und ein Phantombild zu machen?"

Der Mann sah auf.

Sein Gesicht nahm wieder seine Normalfarbe an.

"Wenn ich ein Frühstück dafür kriege."

"Kriegen Sie!"

"Aber das bezahlst du, Moeller!", knurrte Simitsch.

5

Der Obdachlose, der sich als Zeuge gemeldet hatte, lieferte drei einigermaßen überzeugende Beschreibungen von Jugendlichen. Die Phantombilder waren brauchbar und einer der Abgebildeten davon war sogar so etwas wie ein guter Bekannter. Er hatte mehrere Verfahren wegen Körperverletzung hinter sich und hieß Ferdinand Sarow, geboren in Alma Ata, Kasachstan. Als Sohn deutschstämmiger Aussiedler war er im Alter von zwölf Jahren nach Deutschland gekommen. Jetzt war er 19.

Noch zwei Jahre, dachte Moeller, als er Sarows Gesicht auf dem Computerschirm auftauchen sah. Noch zwei Jahre, dann war es endgültig vorbei für ihn mit der milden Behandlung nach dem Jugendstrafrecht.

"Sie halten doch Ihr Wort, woll?", sagte der Obdachlose in Moellers Gedanken hinein.

"Häh?", gähnte Moeller.

"Na, von wegen Frühstück und so!"

Inzwischen hatte es draußen zu regnen begonnen. Die Tropfen klatschten gegen die Fensterscheiben des Büros. Klar, dass er nicht raus will, dachte Moeller. Nicht bei dem Mistwetter.

"Sie haben sich Ihre Gratisnacht in unserem Hotel redlich verdient", meinte Moeller dann.

Simitsch verzog nur das Gesicht.

"Weißt du eigentlich, dass du da gerade kostbare Steuermittel verschleuderst, Moeller?", knurrte er zwischen den Zähnen hindurch und schob sich seine Krawattennadel zurecht. Irgendwie hatte das Ding die Eigenschaft, dauernd schief zu sitzen.

Der Obdachlose verbrachte die Nacht also in einer Ausnüchterungszelle des Präsidiums.

Als Moeller am nächsten Morgen wieder zu seiner Dienststelle fuhr, besorgte er unterwegs Brötchen.

Lüdenscheid wird oft auch Regenscheid genannt, weil es hier angeblich öfter regnet als anderswo. Aber heute machte die Stadt ihrem schlechten Ruf keinerlei Ehre. Die Sonne schien. Moeller lenkte seinen rostigen Omega quer durch die Stadt. Es ging immer wieder auf und ab, den Hügel hinauf und wieder hinunter. Bei gutem Wetter stellte Moeller sich manchmal vor, er befände sich in den Straßen von San Francisco. Nur, dass die Straßen von Lüdenscheid ein bisschen schmaler waren und statt der Golden Gate Bridge gab es nur die Talbrücken mit der A45, der berüchtigten Todesbahn, die dieser Gegend auch internationales Renommee brachte. In den USA wurden Videobänder unter dem Titel ACCIDENTS ON GERMAN AUTOBAHN vertrieben. Und die A45 war natürlich immer dabei.

Vor unvorstellbar langer Zeit soll ein längst vergessener Herrscher den Auftrag zum Bau einer Siedlung in dieser Gegend gegeben haben. Und die ersten Siedler wanderten nun von Anhöhe zu Anhöhe, konnten sich aber nicht entscheiden, auf welcher die Siedlung errichtet werden sollte. "Lüd, entscheid! - Leute, entscheidet euch!", hätten daraufhin die Gesandten der Herrschaft gerufen, woraus schließlich die Ortsbezeichnung 'Lüdenscheid' entstand. Dass man dieser Aufforderung bis heute nicht nachgekommen war, konnte jeder sehen, der auf der A45 an der Stadt vorbeifuhr. Alle Anhöhen waren besiedelt.

Als Moeller im Präsidium ankam, war Klaus Simitsch natürlich schon längst da.

"Es gibt Frühstück", sagte Moeller, als er eintrat. "Am besten du holst unseren Gast mal aus seiner Suite, Klaus!"

"Bin ich der Butler?"

"Trage ich einen Anzug?"

"Moeller, ich hoffe, du wirst irgendwann mal versetzt und ich bekomme einen richtigen Kollegen auf das Büro - keinen Herbergsvater für obdachlose Zeugen!"

6

Eine Stunde später fuhren Moeller und Simitsch zum Hebberg.

Dort befand sich die Adresse von Ferdinand Sarows Eltern.

Sarow war dort nach wie vor gemeldet.

Simitsch weigerte sich regelmäßig, in Moellers rostigen Omega zu steigen. Darum fuhren sie mit dem gut gepflegten Volvo, den Simitsch sein Eigen nannte.

Simitsch fuhr betont vorschriftsmäßig, deshalb dauerte die Fahrt vom Präsidium zum Hebberg etwas länger, als Moeller es für notwendig hielt.

Aber heute war Moeller zu müde, um darüber zu meckern.

Er registrierte beiläufig das Hauptpostamt und das Rathaus auf der Linken. Dort begann die Fußgängerzone und der Verkehr kroch, weil viel zu viele insgeheim hofften, doch noch irgendwo einen der wenigen Parkplätze am Straßenrand zu finden und nicht eines der Parkgelegenheiten um den Sternplatz herum aufsuchen zu müssen. In einem scharfen Knick führte die Straße vor der Fußgängerzone wieder Richtung Norden und wechselte zweimal den Namen. Erst hieß sie Humboldt-, dann Gas- und dann Werdohler Straße. Noch viel später würde sie sich dann Werdohler Landstraße nennen.

Moeller gähnte, als sie links am Arbeitsamt vorbeikamen und zum zweitenmal beim Forstamt. Dazwischen ging eine Straße ab, die passenderweise Dukatenweg hieß, weil hier das Finanzamt angesiedelt war. Moeller erinnerte sich mit Grausen daran, dass er im letzten Jahr des öfteren dort vorstellig geworden war, weil die Finanzdirektion es einfach nicht anerkennen wollte, dass die Kosten für ein Saxophon für Moeller Werbungskosten waren. "Schließlich stelle ich damit doch meine geistige Gesundheit wieder her, die mir im Job zeitweilig verloren geht", hatte er argumentiert. "Und damit betreibe ich gewissermaßen eine berufliche Weiterqualifikation." Dem Finanzbeamten hatte das nur ein müdes Lächeln entlockt. Und als Moeller dann versucht hatte, sein Saxophon und alles, was er an Aufnahmetechnik investiert hatte, als besondere Belastung anerkannt zu wissen, hatte der Kommissar seinen Ruf als Querulanten weg.

Auch wenn das natürlich niemand aussprach.

Im Dienstleistungszeitalter nannten selbst Ämter ihre Querulanten inzwischen Klienten. Zu deutsch: Kunden. Leider war Moeller an jenem Tag in einen Laden geraten, in dem es üblich war, nur zu bezahlen, aber nichts dafür zu bekommen.

"Sie fühlen sich also ungerecht behandelt", hatte ihn der Finanzbeamte - sicherlich auf zahlreichen Fortbildungen inzwischen psychologisch geschult - dann angesäuselt.

Wenigstens die Audiokassetten hatte Moeller schließlich durchsetzen wollen. "Damit hören wir Gangsterbosse ab", hatte Moeller behauptet. "Sie haben doch sicher die Debatte über den großen Lauschangriff verfolgt!"

"Und Sie wollen mir allen ernstes weismachen, dass die Polizei des Landes Nordrhein-Westfalen dabei auf IHRE Kassetten angewiesen ist? Nee, nee, das ist Ihr Privatvergnügen, Herr Moeller."

Moeller hatte gedroht zu prozessieren, was er aus irgendeinem Grund dann aber doch nicht gemacht hatte.

Mann, Simitsch, musst du unbedingt einen Weg fahren, der so voll unguter Erinnerungen ist? dachte Moeller in diesem Augenblick.

Bevor sich die Gasstraße in Werdohler Straße umbenannte, bog Simitsch nach rechts ab.

Vorschriftsmäßig machte Simitsch das Licht an, bevor er in den Oberstadttunnel einfuhr. Dann ging es über die Staberger Straße weiter bis zum Bräucken-Kreuz, wo sich insgesamt fünf Straßen trafen.

Simitsch fuhr in die Bräuckenstraße, eine gut ausgebaute Hauptverkehrsader der Stadt. Nach etwa 800 Metern bog Simitschs Volvo nach links Richtung Wefelshohl. Anschließend gleich wieder nach rechts, vorbei an einem von Grünanlagen umgebenen Altenheim und einem Jugendheim.

Dann waren sie AM HEBBERG, einer Straße, die relativ steil hinaufführte und wenig von der Idylle der Altenwohnanlage aufwies.

Simitsch parkte den Volvo am Straßenrand. Sie stiegen aus.

Moeller blickte die trostlose Häuserzeile entlang. Die Farbe blätterte von den Wänden. Der letzte Anstrich musste schon Jahre zurückliegen. Ein Fenster war mit Spanplatte vernagelt.

Das entsprach nicht gerade Moellers Vorstellung von 'Schöner Wohnen'.

"Da ist es", sagte Simitsch, der auf seinem Zettel die Hausnummer nachschaute.

Die Tür stand offen. Im Flur roch es nach Urin. Sie stiegen die steile Treppe hinauf. Die PVC-Beschichtung der Stufen war ziemlich abgewetzt. An manchen Stellen kam der Untergrund zum Vorschein. Sarows wohnten im dritten Stock. Moeller schwitzte, als sie dort anlangten. Simitsch drückte auf die Klingel an der Tür. Der Knopf blieb stecken. Defekt.

Also klopfte er.

"Wer stört?", rief eine heisere Männerstimme.

"Kriminalpolizei!", sagte Moeller. "Wir wollen zu Herrn Ferdinand Sarow! Machen Sie bitte auf."

Polternde Schritte waren hinter der Tür zu hören. Eine Kette wurde gelöst. Und dann sprang die Tür auf. Ein riesiger Kerl stand da im Unterhemd. Er stank nach Erbrochenem und noch etwas anderem, zweifellos Alkoholischem. Moeller versuchte vergeblich zu erschnüffeln, ob es Maria Cron oder Wodka Gorbatschow war.

"Was wollen Sie von mir?", dröhnte der Mann akzentschwer.

Hinter ihm erschien eine kleine, etwas hilflos wirkende Frau in einem rosa Kittel.

"Von Ihnen gar nichts", sagte Moeller.

"Aber ich bin Ferdinand Sarow. Falsch geparkt habe ich nicht! Ich habe nämlich seit gestern kein Auto mehr!"

"Wir wollen zu Ihrem Sohn", sagte Moeller ruhig. "Der heißt doch auch Ferdinand, oder?"

"Was weiß ich, wie der heißt. Der ist ja so selten hier!", grunzte der Riese.

Kann ich verstehen, dachte Moeller. Aber er verkniff sich eine Bemerkung.

"Wenn Sie nichts dagegen haben, möchten wir uns gerne selbst überzeugen", erklärte Moeller so sachlich wie möglich. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte er, dass Simitsch unter seinem Jackett herumnestelte. Wahrscheinlich, um sich zu vergewissern, wo seine Dienstwaffe momentan ihren Sitz hatte. Dieser Angsthase, dachte Moeller.

"Vielleicht zeigen Sie mir erstmal Ihren Ausweis", grunzte Sarow. Er rülpste ungeniert. "Da kann ja jeder kommen..."

 

Moeller hielt ihm erst die Marke, dann den Ausweis unter die Nase.

Sarow runzelte die Stirn.

"Dass sind Sie, da auf dem Bild?"

"Ich kann es selbst kaum glauben!"

"Woll!"

"Jetzt lassen Sie uns bitte rein."

"Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl!"

Moeller fluchte innerlich. Die Leute sehen zu viele Fernsehkrimis, ging es ihm grimmig durch den Kopf. Zwei-dreimal pro Abend werden dem Ottonormalkriminellen seine Rechte vorgelesen, kein Wunder, dass er glaubt, er könnte sich alles herausnehmen!

Moeller atmete tief durch.

Simitsch öffnete den Mund zu einer hochoffiziellen und sehr korrekten Belehrung.

Sarow öffnete auch den Mund. Die Absicht war nicht ganz klar. Moeller hoffte, dass der Riesenkerl sich nicht gerade jetzt erbrechen musste.

Aber die kleine Frau im Hintergrund kam allen Anwesenden zuvor.

"Jetzt lass sie rein, Ferdi", sagte sie, noch akzentschwerer als ihr Mann. Der Tonfall war sehr bestimmt und erinnerte Moeller an den einer sowjetischen Volkskommissarin.

Jedenfalls machte ihr Mann den Weg frei. Er grunzte irgend etwas Unverständliches vor sich hin, aber das war auch schon alles, was er ihr an Widerstand entgegensetzte.

Die Waffen der Frauen, dachte Moeller sarkastisch.

Er ging als erster in die Wohnung.

Simitsch folgte und schien dabei vor allem die Sorge zu haben, dass sein gutes Jackett keinen Flecken bekam. Die Sorge war im übrigen nicht ganz unbegründet.

"Was hat er denn wieder ausgefressen, der Junge?", wandte sich die zierliche Frau an Moeller.

"Vielleicht gar nichts", erwiderte Moeller.

Simitsch sagte: "Moeller, das unterliegt dem Datenschutz. Der Gesuchte ist über achtzehn, du kannst seiner Mutter nicht einfach..."

"Ja, ja", sagte Moeller. Nervensäge, dachte er. Das Gesetz hatte seine Logik, der Datenschutz auch - und das Leben manchmal eben eine andere. Aber, weil Simitsch sich dieser Erkenntnis standhaft verschloss, waren seine dienstlichen Beurteilungen um Längen besser als die von Moeller und das wiederum würde dazu führen, dass Simitsch irgendwann auf der Karriereleiter an Moeller vorbeiziehen würde. Das stand so fest wie das Amen in der Kirche. Moeller wusste es, aber er hatte auch nicht vor, irgend etwas zu tun, um den Dingen einen anderen Verlauf zu geben.

Die Frau sah Moeller mit großen Augen an. Moeller wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht, die es irgendwie geschafft hatte, sich aus seinem Pferdeschwanz herauszustehlen.

Aus den Augenwinkeln heraus sah Moeller die zerfledderten Lüdenscheider Nachrichten auf dem Tisch. Der Brand bei Dörner war Thema Nummer eins. Die Bilder wirkten wie Werbeplakate für die digitalisierte Neufassung eines Films wie FLAMMENDES INFERNO.

"Es geht um die Sache bei Dörner. Sie werden davon gehört haben."

"Mein Sohn?" Ihr rutschten ein paar Worte auf Russisch heraus. Sie schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen. "Ich habe es immer gewusst, es wird ein böses Ende nehmen. Alles wird ein böses Ende nehmen! Ich habe es immer gewusst! Hier gibt es keinen Gott nicht und keinen Glauben in diesem Land!"

Ihr Mann ließ einen hörbaren Furz dazu. Aber wegen des schweren Aromas, das in der Luft hing, war davon trotzdem nichts zu riechen.

"Wir suchen ihn erstmal als Zeugen", sagte Moeller. Er ging an der Frau vorbei, warf einen Blick in den Nachbarraum. "Wo ist das Zimmer Ihres Sohnes?"

"Hier", sagte die Frau. "Warten Sie..." Sie ging voran.

Moeller folgte ihr. Zusammen durchquerten sie ein unordentliches Wohnzimmer. An den Wänden kroch hier und da Schimmel empor. Frau Sarow öffnete eine Tür und machte Licht.

Moeller blickte in eine Abstellkammer ohne Fenster. Einziger Inhalt war eine Matratze und ein Haufen von Kleidungsstücken.

An die hintere Wand war mit schwarzer Farbe ein freundliches FUCK YOU! gesprüht worden.

"Wo ist Ihr Sohn jetzt?", fragte Moeller.

Die Frau im Kittel blickte zur Seite. Sie schielte nach ihrem Mann. Aber der schien ihr weit genug entfernt zu sein, so dass sie erstaunlicherweise an zu reden fing. "Er hängt mit seinen Freunden oft beim Bahnhof herum", sagte sie.

"Ich danke Ihnen."

"Herr Wachtmeister..."

"Kommissar. Aber eigentlich heiße ich Moeller."

Sie seufzte. Tränen rannen ihr über das blasse Gesicht.

"Er ist eigentlich ein guter Junge!"

Moeller sah sie nachdenklich an. In Gedanken hörte er John Coltrane die Melodie von NAIMA in sein Horn hauchen.

Innerlich war er schon gar nicht mehr da. Nur sein Körper hatte irgendwie vergessen, sich zu entmaterialisieren.

"Klar doch", sagte er schließlich. "Ihr Junge ist bestimmt ein guter Kerl. Im Kern zumindest..."