Die besten 12 Strand Krimis Juni 2021

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19

An diesem Abend wollte im Restaurant des Marsala-Hotels keine heitere Stimmung aufkommen. In kleinen Gruppen saßen die deutschen und italienischen Kollegen zusammen und diskutierten den Mord an Jannick Wolfe. Katharina Ledermacher hockte an der Bar. Hin und wieder sah sie zu Eckard Joswig hinüber, der finster in sein halbleeres Whiskyglas starrte.

Commissario Stefano Cariddi hatte alles getan, um dem geheimnisvollen Mörder auf die Spur zu kommen. Das gesamte Filmgelände war abgesucht worden. Jeder, der sich zur Tatzeit dort aufhielt, musste sich einer intensiven Befragung unterziehen. Jedes Alibi wurde genau überprüft. Doch vom Täter fehlte jede Spur. Trotzdem war Katharina davon überzeugt, dass der Mörder unter den Filmleuten zu finden war. Allerdings rätselte sie immer noch über das Motiv. Wollte jemand die Fertigstellung des Films verhindern?

Gegen diese Theorie sprachen jedoch der Diebstahl der Filmrollen und die darauffolgende Erpressung. Natürlich konnte es sich auch um einen Racheakt handeln. Vielleicht hatte der Kerl in dem blauen BMW die gesamte Beute behalten, und der Komplize versuchte nun auf diese Weise, an das Geld zu kommen. Doch Katharina bezweifelte diese Theorie. Vielleicht war die Lösung ganz simpel.

Sie wandte den Kopf, als sich Sophie Rosenbruck auf den Hocker neben ihr setzte. In ihrer Hand hielt sie ein Cocktailglas mit einer roten Flüssigkeit. Sie nippte daran und verzog das Gesicht.

„Wissen Sie, woher der Cocktail seinen Namen hat?“, fragte die junge Frau.

Katharina schüttelte den Kopf.

„Übersetzt bedeutet Cocktail Hahnenschwanz, vom englischen cock, Hahn, und tail, Schwanz“, erklärte Sophie. „Angeblich soll in einer amerikanischen Bar einst ein hohler Keramik-Hahn gestanden haben, in den der Barkeeper alle übriggebliebenen Drinks kippte. Die so entstandene Mixtur zapfte er in Gläser ab und verkaufte sie zum Sonderpreis. Die Drinks sollen sehr gefragt gewesen sein.“

„Aha“, meinte Katharina.

„Glücklicherweise sind die Drinks heutzutage immer frisch geschüttelt oder gerührt.“

Abermals trank Sophie einen Schluck aus dem Glas. „Tja, das war‘s dann wohl“, sagte sie nach einer Weile. „Ab morgen kann ich wieder zum Arbeitsamt gehen.“

„Haben Sie keine anderen Angebote?“, fragte Katharina.

„Ich hatte welche. Doch die habe ich alle für diesen Film sausen lassen. Es waren zwar nur Nebenrollen, aber besser als nichts.“

„Das tut mir leid.“

Sophie zuckte mit den Schultern. „Warum? Es ist doch nicht Ihre Schuld.“ Sie deutete mit dem Kopf zu Simon Struck hinüber. „Auch für ihn ist es ein harter Schlag. Er ist jetzt ebenfalls arbeitslos. Schließlich war er komplett auf seinen Doppelgänger eingestellt. Obwohl …“

„Ja?“, fragte Katharina.

„Eine Möglichkeit gäbe es vielleicht doch, um das Projekt zu retten.“

„Welche?“, fragte die Detektivin, obwohl sie genau wusste, worauf Sophie hinauswollte.

„Ich kenne Simon schon einige Zeit“, sagte sie. „Und ich bin davon überzeugt, dass er den Film zu Ende drehen kann, ohne dass das Publikum den Schwindel bemerkt. Ich habe schon viele Stunden mit ihm zusammengearbeitet und kann ganz gut beurteilen, dass mehr in ihm steckt, als er bisher zeigen konnte.“

Sieh mal an, dachte Katharina. Der schlaue Kerl hat sich an die Hauptdarstellerin herangemacht, um seine Ziele zu erreichen. Und Sophie? Hatte sie sich in den Stuntman verliebt? Joswig hatte ihm jedes schauspielerische Talent abgesprochen. Und er musste es schließlich wissen.

Katharina sah Sophies forschenden Blick. „Ich bin weder die Regisseurin, noch die Produzentin des Films“, sagte sie ausweichend. „Ich kann so etwas nicht entscheiden.“

„Das verlangt ja auch keiner von Ihnen“, erklärte die junge Frau. „Aber Sie könnten Joswig davon überzeugen, dass es einen Versuch wert ist. Und für uns wäre es eine Chance, im Geschäft zu bleiben.“

„Ich werde mal sehen, was er von der Sache hält“, meinte Katharina.

„Aber sagen Sie ihm nicht, dass ich den Vorschlag gemacht habe.“

Katharina nickte und ging zu dem Produzenten hinüber, der immer noch in sein Glas starrte.

„Ich überlege gerade, vor welchen Zug ich mich werfen soll“, sagte Joswig, als er Katharina neben sich bemerkte.

„Am besten, vor gar keinen. Mir liegt viel daran, dass die Versicherung keine weiteren Verluste erleidet. Weshalb drehen Sie die fehlenden Szenen nicht mit Simon Struck zu Ende? Dann wäre allen geholfen.“

Joswig verzog das Gesicht.

„Simon ist ein ausgezeichneter Stuntman, aber ihm fehlen die schauspielerischen Fähigkeiten, die Jannick hatte. Wenn ich ihn die Rolle zu Ende spielen ließe, würde das Publikum die Umbesetzung merken, und der Film wäre ein Flop.“

„Oder auch nicht“, entgegnete Katharina. „Sie kennen das Publikum vermutlich besser als ich, aber der Mord an Jannick Wolfe wird mit Sicherheit einen großen Wirbel verursachen. Deshalb glaube ich, dass jeder den letzten Film mit ihm und seinem Nachfolger sehen will.“

Der Produzent blickte Katharina eine Weile schweigend an. „Klingt gar nicht so dumm, was Sie da sagen“, gab er schließlich zu. „Ich werde mich wohl doch nicht vor einen Zug werfen, sondern erst einmal mit dem Regisseur reden.“

Er rutschte vom Barhocker, nickte Katharina zu und verschwand nach draußen. Nachdenklich kehrte Katharina auf ihren Platz neben Sophie zurück.

„Ich glaube, es hat bei ihm eingeschlagen“, sagte die Detektivin.

„Das haben Sie großartig gemacht.“

„Finden Sie?“

„Aber ja.“

Sophie stand auf und verabschiedete sich. „Ich werde ins Bett gehen. Morgen wird bestimmt wieder ein anstrengender Tag.“

„Okay, gute Nacht“, sagte Katharina.

„Gute Nacht.“

Katharina blieb noch einige Zeit an der Bar sitzen. Dann ging sie ebenfalls auf ihr Zimmer. Weit mehr als Jannick Wolfes Tod beschäftigte sie im Moment die Frage, wie es wohl Robert gehen würde. Hatte man ihn inzwischen aus der Charité entlassen? Ihr Blick fiel auf das Telefon, das auf dem Nachttisch stand. Vielleicht sollte sie ihn anrufen. Katharina setzt sich aufs Bett, nahm den Hörer ab und wählte die Nummer seiner Wohnung. Nach dem fünften Klingeln wurde abgenommen.

„Tillmann.“

„Hallo, Schatz, ich wollte mich mal erkundigen, wie es dir geht. Ist alles in Ordnung?“

„Natürlich.“

„Wann wurdest du entlassen?“

„Heute Vormittag.“

„Und?“

„Was meinst du?“

„Haben die Ärzte endlich herausgefunden, was dir fehlt?“

„Nein. Ich soll in ein paar Wochen noch einmal wiederkommen.“

„Und dann?“, fragte Katharina.

„Keine Ahnung. Vielleicht geht der ganze Zirkus noch einmal von vorne los.“

„Ach du lieber Himmel.“

„Und wie läuft es bei dir?“, erkundigte sich Robert.

„Am Set hat es einen Mord gegeben.“

„Einen Mord?“, wiederholte er erstaunt.

In wenigen Worten berichtete Katharina, was sich ereignet hatte.

„Das ist ja furchtbar“, sagte Robert. „Pass bloß auf dich auf.“

„Keine Sorge, das mache ich. Aber pass du auch auf dich auf.“

„Du kennst mich doch.“

„Ja, eben.“ Sie stieß ein helles Lachen aus. „Okay, ich werde dann mal Schluss machen, sonst wird die Telefonrechnung zu hoch. Und ich weiß nicht, ob mein Auftraggeber damit einverstanden ist.“

„Als Filmproduzent wird ihn so ein Auslandsgespräch schon nicht arm machen. Solche Leute haben doch genug Geld.“

„Na ja, trotzdem …“

„Ich verstehe“, meinte Robert. „Okay, dann mach‘s gut.“

„Du auch.“

Katharina legte den Hörer auf den Apparat und ging ins Badezimmer. Sie entkleidete sich und duschte ausgiebig. Müdigkeit überkam sie. Kein Wunder, sie hatte einen anstrengenden Tag hinter sich. Sie gähnte herzhaft, zog ihren Pyjama an und streckte sich im Bett aus. Schlafen konnte sie jedoch nicht. Unruhig wälzte sich die Detektivin im Bett hin und her. Immer wieder ging ihr der Mord an Jannick Wolfe durch den Kopf. Wer hatte ein Interesse daran, den Action-Star zu ermorden? Katharina schaltete den Fernseher ein, in der Hoffnung, sich damit ablenken zu können.

Doch das Gegenteil war der Fall. Auf dem Bildschirm erschien das Gesicht eines gutaussehenden Mannes. Katharina erkannte ihn sofort wieder. Sie wäre auch ohne das eingeblendete Insert darauf gekommen, dass es sich um Jannick Wolfe handelte. Obwohl sie kein italienisch sprach, verstand sie auch so, dass es um den Mord auf dem Filmgelände ging. Es folgten Fotos vom Tatort. Ein Filmbericht wurde eingeblendet. Die Schauspielerin Sophie Rosenbruck sprach mit dem Reporter des Fernsehsenders. Immer wieder unterbrach sie sich und weinte.

„Es … es war so grauenvoll“, stammelte sie. „Ich werde dieses Erlebnis nie vergessen …“

Sie wandte sich von der Kamera ab. Irgendjemand nahm sich ihrer an. Katharina konnte nur die Hände des Betreffenden sehen. Man holte Eckard Joswig vor die Kamera. Er wirkte gefasst, aber seine Stimme bebte merklich, als er die Ereignisse aus seiner Sicht schilderte. Danach erschien der Nachrichtensprecher und verlas die nächste Meldung.

Katharina nahm die Fernbedienung und schaltete durch die anderen Programme. Bei einer Musiksendung blieb sie hängen. Es dauerte jedoch nicht allzu lange, bis sie eingeschlafen war.

20

Die Dreharbeiten, die außerhalb des Studios stattfanden, gingen schneller voran, als man erwartet hatte. Bereits kurz nach zwei Uhr waren die Szenen mit der Flucht von Simon und Sophie vor der Polizei im Kasten. Der Maskenbildner hatte bei Simon all sein Können aufgeboten, damit er von seinem toten Vorbild Jannick Wolfe nicht mehr zu unterscheiden war. Es gelang dem Stuntman sogar, die Sprechweise und den Gang nachzuahmen. Katharina überwachte den Abtransport des Filmnegativs, das in einen Banksafe gebracht wurde.

 

Joswig hatte ihr zu diesem Zweck sogar einen Mietwagen zur Verfügung gestellt. Anschließend fuhr sie zurück zum Hotel. Gerade als sie auf den Parkplatz einbiegen wollte, sah sie Simon Struck aus dem Eingang des Gebäudes kommen. Er ging zu seinem roten Ferrari und setzte sich hinter das Lenkrad. Seit einiger Zeit ging ihr dieser Mann nicht mehr aus dem Kopf. Aus einer inneren Eingebung beschloss sie, sich näher mit ihm zu beschäftigen und seine Schritte zu überwachen.

Es war möglich, das sie einer völlig falschen Spur folgte, aber irgendwo musste sie schließlich ansetzen, um den Fall zu lösen. Warum also nicht mit diesem Stuntman?

Struck startete den Motor und fädelte sich in den fließenden Verkehr ein. Katharina nahm die Verfolgung auf. Die Fahrt führte über eine der modernen Hochstraßen. Er schien sich in dieser Gegend recht gut auszukennen. Er nahm nicht ein einziges Mal den Fuß vom Gaspedal. Fünf Kilometer folgte sie dem Ferrari bis zu einem Restaurant. Simon stellte seinen Wagen auf dem Parkplatz ab. Katharina stoppte am Straßenrand und folgte dem Stuntman unauffällig.

Struck verschwand hinter der Glastür des Restaurants. Katharina folgte ihm, blieb neben der Tür stehen und sah, wie sich Simon Struck an einem Tisch neben einer Säule setzte. Zwei Pärchen betraten das Lokal. Katharina ging in ihrem Windschatten hinein. Sie fand einen freien Platz, von dem aus sie Simons Tisch beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Vielleicht machte der Stuntman hier nur eine Pause und die ganze Sache war umsonst, dachte Katharina. Bei einer Serviererin bestellte sie eine Kanne Kaffee. Dann hielt sie sich die umfangreiche Speisekarte vors Gesicht, um einer zufälligen Entdeckung vorzubeugen.

Für eine Weile ließ sie sich von den verlockenden Gerichten ablenken. Hier gab es fast alles, was die italienische Küche zu bieten hatte. Als sie wieder einmal über den Rand der Speisekarte blickte, sah sie, dass Simon nicht mehr alleine war. Mit dem Rücken zu Katharina gewandt saß ein dunkelhaariger Mann in einer blauen Jacke. Er hatte sich über den Tisch gebeugt und redete auf den Stuntman ein.

Für Katharina war es zu riskant, darauf zu warten, bis die beiden ihr Gespräch beendet hatten und das Restaurant verließen. Sie musste damit rechnen, dass sie entdeckt wurde. Der Dunkelhaarige wandte den Kopf etwas zur Seite, sodass sie ihn im Profil sehen konnte, trotzdem kam er ihr nicht bekannt vor. Katharina zahlte und verließ das Lokal.

21

Simon Strucks Gesicht blieb ohne Ausdruck. Während er beobachtete, wie seine Verfolgerin zahlte und sich erhob, blickte er sein Gegenüber unter gesenkten Wimpern an.

„Ich wurde beschattet“, sagte er leise, ohne die Lippen zu bewegen. „Es ist diese Detektivin.“

„Verdammt!“, knurrte der andere und wollte sich umdrehen.

„Nicht!“, zischte Simon. „Sie soll nicht merken, dass wir sie bemerkt haben. Sobald sie draußen ist, folgen wir ihr.“

„Sie wird uns noch die ganze Tour vermasseln.“

Simon lächelte. „Keine Sorge, das wird sie nicht. Ich beobachte sie schon eine ganze Zeit lang und bin über jeden ihrer Schritte bestens unterrichtet.“ Er sah, wie sich Katharina in Richtung Ausgang bewegte. „Sehen wir nach, wohin sie jetzt fährt.“

Er legte einen Geldschein auf den Tisch. Dann standen beide auf und folgten der Detektivin nach draußen.

22

Katharina Ledermacher merkte sofort, dass sie verfolgt wurde. Sie lächelte bei dem Gedanken, dass man jetzt den Spieß umdrehen wollte. Aber die beiden würden von ihr enttäuscht sein. Ohne sich umzudrehen, ging sie zu ihrem Wagen, stieg ein und fuhr los. Nach wenigen Minuten bemerkte sie im Rückspiegel den roten Ferrari. Katharina gab Gas und fuhr an einer Lastwagenkolonne entlang. Im Spiegel sah sie, wie der Ferrari ebenfalls zum Überholen ansetzte. Doch vor ihm bog ein LKW auf die Überholspur und zwang ihn zum Abbremsen.

Inzwischen hatte Katharina einen Vorsprung von knapp tausend Metern herausgeholt, als sie vor sich eine Kreuzung sah. Ein Blick in den Rückspiegel überzeugte sie davon, dass der rote Ferrari noch nicht in Sicht war, dann bog sie nach rechts ab und gelangte auf eine Straße, die in die Innenstadt führte. Auf einem Parkplatz stoppte sie und wartete. Von hier aus konnte sie die gesamte Straße überblicken. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie den Ferrari vorüberrasen sah. Sie wartete noch einige Minuten und kehrte wieder auf die Straße zurück.

Die Fahrt zum Hotel gestaltete sich schwierig, denn inzwischen hatte der Feierabendverkehr eingesetzt. Sie nutzte die nächste Möglichkeit, um die Hauptstraße zu verlassen, nachdem sie für eine Strecke von einem Kilometer fast dreißig Minuten gebraucht hatte. Aber auch die Nebenstrecke, die in Richtung Hotel führte, erwies sich als Fehlschlag. Katharina stoppte den Wagen in einer Parkbucht und holte die Straßenkarte aus dem Handschuhfach.

Hupend und schleichend schob sich die Blechlawine an ihr vorbei. Joswig hatte sie gewarnt, dass der Verkehr in Rom höllisch war, aber sie befürchtete, dass sie die Situation trotzdem unterschätzt hatte. Schlimmer konnte es nicht mehr werden. Katharina seufzte und fädelte sich wieder in den Verkehr ein. Doch bereits nach wenigen Metern ging es nicht mehr weiter. Katharina konnte nicht sehen, was den Stau verursachte. Fußgänger und Radfahrer strömten in Scharen auf die Fahrbahn und liefen zwischen den stehenden Autos hindurch.

Katharina trommelte mit den Fingern ungeduldig auf das Lenkrad. Dadurch löste sich der Knoten aber auch nicht auf. Irgendjemand begann zu hupen. Ein zweiter und ein dritter Autofahrer beteiligten sich an diesem Konzert, und bald war die ganze Straße erfüllt vom Dröhnen und Röhren der Autohupen. Da es keinen Sinn hatte, bei diesem Lärm mitzumachen, ließ sie wohl als Einzige die Hand von der Hupe.

Nach einiger Zeit rollte das Fahrzeug vor ihr langsam an. Katharina folgte ihm. Doch nach einigen Metern kam es wieder zum Stillstand. Allmählich verlor sie die Geduld und bog nach rechts ab. Katharina gelangte in eine kleine Seitenstraße, die in ein Wohngebiet führte. Hier lag die Geschwindigkeitsbegrenzung zwar bei dreißig Stundenkilometern, aber damit kam sie immer noch schneller voran als auf der Hauptstraße.

Im nächsten Moment tauchte eine Gestalt vor dem Wagen auf. Katharina trat das Bremspedal durch, konnte aber nicht verhindern, dass sie den Jugendlichen mit dem Kotflügel streifte. Er schrie auf und stürzte zu Boden. Entsetzt löste Katharina den Sicherheitsgurt und sprang aus dem Wagen. Der Junge lag bewegungslos vor ihr auf der Straße. Sie ging neben ihm in die Hocke und drehte ihn behutsam auf die Seite.

„Bist du verletzt?“, fragte sie besorgt, während sich eine kleine Stimme in ihren Gedanken wunderte, wie sie ihn bei der geringen Geschwindigkeit, mit der sie gefahren war, überhaupt hatte verletzen können. Dann sah sie die offenen Augen des Jungen und das Springmesser in seiner Hand.

„Nein“, antwortete der Junge in gebrochenem Deutsch und richtete sich auf. „Aber du gibst mir Geld, oder …“

Katharina kam hoch und wich einige Schritte zurück. Sie war anscheinend in einer wohlhabenden Gegend der Stadt gelandet. Entlang der kleinen Straße befanden sich hohe weiße Zäune und grüne Hecken, die verhindern sollten, dass jemand einen Blick auf die weiter zurückliegenden Häuser warf. Katharina bezweifelte, dass einer der Bewohner sah, was sich auf der Straße abspielte. Von dort konnte sie also keine Hilfe erwarten. Der Junge grinste. Sie wusste nicht, aus welchem Grund er gerade sie ausgewählt hatte, aber es schien sich um einen simplen Raubüberfall zu handeln.

Mit einer schnellen Bewegung trat sie zu und kickte dem Jungen das Messer aus der Hand. Überrascht schrie er auf, aber da er noch saß, konnte er nicht mehr tun als zuzusehen. Wut flammte in seinen Augen auf, als er seine doppelte Niederlage erkannte. Er war von einer Frau überwältigt worden und hatte es auch nicht geschafft, sie auszutricksen. Sein Selbstbewusstsein brach zusammen wie ein Kartenhaus.

„Lass mich gehen“, bettelte er. „Bitte, ich kann dir helfen. Kenn mich aus in dieser Stadt. Kann alles besorgen. Autos, Geld. Sag mir, was du willst.“

Katharina schüttelte den Kopf. „Los, verschwinde, oder ich rufe die Polizei.“

Sofort rappelte sich der Junge hoch. Sein Blick fiel auf das Messer, das am Straßenrand lag. Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, es aufzuheben, doch dann überlegte er es sich anders. Mit weit ausholenden Schritten rannte er die Straße entlang, ohne sich noch einmal umzuschauen. Katharina setzte sich wieder in ihren Wagen und fuhr weiter.

Fünfundzwanzig Minuten später erreichte sie endlich den Parkplatz des Hotels. Als sie die Empfangshalle betrat, kam Eckard Joswig lächelnd auf sie zu.

„Alles in Ordnung?“, fragte er.

Katharina nickte. „Wie sind Sie eigentlich mit Simon Struck zufrieden?“

„Es geht besser, als ich dachte“, gab der Produzent zurück. „Er macht seine Sache ganz ordentlich. Wenn nichts dazwischen kommt, haben wir übermorgen die letzte Einstellung im Kasten. Und dann ist es Ihre Aufgabe, die Filme unbeschadet nach Berlin zu transportieren.“

„Um den Transport brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.“

„Soll das heißen …“

Katharina zuckte mit den Schultern und ging hinüber zum Fahrstuhl.

23

Am nächsten Morgen wurden in Halle vier die Szenen gedreht, die in einem aufgeschnittenen Wagen spielten, der auf einem Schüttelrost montiert war. Sophie saß am Steuer, neben ihr der angeschossene Bankräuber. Katharina beobachtete Simon Struck, und sie fand, dass der Mann seine Rolle nicht schlecht spielte. Abgesehen davon, dass sie sowieso keine mimischen Glanzleistungen erforderte. Wenig später rief der Regisseur: „Gestorben!“

Scheinwerfer verlöschten, und die Kulissen wurden für die nächste Einstellung umgebaut. Katharina nutzte die Drehpause und sah sich in der Halle um. Dann entdeckte sie Simon, der in einer Ecke saß und seinen Text lernte. Langsam ging sie auf ihn zu und baute sich vor ihm auf.

„Hallo! Ich habe Ihnen vorhin zugesehen. Ich finde, Sie machen Ihre Sache ganz gut.“

Simon fühlte sich geschmeichelt und lächelte. „Danke für das Kompliment“, sagte er.

„Sie werden sicher froh sein, wenn der Film fertig ist und wir wieder nach Hause fliegen können, nicht wahr? Schließlich haben Sie jetzt den Sprung nach oben geschafft.“

„Ja, schon“, gab Simon zu. „Nur dass Jannick sterben musste, um mir den Weg freizumachen, liegt wie ein Schatten über dem Ganzen.“

Du siehst nicht so aus, als würdest du dich von Schatten aus der Ruhe bringen lassen, dachte Katharina. Über Lautsprecher ertönte eine Stimme, die Simon, Sophie und einige Statisten an ihre Plätze rief. Simon legte das Drehbuch auf seinen Stuhl.

„Sie entschuldigen mich“, sagte er und ging mit raschen Schritten davon.

Katharina schlenderte hinter ihm her und blieb neben der Kamera stehen, um der folgenden Einstellung zuzusehen. Die Szene spielte im Versteck der Bande, kurz bevor die Polizei eintraf und sie unschädlich machte. Simon, Sophie und die anderen Gangster besprachen ihre weiteren Fluchtpläne. Als erste war die Frau an der Reihe. Sie äußerte den Verdacht, dass sich unter ihnen ein Verräter befände, der den geplanten Banküberfall an die Polizei verraten habe.

Katharina beobachtete die junge Frau scharf. Während Sophie ihren Text sprach, fiel ihr Blick plötzlich auf die Detektivin, die neben der Kamera stand. Sie verhaspelte sich und lief rot an.

„Kamera stopp!“, rief der Regisseur. „Das Gleiche noch einmal!“

„Entschuldigung“, sagte Sophie und riss ihren Blick von Katharina los.

Die Detektivin sah ihr an, dass sie sich gewaltsam auf ihre Rolle konzentrierte und auf das Einsatzeichen wartete.

„Kamera ab!“, rief der Regisseur.

„Kamera läuft!“, echote eine Stimme.

Weshalb war sie so erschrocken?, überlegte Katharina. Hatte sie vielleicht auch ihre Hände bei dieser Sache im Spiel?