Das Erbe

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Wolfgang Ziegler

Das Erbe

Roman in drei Teilen

Impressum

Covergestaltung: Wolfgang Ziegler

Digitalisierung: Wolfgang Ziegler

© 2015 Wolfgang Ziegler

Wolfgang Ziegler

Selbstverlag

55566 Bad Sobernheim

home-delta-press@t-online.de

Erster Teil

Die Basis

Das Kriegsende liegt schon einige Jahre zurück, als in Frankfurt/O. Personen zusammenkommen, die ein tiefes Geheimnis aus

dieser Zeit weiterhin eng verbindet ...

Die erste Spur

Die Kanzlei Meurat lag in einer kleinen Nebenstraße, abseits der nun langsam wieder etwas belebten Verkehrsadern des Frankfurter Zentrums. Der breite Treppenaufgang des alten Bürgerhauses atmete noch das Flair des vergangenen Jahrhunderts. Gediegene Mar-morstufen und dunkle, glänzende Eichenholzgeländer führten den Besucher in die erste Etage hinauf, wo eine große Messingglocke an der schweren Tür neben dem diskret angebrachten Kanzleischild zum Läuten aufforderte. Hinter den massiven Ziergittern der dennoch sehr schmalen Türfenster bewegte sich ein Schatten, als Wolf die Glocke betätigt hatte. Geräuschlos, fast wie von Geisterhand, tat sich ein Türflügel auf. Eine ältliche Sekretärin erschien im halbdunklen Flur und bat ihn herein.

„Bitte warten Sie hier noch einen Moment, Herr Meurat wird Sie gleich empfangen“. Sie flüsterte die Worte fast und verschwand sofort wieder in ihrem Büro. Wolf nahm also in der angebotenen Sitzecke des breiten Flures Platz. Der knirschende Ledersessel mußte so alt sein, wie die verblichenen Tapeten an den Wänden. Auf dem kleinen Tischchen der Sitzgruppe lagen ältere, zerlesene Ausgaben bekannter deutscher Nachrichtenmagazine. Es roch ganz leicht nach uraltem Bohnerwachs, obwohl ein dicker Teppich den Parkettboden des Empfangsbereiches bedeckte. Wolf wartete geduldig. Mit einer Zigarette in der Hand, deren Asche er in einem riesigen Mes-singascher auf dem kleinen Mahagonitischchen abstreifte, widmete er sich dem Inhalt einer der Zeitschriften. Es herrschte Stille, als wären die anliegenden Räume menschenleer. Die drei schweren Eichenholztüren, die zur eigentlichen Kanzlei und dem Sekretariat führten, ließen kein Geräusch nach außen dringen. Aus dem Treppenhaus drang durch die schmalen Milchglasscheiben der Türfenster nur ein diffuser Lichtschimmer. Bis auf das Brummen einer einsamen Fliege war kein Laut vernehmbar. Nach langen Minuten vermeintlicher Einsamkeit erschien plötzlich Meurats Sekretärin wieder.

„Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten? Der Herr Doktor läßt ausrichten, es dauert doch noch einige Minuten.“ Wolf nahm dankend an und wunderte sich dennoch, weiter warten zu müssen. Es verging noch etwa eine Viertelstunde, da öffnete sich plötzlich eine der Türen und Meurat selbst stand vor ihm.

„Entschuldigen Sie bitte, Herr Ebeland, daß ich Sie warten ließ“, mit diesen Worten führte der Anwalt seinen Besucher auch schon in sein Arbeits-zimmer und hieß ihn auf einem der Sessel vor dem wuchtigen und mit allerlei Papieren bedeckten Schreibtisch Platz nehmen. Wolf hatte kaum Zeit, den Anwalt seinerseits zu begrüßen, als dieser aus einem Wust von Aktenordnern, die sich auf dem mit dicken Teppichen bedeckten Boden stapelten, ein mit braunem Packpapier eingewickeltes Päckchen hervorzog.

„Wie ich Ihnen schon am Telefon sagte, habe ich in den Erbangelegenheiten Ihres werten Herrn Vaters, der mir ja immer ein treuer Klient war, noch eine Hinterlassenschaft gefunden, die er an einem Ort deponiert hatte, auf den ich erst bei jüngsten Recherchen stieß. Beigefügt war ein an mich gerichtetes handschriftliches Schreiben.“ Meurat zog einen mehrfach gefalteten Briefbogen hervor, setzte seine Brille auf und las vor: „Sehr geehrter Herr Meurat, wollen Sie bitte diese kurzen Zeilen richtig verstehen. Die Firma befindet sich in einer äußerst schwierigen Lage. Bestimmte Transaktionen haben sich als Fehler erwiesen. Ich brauche dringend Material, auf das sich leider nicht unmittelbar zugreifen läßt. Diese Dinge lagern noch immer an Orten, wo man sie Ende des Krieges deponierte. Meinen Überlegungen nach würde dieses Material, brächte ich es in die richtigen Hände, erhebliche Vorteile verschaffen und ein Ende der derzeitigen Mißlichkeiten bedeuten. Sie, als mein alter Kamerad, wären selbstverständlich ebenfalls in das Ergebnis eingeschlossen. Dann hätten ja alle ausgesorgt. Sollte mir etwas zustoßen, öffnen Sie das beiliegende Päckchen bitte erst in Gegenwart meines Sohnes. Schließlich muß er sich mit meinen Hinterlassenschaften herumschlagen. Die Adresse der Firma (V-Antriebstechnik o.H.g.) und eine zugehörige Telefonnummer entnehmen Sie bitte der Rückseite des Papiers. Sehr wichtig dabei ist, daß mein Sohn die Unterlagen, zu denen ich ihm nun den Weg weisen werde, nach Auffindung oben bezeichneter Adresse schnellstens persönlich zukommen läßt! Unterrichten Sie ihn bitte unbedingt dahingehend. Es war übrigens wohl eine sehr, sehr, saure Arbeit, den Verkabelungsplan zu zeichnen! - Den Satz verstehe ich zwar nicht“, warf Meurat ein, „aber was soll‘s. Mit Grüßen usw.“ Der alte Anwalt hielt inne und starrte Wolf erwartungsvoll an. „Das ist etwas, was ihm wohl sehr bedeutsam erschien. Da ich mit Ihrem Vater gemeinsam die letzten Kriegsmonate erlebte, kann ich mir in etwa denken, worum es sich handelt. Und darum hat er sich auch nur über mich in dieser Sache artikuliert.“

„Ja, dann machen wir es doch mal auf“, konnte Wolf nun endlich erwidern und deutete auf das unscheinbare Paket. Meurat versuchte nun mit einem mächtigen Brieföffner, die dicken versiegelten Schnüre zu zertrennen.

„Was auch Ihren Vater bewog, nochmals sich dieser Dinge zu erinnern ... Besser wäre es jedoch, man ließe den Teufelskram ruhen. Es ist heute eh‘ kein Zugang möglich ...“

„Um was geht es denn hier eigentlich“, entfuhr es nun Wolf, der aus den rätselhaften Worten des alten Anwalts noch nicht schlau wurde.

„Wir haben damals bestimmte Dinge zu verschließen gehabt, bevor sie dem Feind in die Hände fielen. Dabei, junger Freund, geht es nicht um irgendwelche Greulgeschichten über Raubgold oder ähnliches. Deutsche Wissenschaftler und Techniker mußten an geheimsten Projekten arbeiten, für deren Durchführung und Absicherung nur ein sehr kleiner Kreis Personen zuständig war. Gold gab es da allenfalls für technische Zwecke ... Das war aber auch da, und allein dieses Material dürfte schon erheblichen Wert haben für den, der es heute bergen kann. Aber hier ging es wie gesagt wohl um völlig andere Dinge als irgendwelchen goldnen Klüngel, mit dem die Bonzen verschwunden sind oder den sie vielleicht heimlich in privaten Depots vergruben.“

„Und was für Dinge waren das?“ Wolf wurde zunehmend neugierig. „Das hängt doch sicher mit diesen geheimen wissenschaftlichen Projekten zusammen, die Sie eben erwähnten.“ Während Meurat noch immer an der sehr festen Verpackung des geheimnisvollen Päckchens zerrte, antwortete er schnaufend: „Natürlich. Ich sagte es ja schon. Da gab es Sachen, wovon heute selbst der Ami noch immer nur träumen dürfte. Genaueres haben wir aber auch nicht erfahren. Wir hatten nur in der Gegend, wo sich unterirdische Laboratorien, Fabrikationsanlagen und anderes befanden, mit deren Sicherheit zu tun. Die Dinge selbst haben auch wir nicht gesehen. Auch uns erreichten nur Gerüchte. Ein Wort zum falschen Mann hätte damals sofort den Kopf gekostet.“

„Wo war denn die Gegend“? wollte Wolf nun wissen.

„Ja, da liegt ja das Problem“, lachte der Anwalt äußerst unfröhlich auf. „Das ist heute tief im Osten, wenn ich überhaupt richtig vermute!“

Endlich zerriß der dicke Faden des Päckchens mit einem leichten Knall. Aus der Verpackung rutschten verschiedene Dinge auf die Schreibunterlage. Obenauf lag eine kleine Wachstuchmappe, die ein paar vergilbte Fotos enthielt. Ihr folgte eine Art Plan oder Karte und ein merkwürdiger metallischer Gegenstand, der am ehesten aussah wie ein Spezialschlüssel für einen Tresor oder Ähnliches. Er war noch immer blitzblank, schien aus derbem Stahl zu bestehen und hatte einiges Gewicht. Im ersten Moment standen die beiden Männer schweigend vor den kargen Hinterlassenschaften Edward Wolfs. Doch die Dinge verkörperten offensichtlich den Schlüssel zu einem schwerwiegenden Geheimnis, bei dem es sich keineswegs um Angaben zu einem alten Schatzhort oder dergleichen handelte. Hier war offensichtlich mehr im Spiel. Eine erste Durchsicht der nun vorliegenden Dokumente brachte jedoch kein eindeutiges Ergebnis. Die Handvoll Fotos zeigten Aufnahmen von Baustellengeländen, die sich inmitten von Bergen und Wäldern befanden. Es waren einesteils Außenaufnahmen. Weitere Bilder zeigten das Innere anscheinend mächtiger Stollen, Hallen und Tunnels. Merkwürdigerweise erschien auf keinem der Bilder auch nur eine Menschenseele. Der beiliegende alte Plan entpuppte sich auseinandergefaltet als fachmännische am Reißbrett angefertigte technische Zeichnung, anscheinend akkurat eine Energieverteilung in einem vorerst unbekannten System unterirdischer Bauten darstellend. Und was der Metallgegenstand wirklich darstellte - vorerst blieb dies ein völliges Rätsel. Vor den hohen, schmalen Fenstern des Kanzleibüros zog peitschend der Herbstwind das fahle Laub von den Bäumen. Im Raum herrschte das diffuse Dämmerlicht der späten Nachmittagsstunde, und in den alten, braunen Wandpaneelen knackte es mitunter leise.

 

„Das ist mir alles seltsam“, unterbrach Wolf endlich die eingekehrte Stille. „Was gibt es denn hier zu holen? Diese Orte sind doch sicher von den Polen oder Russen schon lange durchsucht und verschlossen, wenn die nicht gar alles in die Luft gejagt haben!“

„Da irren Sie aber gewaltig. Wenn Ihr werter Herr Vater hier etwas ganz bsonderes für Sie hinterließ, dann hatte das seinen triftigen Grund. Und wenn jemand etwas wirkungsvoll verschlossen hat, junger Freund, dann waren nur wir das damals!“ erregte sich Meurat.

„Schon gut“, beeilte sich Wolf zu entgegnen, der die plötzliche Aufregung seines Gegenübers zu verstehen begann. „Aber es muß also dort etwas Wertvolles verborgen sein, womit sich mein Vater hätte sanieren können ...“

„Genau das ist wohl der Punkt“, bestätigte ihm der Anwalt. Seine Brille mit dem goldnen Gestell heftig putzend wühlte er nochmals in dem kleinen Häufchen Unterlagen herum.

„Natürlich bin ich nicht völlig ahnungslos. Nur, in meinem Alter wäre das etwas zuviel Anstrengung und Abenteuer. Außerdem habe ich hier noch meine Aufgaben zu erfüllen ...“

Meurat nahm die gefaltete Karte zur Hand und ließ sich damit tief in einen der schweren Sessel sinken. Die Sekretärin brachte den beiden Männern in den nächsten Minuten nochmals Kaffee, dann durfte sie Feierabend machen. Der Anwalt und sein Gast waren somit allein und völlig ungestört. Nach ausgiebigem Studium des Planes, bei dem auch eine übergroße Lupe zum Einsatz kam, hellten sich Meurats Gesichtszüge wieder etwas auf.

„Es ist weit weg. Es ist im Eulengebirge, heute leider polnisch besetztes Gebiet“, sagte er endlich. „Genau das vermutete ich vorher schon. Denn wir waren gemeinsam dort eingesetzt. Aber es wurden dort seit Mitte der dreißiger Jahre mehrere Untergrundanlagen zu verschiedenen Zwecken gebaut. Das Problem ist also, welche von ihnen das gesuchte Objekt verbirgt. Abgesehen davon, daß mir nicht völlig klar ist, worum es sich überhaupt handelt. Wäre es zum Beispiel nur eine Art Kiste oder so, dann nutzt nicht mal die Kenntnis, in welcher Anlage sie steckt ...“

„Wieso das?“ wollte Wolf wissen. „Weil die einzelnen untertägigen Systeme derartige Ausdehnungen haben, über die sie sich keine Vorstellungen machen. Da geht es nicht um ein paar hundert Meter lange Grubenstrecken, oder so. Unter dem Gebirge liegen komplexe Gangsysteme. Fahrstollen für kleine Elektrobahnen mit Halte-punkten, Montagehallen, Bunker, Fahrstuhlschächten, Nachrich-tenzentralen, Befehls- und Überwachungsständen. Wie soll man darin einen verborgenen Gegenstand finden. Ein zum Beispiel mir bekannter Tunnel war damals schon an die drei Kilometer lang!“

„Dann muß etwas in diesem Material einen konkreten Hinweis geben, ansonsten wäre es ja sinnlos“, entgegnete der Besucher des Rechtsanwalts.

„Da liegen Sie wohl allerdings richtig“, gab sich Meurat nachdenklich. Erneut begannen die beiden Männer die vorliegenden Dokumente genau zu untersuchen. Sie richteten das Licht der nun eingeschalteten Schreibtischlampe auf Plan und Fotos und ver-suchten noch etwas herauszufinden, was sie anfangs übersehen haben mochten. Meurat, der etwas Probleme mit den Augen hatte, hielt die Karte eine Weile dichter unter den starken Lichtkegel der Lampe, gab sie dann aber zurück an Wolf.

„Ich kann nichts erkennen“, sagte er mißmutig. „Das sind die Pläne der Elektroversorgungen in den Hauptsystemen, sonst nichts.“

Wolf nahm die auseinandergefaltete Karte erneut in die Hand. Plötzlich stutzte er. Was war das für eine schmale, längliche Verfärbung? Die war vorhin noch nicht da! Bei genauerer Untersuchung mit der starken Lupe entpuppte sie sich nun als eine braune, gestrichelte Linie, die sich ein kleines Stück im Gewirr der hier aufgezeichneten Gangsysteme entlang zog.

„Ich habe den Plan vorhin mal dicht vor die Lampe gehalten“, erklärte Meurat aufgeregt. „Da hat er sich wohl kurz erwärmt und die Markierung ist aufgetaucht. Eine ganz simple Methode. Einfacher Zitronensaft reicht da schon. Als Kinder haben wir so früher Geheimschrift fabriziert.“ Er schlug sich überraschend mit der flachen Hand an die hohe Stirn. „Natürlich, jetzt begreife ich. Der seltsame Hinweis auf die sehr saure Arbeit, den Plan zu zeichnen ... Damit wollte er sicher verschlüsselt auf die versteckte Botschaft in der Zeichnung hinweisen.“

„Und da muss noch mehr vermerkt sein“, ergänzte Wolf. Mit diesen Worten hielt er den ausgebreiteten Plan vorsichtig nahe an die heiße Glühbirne der Schreibtischlampe. Und tatsächlich wurde langsam eine Reihe von zuvor verborgenen Linien sichtbar. Nachdem der ganze Plan so den warmen Lichtstrahlen ausgesetzt war und nichts mehr verborgen geblieben sein konnte, sichteten sie nochmals ihre Entdeckung.

Von Hand war eine gestrichelte Linie eingezeichnet, die offen-sichtlich einen Weg wies, der, ausgehend von einem der Eingänge, in die Tiefen des gewaltigen Tunnellabyrinths zu verfolgen sein konnte. Am Ende der Linie, die dort mit einem kleinen Richtungspfeil endete, stellte die Zeichnung an dieser Stelle einen länglich erweiterten Tunnelabschnitt dar.

„Der Weg vom Eingang bis an diese Stelle ist eigentlich nicht sehr weit. Das gibt mir zu denken“, murmelte Meurat. „Das kann noch nicht der Punkt sein, der wirklich zu erreichen ist. Machen Sie sich an diesem Ort, zweifellos ist es einer der kleinen Haltepunkte, auf ein wenig Bahnfahrt gefasst. Dort, wo Sie schließlich ankommen, muß dann des Rätsels Lösung liegen. Und zwar unübersehbar, sonst wäre hier sicher noch etwas vermerkt.“

„Meinen Sie ernsthaft, daß dort drinnen heute noch die Bahn fahrbereit ist? Und die soll zudem genau an diesem Ort bereitstehen“, fragte Wolf erstaunt. „Selbst wenn es sich nur um eine kleine, elektrisch betriebene Schmalspurbahn handelt. Auch die bräuchte immerhin Strom.“

„Dazu kann ich wenig sagen. Die Elektroversorgung und andere Einrichtungen können, müssen aber nicht mehr intakt sein. Es hat zwar nicht die angekündigten tausend Jahre gewährt, aber dementsprechend technisch-solide wurde damals gebaut und installiert.“ Meurat stand auf und trat an eines der drei Erkerfenster. Sachte rieb er sich die kalten Hände und schaute durch die nassen Scheiben. Doch seine Augen sahen anscheinend ganz andere Dinge. Wolf beobachtete ihn von seinem Platz vorm Schreibtisch aufmerksam. ‚Meurat weiß mehr, als er im Moment zugibt‘, ging es ihm instinktiv durch den Kopf.

„Ich glaube fest, Ihr Vater hat dort eine Botschaft hinterlassen. Genau an diesem Platz, wo auf dem Plan seine Linie endet ...“, ließ sich der Mann am Fenster plötzlich leise aber deutlich vernehmen. „Irgendwie werden Sie geführt werden. Machen Sie sich keine Gedanken. Doch ich glaube nicht ...“. Unvermittelt brach Meurat ab, als ob er sich bei unbedachten, gedankenverloren geäußerten Worten überrascht hätte.

„Alles kann ich Ihnen noch nicht sagen“, mit diesem Satz wandte er sich wieder vom Fenster ab. „Ich muss erst noch einige Erkun-digungen einziehen. Ich wußte ja bis dato auch nicht, was in dem Päckchen war.“ Wolf wollte etwas einwerfen, doch Meurat machte eine entschiedene Geste.

„Sie werden von mir mit entsprechenden Papieren versorgt, die Ihnen ungehinderte Grenzpassagen ermöglichen. Und in Polen werden Sie dann noch einige Informationen von mir erreichen. Ich muß mich erst noch mit einigen Leuten in Verbindung setzen. Schließlich geht es bei diesem Unternehmen auch um Ihre Sicherheit. Wenn Sie überhaupt den nicht ganz ungefährlichen Spuren Ihres Vaters folgen wollen, was ich jedoch sehr stark annehme.“ Meurat nahm die Nickelbrille ab und schaute Wolf bei diesen Worten aufmerksam an. Der nickte nur.

„Machen wir doch nun eine Auflistung aller relevanten Dinge, Herr Meurat. Schließlich erfordert dies alles einige Planung. Und gleich morgen werde ich wohl noch nicht abreisen.“

Die beiden Männer saßen noch über eine Stunde in der Anwaltskanzlei zusammen. Als der Abend immer mehr über der Stadt hereindämmerte machte sich Wolf wieder auf den Weg. Im Gepäck trug er die Dinge, die ihm Meurat übergeben hatte. Für ihn stand fest, dass er den Spuren nachgehen mußte. Irgend etwas Bedeutsames verbarg sich in dem fernen Gebirge, sonst hätte sein Vater nicht die Angelegenheit mit derart deutlichen Anweisungen hinterlassen. Eilig überquerte er die laubnasse und stille Straße, in der die alte Villa mit Meurats Kanzlei lag und ging zum Parkplatz bei den gegenüber liegenden herbstlichen Parkanlagen. Die Lichter einiger Laternen flammten gerade auf, als er die Wagentür öffnete. Weit weg, am Horizont hinter den dunklen Kronen der alten Parkbäume, zuckte ein diffuses Wetterleuchten über den schwarzgrauen Himmel, als er sich in den spärlichen Abendverkehr auf der Straße einordnete und in Richtung Stadtring davonfuhr.

... draußen vor der Stadt

Sabine lebte weiter draußen vor der Stadt. Ihr Haus stand an dunklen Waldrändern eines flachen Hügelzuges. In der Nähe lagen noch einige weitere Grundstücke verstreut, ansonsten war die Gegend noch recht ländlich-einsam. Felder, Wiesen und hin und wieder einige Waldstreifen prägten hier die Landschaft im schon fernen Weichbild Frankfurts. Wolf steuerte den Wagen vorsichtig über die hier zunehmend unebenen Wege. Kieslöcher und Wasserpfützen breiteten sich aus. Endlich hatte er sein Ziel erreicht und stellte das betagte Fahrzeug an Sabines Gartenzaun ab. Er brauchte nicht zu läuten, die Tür tat sich schnell auf und die Bewohnerin des Anwesens lies ihn eintreten. Im kleinen, dunklen Flur hing sie sich schon an ihn.

„Endlich, endlich bist Du wieder da“, hauchte sie ihm ins Ohr. „Du sollst doch nicht so lange in der Stadt bleiben, wenn ich hier auf Dich warte.“ Im geräumigen, gemütlich eingerichteten Wohnraum, in dem es sogar einen kleinen Kamin aus Feldsteinen gab, saßen sie sich dann gegenüber. Der Tee stand schon auf dem Tisch, und das Abendbrot war in der Küche des kleinen Landhauses vorbereitet. Wolf fühlte sich bei Sabine wohl, die ihn jetzt intensiv mit ihren grünlichen Augen ansah und augenscheinlich versuchte, seine Gedanken zu lesen. Sabine war keine von den unerträglichen dünnen Modepüppchen, deren Fotos jetzt wieder die Zeitschriften füllten, die ihren Leserinnen einen so völlig fremden wie unwirklichen Lebensstil vorgaukelten und dies alles zum allgegenwärtigen Trend erhoben. Wie sie vor ihm auf dem Sofa saß, die Beine keck übereinandergeschlagen, zeigte sie ihm in dem anliegenden grauen Pulli und der hellen Hose deutlich wieder ihre für ihn so begehrenswerte Figur. Sie lächelte, als sie seine leuchtenden Augen bemerkte.

„Du mußt erst essen, und ich auch, Du Wilder ...“ Sie stand auf, ging in die Wohnküche nebenan und holte eine große, kalte Platte. „Greif zu, ich brauche doch keinen ausgehungerten, sondern einen kräftigen Wolf“, sagte sie leise mit einem listigen Lächeln auf den Lippen. Setzte jedoch gleich sachlich hinzu: „Aber mal Spaß beiseite, hast Du Dich nun entschlossen? Willst Du die Firma Deines Vaters weiterführen oder geht da wirklich nichts mehr? Und was ist denn nun eigentlich bei dem komischen Anwaltstermin rausgekommen?“

„Viele Fragen auf einmal, meine Liebe“, seufzte Wolf. „Mit der pharmazeutischen Firma meines Vaters ist im Moment nicht viel Staat zu machen. Die Leute sind entlassen, und der Betrieb ruht. Wir müssen erstmal ein paar Geschäftsverbindungen aktivieren. Unser Prokurist ist gerade dabei. Morgen werde ich von ihm den Stand der Dinge erfahren. Wir können eh‘ nicht gleich ein riesiges Unternehmen aufziehen. Ich schätze, wir werden uns zum Anfang an ein paar Naturheilprodukte halten. Ein paar Sälbchen, Tropfen und noch dies und jenes. Aber auch das braucht Abnehmer und Werbung. Es kostet eben alles zuerst mal Geld. Den Start des Betriebes brächten wir noch auf die Beine, hat zumindest Keller gesagt. Aber was so ein alter Prokurist ist, der hätte eben gerne noch einen gewissen Rückenhalt bei der Sache.“

„Ich seh‘ schon, ich werde Dich eines Tages doch noch in meiner kleinen Landwirtschaft aufnehmen müssen. Da weißt Du in diesen Zeiten wenigstens, daß Du nicht verhungern musst!“ lachte sie ihn an. „Aber erzähl‘ weiter.“

„Nun, bei Meurat war es interessant. Stell Dir vor, hat doch mein alter Herr eine Art Hinterlassenschaft für mich bei ihm deponiert.“

„Eine Hinterlassenschaft, was war das denn?“ staunte Sabine. „Ein Päckchen“, beeilte sich Wolf zu erklären. „Darin sind verschiedene merkwürdige Sachen. Karten, Gegenstände, alte Fotos und so. Alles stammt noch aus den letzten Kriegsjahren. Er muß da in einer Art geheimer Untergrundfabrik auf heute polnischem Gebiet eingesetzt gewesen sein, wo er zudem noch irgendetwas Wertvolles versteckt hat. Und genau das soll ich jetzt holen. Seine Beschreibungen und Anweisungen in dem Päckchen sind deutlich. Und Meurat wußte auch irgendwie Bescheid ... Wenn ich es fände und herausholen könnte, dann wären wir saniert, so zumindest die Botschaft. Es hängt jedenfalls auch eng mit dem Orden zusammen. Ich denke, es sind vor allem auch einige wichtige Sachen aus den Archiven, die damals verborgen wurden. Wenn ich das Material berge, es dann auf die Burg zu denen vom Schrarzen Stein schaffe, stehen uns alle Wege offen.“

 

„Du mit Deinen schwarzen Herren. Das ist mir alles unheimlich, weißt Du das eigentlich. Ich habe Angst um Dich.“, regte sich Sabine auf.

„Es sind doch keine schwarzen Männer, die Böses im Schilde führen, meine Liebe, Du weißt es doch eigentlich“, lachte Wolf leise auf. Dann setzte er sich dicht neben sie, nahm sie fest in den Arm und strich ihr liebevoll durch das rötlich schimmernde Haar. „Du brauchst überhaupt keine Angst zu haben. Wir wollen doch nur nicht, daß in diesem Land alles verkommt und das gute und fortschrittliche Erbe völlig vergessen oder in den Schmutz gezogen wird. Die sogenannten Sieger zerstören alles, doch haben sie noch immer riesige Angst. Und dafür haben sie auch allen Grund. Denn dieser liegt in den Menschen, besonders den noch immer im Verborgenen wirkenden Herren von Schwarzen Stein und ihren geheimen Aktivitäten begründet. Sie setzen alte Vermächtnisse fort. Noch sind sie da und besitzen bestimmte Machtmittel, die irgendwo ruhen ... Und den Hauch einer Ahnung haben ihre Gegner auch davon. Sie sind sehr vorsichtig geworden, lecken sich ihre Wunden und versuchen aber weiter in die Organisation einzudringen, ihrer Köpfe und der Geheimnisse habhaft zu werden ...“ Es war unterdessen vollends dunkel geworden im Raum.

„Sei still, sei doch endlich still“, sagte Sabine leise, während sie ihn leidenschaftlich zu küssen begann und immer fester an sich zog. Der Duft ihrer Haut nahm Wolf schließlich vollends den Atem. Und bald schwanden ihrer beider Sinne im samtenen Licht ferner, nebelhafter Sterne ...

Es war dann mitten in der Nacht, als Sabine allein am breiten Fenster des Wohnraumes stand und nachdenklich in die dunkle Stille hinausschaute. Die helle Gestalt ihres Körpers hob sich vorm dunklen Hintergrund sanft ab. Ihre warmen Hände rangen miteinander, an Schlaf war nicht zu denken. Sie fürchtete für den Mann, der hinter ihr friedlich schlafend auf der breiten Couch ruhte. Noch nie hatte sie eine solche Angst um ihn verspürt. Sie hegte keinen Zweifel, daß er sein Vorhaben in die Tat umsetzen und in das ferne, gefährliche Gebirge zu den dort ruhenden Geheimnissen aufbrechen würde. Er war, so lange sie ihn kannte, schon immer eigensinnig gewesen. Was er sich in den Kopf setzte, mußte er ausführen. Auch auf die Gefahr hin, dabei zu verlieren. Sie konnte ihm kaum raten. Sein Entschluß stand wohl schon fest. Daß er einer geheimen Organisation angehörte, deren tieferer Sinn ihr sich noch nicht vollends offenbart hatte, störte sie weniger. Sie hatte schließlich auch eine ausgeprägte Ader für mystische Dinge, sah aber auch gern die Realitäten. Und die bestanden in den von ihren Eltern geerbten Land und dem kleinen Hof. Hier hatte sie auch Wolf kennengelernt. Er war auf einer Fahrt zurück nach Frankfurt an der Oder in der Nähe mit Reifenschaden liegengeblieben. Kein Mensch weit und breit. Dann kam sie und half ihm mit fehlendem Werkzeug aus. Ein plötzlicher Regenguß hatte sie dabei beide durchnäßt. Also bat sie den ihr sofort sympathischen Pechvogel ins Haus. Er strömte eine besondere Art von Wärme und Zutrauen aus, die sie schon sehr lange vermißte. Und ihr Wolf fuhr seit diesem Tag bald öfter zu dem kleinen Hof an den waldigen Högenzügen. Es dauerte auch nicht lange und sein Auto blieb bis zum frühen Morgenlicht stehen ... Hatte es ihm doch seine einstige Pannenhelferin inzwischen mehr als angetan. Und dies beruhte nun schon über ein Jahr auf wachsender gegenseitiger Sympathie.