Das allerletzte Gefecht

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Das allerletzte Gefecht
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Wolfgang Pohrt

Das allerletzte Gefecht

Über den universellen Kapitalismus,

den Kommunismus als Episode

und die Menschheit als Amöbe

FUEGO

- Über dieses Buch -

Hinter der Protestbewegung haben Atomkraft und Raketentriebwerke gesteckt, nicht die Liebe zum Sozialismus. Marx war Darwinist und das Kommunistische Manifest übler Kitsch. Der Kommunismus ist abgelaufen wie altes Badewasser, als der Stöpsel gezogen wurde. Der Mensch als Einzelner ist ein bösartiges Tier und die Menschheit als Ganzes eine wild wuchernde Amöbe. Linksradikale schöpfen aus dem Kapitalismus Lebenssinn und Seelentrost. Die Geschichte ist keine Schatzkammer, sondern eine Leichenhalle, und aus der Vergangenheit kann man nur lernen, dass man sie vergessen soll. Das ist die Wahrheit, aber nicht die ganze, sondern wahr ist auch das Gegenteil. Wie er es damit hält, muss jeder selbst für sich entscheiden. Vorbeter gehören in die Kirche oder ins Politbüro.

Vorbemerkung

Vor 40 Jahren hat unsereiner noch an die heile Welt geglaubt. Wenn man sie machen wollte, musste man nur ins richtige Rezeptbuch schauen. Wir lasen Marx und fingen an zu träumen. Es war die Zeit, als Mitscherlich das Phänomen von der vaterlosen Gesellschaft entdeckte – genial, denn von alleinerziehenden Müttern sprach damals noch keiner. Da fehlte was, und Marx füllte mit seinen boni patres familias die Lücke:

»Selbst eine ganze Gesellschaft, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und sie haben sie als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.«1

Die Weltgeschichte als kleinbäuerlicher Familienbetrieb auf eigener Scholle mit einem Patriarchen an der Spitze, das war nach dem Geschmack vaterlos herangewachsener Flüchtlingskinder. Wir wollten wieder Wurzeln schlagen, und diesmal gleich für immer.

Aber so einfach ging das gar nicht, der Eigentumsformen im Kapitalismus wegen nämlich. Marx hat zwei gefunden und bewiesen, dass alle beide schädlich sind:

»Bei beiden Formen tritt an die Stelle selbstbewußter rationeller Behandlung des Bodens als des gemeinschaftlichen ewigen Eigentums, der unveräußerlichen Existenz- und Reproduktions­bedingung der Kette sich ablösender Menschengeschlechter, die Exploitation und Vergeudung der Bodenkräfte.«2

Eine Aufforderung zum Handeln: Wir müssen Sozialismus machen, und dann ist die Erde wieder rund. Denn wenn ich historisches Subjekt geworden bin, ist der Acker mein. Für immer. Versprochen.

Aber der Weg zum Sozialismus ist weit, so weit, auf der langen Reise hat man viel Zeit und kommt dabei ins Grübeln. Mal angenommen, wir haben den Sozialismus, ich bin ein Bauer, ich mobilisiere alle meine Brutpflege- und Arterhaltungsinstinkte und bin bereit, mein ganzes Sinnen und Trachten darauf zu richten, dass ich den Nachkommen einen verbesserten Boden hinterlasse. Aber weiß ich denn überhaupt, ob meine Enkel auf dem Acker ein Maisfeld oder einen Wald haben wollen, oder ob er dann Baugrund für eine Wohnsiedlung oder eine Fabrik geworden ist? Ich weiß es nicht, und die ganze schöne Geschichte vom ewigen Eigentum, das ich pflegen soll, fällt zusammen. Raumordnungspläne für die Ewigkeit sind reiner Unfug

Marx verlangt Hellseher, Hellseher aber sind die Menschen nicht und werden sie auch im Sozialismus nicht. Dies umso weniger, als die Natur ja auch noch ein Wörtchen mitreden kann. Da hatten die Menschen nun im Pharaonenreich nicht nur den Boden hervorragend präpariert, sondern obendrein ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem installiert, aber dann blieb der Regen plötzlich aus, und das von vielen Generationen fruchtbar gemachte Schwemmland wurde eine Wüste. Gut, dass die Leute damals Marx noch nicht gelesen hatten, sie hätten sonst ziemlich belämmert dagestanden: Wir haben doch alles richtig gemacht! Wieso jetzt das?

In den Religionen findet auch die Unberechenbarkeit der Natur ihren Platz, in der Gestalt von Gottes unerforschlichen Ratschlüssen. Mal schickt er Überschwemmungen, mal Dürre, mal reiche Ernte und mal keine. Einerseits zwar »Macht Euch die Erde untertan!«, eine Forderung, aus der man eine Fürsorgepflicht im Marxschen Sinne ableiten kann, andererseits unausgesprochen daneben aber der Vorbehalt: »Ob Ihr das schafft, hängt von meinem Wohlwollen ab!«

Bei Marx verschwindet diese Drohung. Wenn jede Generation der nachfolgenden den Boden verbessert hinterlässt und einzig dieser Prozess die Entwicklung bestimmt, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis wir wieder im Garten Eden angekommen sind, nämlich in der kommunistischen Gesellschaft, die es mir

»möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.«3

Also wäre die kommunistische Gesellschaft eine, in der man mindestens zehn Hobbys braucht, um die Zeit totzuschlagen. Marx verspricht hier den feudalen Lebensstil eines britischen Landedelmannes für alle, den Lebensstil eines Lord Peter Wimsey zum Beispiel, den wir als Held der Krimis von Dorothy Sayers kennen.

Auf Erwerbsarbeit seines Vermögens wegen nicht angewiesen, ist er die zweckfreie Kombination aus Universalgelehrtem, Sportsmann, Kunst­kenner, Dichter, Hausvater, Lebemann, Meisterschütze und Landwirt. Voraussetzung für seine Freiheit, beim Wechseln der Tätigkeiten eigener Lust oder Unlust zu folgen, sind natürlich Bedienstete und Knechte, die ihm Essen kochen, vor allem aber das Vieh füttern, wenn er selbst keine Lust auf den Stall hat, also fast immer. Bei Marxens Feierabendviehzüchter muss es sich um einen Scherz oder eine Provokation gehandelt haben, oder Marx hatte von Tierhaltung keinen blassen Schimmer.

Ein komfortables Leben also, wie man es sich gar nicht besser wünschen kann, aber doch langweilig, reizlos, trostlos, für uns wie für ihn, gäbe es nicht außerdem die Verbrecher und Verbrecherbanden, die unter Lebensgefahr dingfest zu machen der Edelmann sich zum Ziel gesetzt und zur Aufgabe gemacht hat. Ab diesem Zeitpunkt ist er nicht mehr frei, sondern er muss sich der Aufgabe und dem Ziel unterwerfen. Nicht seine Lust entscheidet, sondern die Entwicklung des Falles zwingt ihn zu tun, was getan werden muss. Und die belebende Spannung, die er empfindet und wir auch, resultiert aus dem Risiko des Scheiterns.

Im Rückschluss wirft solche Verschränkung von Hochgefühl und Risiko, von Pflicht und Genuss die Frage auf, ob der Kommunismus vielleicht deshalb immer nur gescheitert und keinen Schritt vorangekommen ist, weil er dem Menschen eine Welt verspricht, die sie im Grunde ihres Herzen gar nicht mögen, eine Welt ohne Zwänge, Bewährungsproben und Risiken. Vielleicht sind die Menschen von Natur aus Glücksritter und Spieler, die nicht nur leben wollen, sondern auch gewinnen.

Der Sammler – der braucht Glück – und der Jäger – der will einen Kampf gewinnen –, alle beiden stecken nun mal in unseren Genen. Vielleicht ist es unmöglich, diese Gestalten und ihre Begierden abzutöten, ohne die Menschen selbst umzubringen.

Und wenn das so ist, braucht man andere Ideen, weil die sich ändern lassen, man die Menschen aber nehmen muss, wie sie nun mal sind. Dass der Kapitalismus die letzte Etappe der Weltgeschichte wird ist ebenso unwahrscheinlich wie eine nachfolgende Gesellschaft ohne Gewinner und Verlierer. Man kann nur die Spielregeln ändern und dafür sorgen, dass Menschen nicht unter Entbehrungen leiden müssen, wenn sie beim großen Gewinnspiel nicht mitmachen wollen oder können.

Ist es schlimm, nach lebenslanger Beschäftigung mit Marx einsehen zu müssen, dass der Kommunismus wohl doch nicht funktionieren wird? Muss man sich grämen wegen der vielen verlorenen Jahre vergeblichen Bemühens?

Überhaupt nicht, es sei denn, man nähme sich wichtiger, als man ist. Nirgends ist man mehr Kind seiner Zeit als beim Denken und Schreiben, wo man sich dieser Abhängigkeit enthoben glaubt. Die vergangenen Zeiten waren so. Jetzt sind sie anders. Es werden wieder andere kommen, und dann können die Einsichten von heute sich als Irrtümer erweisen. Ewige Wahrheiten gibt es nicht, ewig sind nur die Banalitäten.

Am wichtigsten für den Verfasser waren der erste Text und besonders der letzte. Der erste, Die Vertreibung aus dem Paradies, weil bei der Arbeit daran die Geschichte sich von einer unbekannten Seite zeigte. Im letzten Text, Sie kriegt ihn! geht es um einen Roman, der zeitgleich mit dem Kommunistischen Manifest erschienen war und ähnliche Popularität erlangen sollte. Die Ins­zenierung von Clemens Schönborn mit Sophie Rois in der Titelrolle an der Berliner Volksbühne bot Anlass, sich mit Dumas Kameliendame zu befassen. Und auf Befragen verrät uns diese traurige Witwe, warum das letzte Gefecht schon verloren war, bevor es überhaupt angefangen hatte.

Das Bändchen beginnt mit der vaterlosen Gesellschaft und hört mit der männerlosen auf. Aber nicht den Mut verlieren, vielleicht renkt sich das wieder ein. Einstweilen jedoch gilt es, ins allerletzte Gefecht zu ziehen, und dafür braucht man keine Waffen, sondern einen großen Besen.

*

Die voraussichtliche Kritik an diesem Bändchen fasst eine Reaktion im Internet auf dessen Ankündigung zusammen: »Wolfgang Pohrt frisst sich selber auf.« Soll ein Schreiber die Irrtümer seines Lebens, das wie jedes Leben voller Irrtümer ist, lieber als Gewissheiten hinterlassen, wie ein Vermächtnis, und als habe er selbst bis zum letzten Atemzug felsenfest und unerschütterlich daran geglaubt?

 

»Wenn alles so kommt, wie ich das voraussage, du, dann hauen wir hier ab«, soll Marx zu seiner Frau gesagt haben. Er hätte es besser öffentlich gesagt. Das Eingeständnis seines eigenen Grauens vor der Revolution, die er als notwendig erachtete, hätte ihn zwar seinen Platz auf dem Sockel gekostet, aber der Revolution hätten mehr Selbstzweifel und weniger Selbstgerechtigkeit bei den Revolutionären bestimmt genützt.

Und man hätte vielleicht einen Weg gefunden, die Angst vor dieser unerbittlichen Revolution, die alle empfanden, nicht nur Marx, durch ein Lachen unschädlich zu machen nach dem Motto: Die Revolution ist das Allerernsteste, aber so ernst wieder nicht. Für jeden gibt es wichtigere Dinge im Leben, nicht zuletzt das Leben derer, die er liebt. Daneben ist der Kapitalismus auf die Dauer nur ein blödes Spiel, ungefähr wie Murmelkönig. Versuchen wir es spaßeshalber mal mit einem anderen. Und wenn das auch nichts taugt, erfinden wir ein neues.

Vollkommen zwecklos hingegen, eine Revolu­tion zu fordern, die man selbst nur beschreiben, aber nicht machen will. Marx nicht, sonst hätte er ein bedeutend schmäleres Werk hinterlassen. Und wir nicht, sonst wären wir im Knast oder tot.

*

Dank an alle, die durch Einladungen zu Vorträgen Anlass zum Schreiben und Diskutieren gaben: Laidak Berlin, Volksbühne Berlin, King Georg Clubbar und Bunt Buchhandlung Köln, Antifa Duisburg, Akademie der Bildenden Künste Nürnberg, Wilhelm das war nix Stuttgart.

Die Vertreibung aus dem Paradies

Von Adam & Eva bis heute

Geschichte entsteht im Augenblick, wo Menschen sich den Kopf darüber zerbrechen, wie sie wurden, was sie sind. Sie soll die Gegenwart erklären.

Und wenn sie das nicht mehr kann, weil die Zeiten sich geändert haben, muss man eine andere Geschichte erfinden. Also noch mal zurück auf Null, wir beginnen bei Adam und Eva. Ich war dabei und berichte:

Die lange Vorgeschichte ganz kurz

Gott hatte uns aus dem Paradies durch seinen Erzengel Gabriel vertreiben lassen, wir haben es zurückerobern und Gott stürzen wollen. Anfangs kam die Offensive flott voran, aber inzwischen steckt sie fest. Das ist die Lage, mit der wir uns befassen müssen.

Die Pfaffen hatten uns hereingelegt, das Geschäftsmodell der Kirche war der Leerverkauf. Für hochspekulative Wetten auf eine Zukunft im Himmelreich hatte sie uns teures Geld abgeknöpft, mit einem Trick, der heute noch funktioniert: Beziehungen nach ganz oben. Man muss nur glaubhaft machen, dass man den Minister persönlich kennt, mit Gott funktioniert es noch besser.

Als wir die Drückerkolonnen im Talar enttarnt hatten, ging freilich der Ärger erst richtig los. Die schönen Geschichten vom Paradies und dem für uns reservierten Plätzchen darin entpuppten sich als der größte Immobilienschwindel aller Zeiten. Es gab nämlich gar kein Paradies. Dabei hätten wir doch so gern eins bekommen, die Idee an sich gefiel uns wirklich gut.

Der nächste Flop war die Nation. Als Paradiesersatz wurde uns ein Grab auf dem Heldenfriedhof versprochen. Irgendwas muss es im Leben schließlich geben, wofür zu sterben sich lohnt. Gelegenheit dazu bot sich dann auch reichlich.

»Liberté, Égalité, Fraternité« hieß die Parole damals. Wir hätten gewarnt sein müssen: Freiheit kommt von Freiherr, Brüderlichkeit kommt von Kain & Abel. Und Gleichheit kannten wir doch schon, bei den Pfaffen war es die Gleichheit der Gotteskinder vor Gott gewesen. Davon wird man im Leben nicht satt, Gleichheit bei Tisch, und zwar dem des Herzogs, hätte uns mehr genützt. Wieder waren wir irgendwelchen Schönschwätzern auf den Leim gegangen.

Von denen hatten wir die Nase gestrichen voll. Aber der Frust über die Pleiten mit Religion und Nation war kaum verdaut, da stand schon der nächste Klinkenputzer vor der Tür, wieder so ein wortgewandter Überredungskünstler mit Visionen. Er hieß Marx und wollte uns den Sozialismus als Ersatzparadies verkaufen.

Den haben wir aber abblitzen lassen. Inzwischen hatten wir sie durchschaut, diese oberschlauen Burschen mit den Engelszungen. Trau keinem, der viel predigt und ein dickes Buch schwenkt. Das hatten wir aus der Geschichte gelernt.

Mit dem Verbleib im irdischen Jammertal hatten wir uns fast schon abgefunden. Besser dort als auf dem Friedhof. Aber dann geschah in schwärzester Nacht das Wunder: Immer, wenn man denkt, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.

Verbraucherparadies und Atompilz

Diesmal waren es die Neonröhren in den Reklametafeln, die alle Sterne am Firmament überstrahlten und den Mond verblassen ließen. Wie Weihnachten, wie der Stern von Bethlehem, nur viel schöner.

Die Abendländer mochten den Abend nicht sondern Licht. Schon lange hatte es sie weg gezogen vom finsteren Mittelalter und hin zu Enlightenment, zu Les Lumières, zu Éclaircissement , Aufklärung hieß das deutsche Wort. Doch die Lampe blieb Metapher, erst im 20. Jahrhundert ging sie wirklich an. Es werde Licht, hatten die Abendländer gebetet, jetzt ward es Licht, und die Erleuchteten sahen die Welt mit anderen Augen. Sie entdeckten eine neue, das Verbraucherparadies.

Eigenartigerweise verdankten wir es den Kommunisten. Solange der Ostblock bestand, verhalf dessen Ideologie dem Westen zu der seinen. Die Kommunisten versprachen den Menschen materiellen Überfluss für alle, die Kapitalisten erfüllten das Versprechen. Damit schien bewiesen, dass das Paradies machbar ist. Gesundheit, Glück und langes Leben waren eine Kostenfrage, und die Antwort darauf ein stetig wachsendes Bruttoinlandsprodukt. Der Osten lieferte also den Glauben, der Westen das Know-how. Die Menschheit hatte endlich wieder ein Ziel vor Augen, nämlich das nächste Kaufhaus.

Nur durch Arbeitsprodukte werden Menschheitsträume wahr, das glaubten die Ostblockkommunisten von Marx gelernt zu haben. Allerdings wussten sie mit der Lehre nichts anzufangen. Erst der Kapitalismus machte daraus eine Religion, mit der sich Herz und Seele erobern ließen.

Diese Religion brauchte weder Kirchen noch Priester, darin lag ihre Überzeugungskraft. Es war der Kühlschrank im Schaufenster selbst, der zu den in stiller Andacht vor ihm Verweilenden sprach: »Ich bin heilig. Kauf mich, und du wirst selig.« Nun wollten die Leute nicht mehr in den Himmel kommen, sie wollten ein neues Auto, und statt der Bibel studierten sie Versandhauskataloge.

Doch Kühlschrank und Auto im Schaufenster waren nur Reliquien, nicht Gott selbst. Der Allmächtige erschien anderswo, er donnerte damals in den 50er Jahren herab von den Titelseiten der Illustrierten, er grollte und quoll durch die Wochenschauen.

Wie später die in Zeitlupe zusammensackenden Twin Towers in New York oder ganze Ansiedlungen gemächlich überschwappende Tsunami-Fluten in Thailand und Japan war der Atompilz, der bei Wasserstoffbombentests in der Wüste von Nevada nach Blitz und Detonation gen Himmel stieg, ein Hingucker gewesen, an dem man sich nicht sattsehen konnte, vielleicht, weil solche Bilder ein ebenso Furcht einflößender Anblick sind, wie sie zugleich eine große, majestätische Ruhe verströmen und sogar ein Gefühl von Geborgenheit geben. Sie besitzen eine Aura, man spürt die Nähe einer fernen Macht, wenn Autos und Häuser wie Spielzeug durch die Luft gewirbelt oder weggeschwemmt werden

Sie zeigen eine Situation, wo man selbst ganz klein und alle Abstrampelei unnütz wird. Man kann nur gaffen, machen kann man nichts, der Kampf ums Dasein hat Pause und ich auch. Ich muss nicht rackern, sondern kann die Hände falten, denn mein Schicksal liegt nicht mehr in meiner, sondern in Gottes Hand. Gewaltige Katas­trophen sind immer alles zugleich –Verhängnis, Andacht, Offenbarung und Wunder.

Doch diesmal hatten die Menschen selbst das Wunder vollbracht. Der Atompilz kündete von menschlicher Zauberkraft, die alles überstieg, was man bislang für möglich gehalten hatte. Man war überwältigt und erschüttert, also genau in der richtigen Verfassung dafür, einen Glauben zu entwickeln. Es wurde der Glaube an künftig grenzenlos und unbeschränkt zur Verfügung stehende Warenmengen. Und damit war der Klassenkampf obsolet geworden, bei dem es nach landläufigem Verständnis um die Verteilung knapper Güter ging.

Zu Beginn der 60er Jahre bereits wurden die Fusionsreaktoren projektiert, die heute immer noch nicht funktionieren. Sie würden sich, dachte man damals, mit Meerwasser speisen lassen, nur einem winzigen Teil desselben freilich, aber der war immer noch groß genug, um für alle Zeiten auszureichen.

Das bedeutete Strom in uner­schöpflicher Menge. Und mit Strom in uner­schöpflicher Menge kann man alles machen, auf Grönland Südfrüchte züchten oder Fußbodenheizung für Autobahnen. Das Land, wo Milch und Honig fließen, lag direkt vor der Haustür.

Endlich daheim, wieder zurück im Paradies, aus dem Gott, der Herr, uns verscheucht hatte mit den an Adam gerichteten Worten:

»Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis dass du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden.«

Von wegen! Schwitzen würden fortan die Reaktoren, für die Menschen gab es Klimaanlagen und eisgekühlte Drinks am Pool, noch nicht für alle freilich, aber das würde sich bald ändern. Keiner brauchte den Gedanken bedichten und erklären, weil er selbstverständlich war.

In schöne Worte gefasst wurde dieses Lebensgefühl erst viele Jahre später, als seine Endphase angebrochen war, das Auswickeln zum Einsargen. Was die Menschen verloren haben, davon reden sie. Solange sie es besitzen, reden sie davon nicht. Im Pariser Mai 1968 wurden die verblichenen Hoffnungen aus der Anfangszeit des Atomzeitaltern noch einmal ins Bewusstsein geholt, um sie anständig beerdigen zu können. Die Revolution war ein Trauerzug, das revolutionäre Paris war ein Friedhof, und die Häuserwände waren Grabsteine, auf denen hin gekritzelt die Namen der Verstorbenen standen. Es waren Parolen wie Sous les pavés, la plage, L’imagination prend le pouvoir!, Soyez réalistes, demandez l’impossible.

Aktuelle Beispiele wären der Refrain von Obamas erster Wahlkampagne, Yes we can. So singt man, wenn man nicht mehr kann. Wer kann, singt nicht, sondern macht. Desgleichen Buchtitel wie »Der kommende Aufstand« oder »Empört euch!«. Sie sind ein Abschiedsgruß, ein Winke-Winke und kein Signal zum Aufbruch. Die Zeit für solche Dinge ist vorbei – so der Klartext der Botschaft –, sie sind Kulturmüll geworden. Dann rücken Fernsehen und Feuilleton an und entsorgen die Überreste umweltfreundlich durch Recycling.

Aber der Reihe nach, wir stehen noch nicht an der Bahre, sondern an der Wiege. Wir fühlen uns wie neu geboren, denn die Sache mit dem eigenen Schweiß, der uns das Brot versalzen sollte, ist ausgestanden und erledigt. Der alte Mann da oben, der uns schwitzen lassen wollte, hatte wieder mal den Mund zu voll genommen und Adams Cleverness nicht bedacht.

Doch dann war da noch die Sache mit der Erde: »Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden«, hatte der Herr gesagt. Dem ließ sich schwer widersprechen, dieser Teils des Fluches behielt seine Gültigkeit. Also saß der Typ da oben doch wieder am Drücker. Die Machtfrage ist nicht die Frage, wer stärker ist, sondern wer wen abschalten kann, ich den Motor oder er mich.

Im Paradies waren Adam und Eva als Personen unsterblich gewesen, draußen nur ihre Gene, und für die gilt, was Woody Allen über andere Hinterlassenschaften sagte: »Ich möchte nicht durch meine Werke unsterblich werden, sondern indem ich nicht sterbe.«

Man war ja immer noch in des Allmächtigen Hand. Der Allmächtige hatte sich sogar verdoppelt, jetzt waren es gleich zwei von seiner Sorte geworden, und jeder der beiden hat unter berufsbedingter Schizophrenie gelitten, was bedeutete, dass wir gleichzeitig vier verschiedenen Herren dienen mussten.

Der Herr ist der Herrscher über Leben und Tod, und unsterblich war man durch die Atomenergie nicht geworden, ganz im Gegenteil. Sterben ist etwas, das jeder muss und keiner will. Folglich blieb man einem fremden Willen unterworfen. Der Einzelfall verblieb im Zuständigkeitsbereich des alten Gottes, also waren wir ihn nicht losgeworden. Aber der kollektive Atomkatastrophentod im nuklearen Krieg, der alles Leben auf der Erde auslöschen würde, war ein neuer Geschäftsbereich mit eigenem Direktor. War er das? Oder war nur der alte Gott durch die Kernenergie noch mächtiger geworden? War er geblieben, was er schon immer war? Eine Frage an die Theologen.

 

Im Alltag behalf man sich damit, alle Varianten bunt durcheinander zu mischen. Wenn damals das Wetter die Menschen überraschte, was es eigentlich immer tut, dann tuschelten sie einander zu, das sei die Strafe Gottes oder die Rache der Natur dafür, dass die Russen und die Amerikaner mit ihren Atombombentests die ganze Atmosphäre durcheinander brächten. Die CO2-Version der Klimageschichte kannten sie noch nicht.

Sicher ist nur, dass Persönlichkeitsspaltung die unheilbare Erbkrankheit jeder Allmacht ist – kein Gott ohne Teufel, kein Himmel ohne Hölle. Die Fähigkeit, Menschen und Welt zu erschaffen, beinhaltet die weitere, sie nach Belieben zu zerstören wie ein spielendes Kind seine Sandburg am Strand. Macht über eine Sache zu besitzen heißt also, sie vernichten zu können. Geld gehört mir, wenn ich die Scheine auch in den Ofen stecken kann.

Ohnmacht heißt, einer solchen Macht ausgeliefert zu sein. Deshalb ist Gott in den Religionen ein Typ, der schon einmal die Welt zerstörte und es wieder tun wird. Da die Menschen früher statt unserer linearen Zeit die zyklische kannten, waren Weltuntergänge Ereignisse wie Sommer und Winter, nur in kosmischer Dimension. Die Schöpfungsgeschichte beginnt mit einem Weltuntergang und endet mit dem nächsten, worauf hin sich der Zyklus wiederholt. Um als Allmächtiger anerkannt zu werden, muss Gott also den Nachweis führen, dass er die Welt vernichten kann. Er liegt vor in der Überlieferung, dass alles mit einem Weltenende begonnen habe, und an diese Reihenfolge hielt sich auch die Atomenergie.

Der Glaube an die Machbarkeit einer Welt, deren sämtliche Probleme diese Technologie lösen würde, gründete sich auf die nachgewiesene Machbarkeit des genau entgegengesetzten Vorhabens, nämlich des Manhattan-Projekts, der Entwicklung der Atombombe von 1942 bis 1945. Manpower von zeitweilig mehr als 100.000 Personen und Kapitaleinsatz von 23 Milliarden Dollar nach heutiger Kaufkraft hatten das Unmögliche möglich gemacht, den Atomblitz, »heller als tausend Sonnen«, wie am Projekt beteiligte Atomwissenschaftler ihn beschrieben, die sogar in indischer Mythologie bewandert waren. So gebildet sind wir heute nicht mehr, dafür haben wir Wikipedia und lesen:

»Der Ausdruck heller als tausend Sonnen stammt aus der hinduistischen Religion. Die Allgöttin Devi wird als schöne Frau beschrieben, deren Antlitz heller als tausend Sonnen scheint. Es heißt, wenn sie blinzelt, erschafft sie dadurch das Universum neu (zyklisches Weltbild). – Der Ausdruck wurde beim ersten Atombombentest im Rahmen des Manhattan-Pro­jekts von den beteiligten Forschern aufgegriffen, um den entstehenden Atomblitz zu beschreiben.«

Diese tausend Sonnen waren es, nicht die Neonröhren, die den Reklametafeln eine Strahlkraft verliehen, die bis in die Seele drang. Allerdings verstrahlten sie auch die Atmosphäre, und das war eher unerwünscht. Durch den Fallout bei Kernwaffentests hatte die Radioaktivität dort sich fast verdoppelt. 1963 trat ein internationaler Vertrag in Kraft, welcher den Unterzeichnerstaaten oberirdische Kernwaffentests verbot. Der letzte amerikanische fand im Juni 1963 statt.

Protestbewegung und Apollo 11

Da traf es sich gut, dass die USA schon das nächste Spektakel in der Pipeline hatten. Während der langwierigen Vertragsvorbereitungen wurde klar, dass der Atompilz seine Faszination als Symbol industrieller Allmacht allmählich verlieren musste, weil die Leute bei seinem Anblick nicht mehr erschauern wollten, sondern ganz kleinkariert an den Fallout und etwaige gesundheitliche Folgen für sich selbst dachten. Und Kennedy, seinerseits inspiriert von den Russen im Weltraum, kam auf die Idee, dass statt des Atompilzes die Mondrakete das Wahrzeichen des nächsten Jahrzehnts werden sollte.

Jede neue Hollywoodproduktion wurde damals beworben als teuerster Film aller Zeiten, also nicht mehr der Wert einer Ware bestimmt den Preis, sondern der Preis den Wert. Kennedy legte noch eine Schippe drauf, in seiner berühmten Rede vor dem amerikanischen Kongress 1961:

»Ich glaube, dass dieses Land sich dem Ziel widmen sollte, noch vor Ende dieses Jahrzehnts einen Menschen auf dem Mond landen zu lassen und ihn wieder sicher zur Erde zurückzubringen. Kein einziges Weltraumprojekt wird in dieser Zeitspanne die Menschheit mehr beeindrucken, oder wichtiger für die Erforschung des entfernteren Weltraums sein; und keines wird so schwierig oder kostspielig zu erreichen sein.«

Wie von Kennedy versprochen brach die Apollo-Mission (1961–1972) alle Rekorde. Sie kostete nach heutiger Kaufkraft 120 Milliarden Dollar und beschäftigte 400.000 Mann. Schon der Aufwand des Unternehmens machte staunen, und dann kam das allergrößte Wunder: Der Eintritt war frei. Die Landung eines Amerikaners auf dem Mond im Juli 1969 wurde im Fernsehen übertragen.

Heute noch kursiert das Gerücht, die Bilder seien statt aus dem Orbit aus dem Studio gesendet worden, aber darauf kommt es nicht an. Ob echt oder Fake, der bemannte Mondflug war eine Show, die nach dreijähriger Laufzeit wieder aus dem Repertoire genommen wurde. Wie beim Viet­namkrieg, den ebenfalls Kennedy begonnen hatte: Ein großer Aufbruch, dann die Bauchlandung, und zum Schluss ist man wieder daheim.

Ein ähnliches Schicksal sollte der Protestbewegung beschieden sein, einem Spin-off der Atom-Euphorie und der Apollo-Jahre. In ihr verband sich der Schwung jener Zeit mit einer Gegenreaktion auf sein Abklingen, analog etwa zur sekundärseitigen Überspannung, die bei der Trennung eines Trafos vom Netz entsteht und verantwortlich ist für den Knackser im Lautsprecher beim Abschalten des Verstärkers.

Noch mal in Kurzform: Die Protestbewegung war das Knacksen im Lautsprecher, wenn man der Anlage den Saft abdreht. Also so was wie ein letzter Seufzer.

Jeder Widerstand wird erzeugt von den Triebkräften der gleichen Gesellschaft, gegen die er sich richtet. Er ist deren Produkt, er ist von ihr geprägt, er ist ein Teil von ihr, wie sehr die verfeindeten Kontrahenten dies auch bestreiten mögen. Und aus der zeitlichen Distanz betrachtet verschmelzen sie beinahe miteinander.

Während die Apollo-Mission mit ersten Testflügen (ab 1966) Gestalt annahm, kam auch die Protestbewegung in Fahrt, denn eine ganze Generation wuchs heran im festen Glauben an grenzenlose Machbarkeit. Die Atombombe schien den Beweis für göttliche Allmacht in Menschenhand geliefert zu haben, die nachfolgende Eroberung des Weltraums ergab sich daraus wie von selbst. Der Endsieg wurde zur zentralen Denkfigur der Epoche, weil er in der Idee des Fortschritts steckt, denn Fortschritt ist, was die Welt für immer verändert, also jeweils neue Ewigkeiten schafft.4

Natürlich vermied man das Wort, die Nazis waren mit ihrem Retortenarier und der judenreinen Welt ein wenig übers Ziel hinausgeschossen und hatten es kompromittiert. Aber Fortschritt ist Erlösung von altem Übel oder vom alten Fluch, etwa dem, sein Brot im Schweiße seines Angesichts essen und Kinder unter Schmerzen gebären zu müssen, und Erlösung heißt immer Endlösung. Die Welt soll nach vollbrachter Tat eine ganz andere sein, egal ob auf ewig ohne Schweiß, Armut, Krankheit oder Juden.

Nur diese Logik erklärt zum Beispiel, weshalb ein Wissenschaftler, der Epidemiologe und Kinderarzt William Stewart, der damals den Chefposten der obersten US-Gesundheitsbehörde innehatte, sich 1969 zu einer seither oft zitierten Falschmeldung hinreißen ließ: »Es ist soweit, das Buch der Infektionskrankheiten zu schließen und den Krieg gegen die Seuchen als gewonnen zu erklären.« Er meinte natürlich: Für immer und alle Zeiten.

Der trockene Kommentar eines Wissenschaftlers 40 Jahre später: »Dabei hat man natürlich vergessen, dass Antibiotika-Einsatz nichts anderes ist als Evolution bei der Arbeit. Das Entwickeln einer Resistenz muss man wirklich im Sinne der Evolution als einen ganz natürlichen Vorgang betrachten.«5