Theorien des Fremden

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Theorien des Fremden
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

unter Mitarbeit von Johanna Chovanec

Theorien des Fremden

Eine Einführung

A. Francke Verlag Tübingen

© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-8463-4569-6

Inhalt

  Einleitungs

  Vorwort

 1. Begriffsklärungen: Fremd, anders, ausländisch1.1. Die Relationalität des Fremden1.2. Formen des Alteritären1.3. Alterität und Raum1.4. Fremdheit als transdisziplinäres Paradigma

 2. Die Konstruktion des Anderen in der französischen Nachkriegsphilosophie2.1. Der „gespenstische Schatten“ Hegels2.2. Die Entdeckung des Anderen im postkolonialen Frankreich2.3. Hegels Phänomenologie des Geistes. Lektüre des Abschnitts über Herr und Knecht2.4. Kojèves ‚Re-Vision‘ von Hegels Konzeption von Herr und Knecht2.5. Kommentar und Kritik an Kojèves Konzept von Alterität2.6. Die Hölle, das ist der Andere: Sartre

 3. Freuds Hoffmann-Lektüre und ihre Spuren in Julia Kristevas Theorie der Fremdheit3.1. Romantik und Psychoanalyse: Das Andere der Vernunft3.2. Das Unheimliche als Fremdes und Vertrautes. Freuds Lektüre von E.T.A. Hoffmann3.3. Fremde sind wir uns selbst: Julia Kristeva3.4. Exkurs: Adelbert von Chamisso

 4. Emmanuel Lévinas: Die Vorgängigkeit des/der Anderen4.1. Zeitlichkeit und Alterität4.2. Die Genese der Theorie von Lévinas und ihr Widerhall im Werk von Jacques Derrida4.3. Lévinas erster programmatischer Text Die Zeit und der Andere4.4. Die Erotik des geschlechtlichen Paares als Modell von Alterität4.5. Die Vorgängigkeit des Anderen4.6. Von der Intimität zur Allgemeinheit des Anderen

 5. Bernhard Waldenfels: Fremdheit in der Moderne5.1. Überblick und Einführung5.2. Der Stachel des Fremden. Frage und Antwort5.3. Die Figur der Verflechtung5.4. Das Fremde als Springpunkt von Erfahrung5.5. Aneignung und Enteignung

 6. Georg Simmel und Alfred Schütz: Fremdheit in soziokulturellen Bezügen und in der Lebenswelt. Mit einem Exkurs zu Carl Schmitt und Werner Sombart sowie zu gegenwärtigen Ansätzen in der Soziologie6.1. Vorbemerkung6.2. Einschluss im Ausschluss: Die Figur des Fremden bei Georg Simmel6.3. Der Fremde als Feind: Carl Schmitt6.4. Die Funktion des Fremden im Eigenen: Werner Sombart6.5. Der Fremde als Ankommender: Alfred Schütz6.6. Beiträge zur sozialen Konstruktion des Fremden in der gegenwärtigen Soziologie (1): Rudolf Stichweh6.7. Beiträge zur sozialen Konstruktion des Fremden in der gegenwärtigen Soziologie (2): Kai-Uwe Hellmann Fremdheit als soziale Konstruktion

 7. Ich ist ein Anderer (Rimbaud). Das gespaltene Ich: Jacques Lacans Theorie des Spiegelstadiums7.1. Vorbemerkung7.2. Vom doppelten Ich zum Spiegelstadium

 8. Imagologie: Von der Aachener Schule zu Edward Said und Homi K. Bhabha8.1. Imagologie als Methode und Teildisziplin der Vergleichenden Literaturwissenschaft8.2. Edward Said: Orientalism8.3. Homi Bhabha: ‚Hybridität‘ und Dritter Raum8.4. Die Frage des Anderen. Homi Bhabhas Konzept von Fetisch und Mimikry

 9. Dekonstruktion: Derrida und Nancy9.1. Jacques Derrida: Das fremde Tier, der Mensch9.2. Jean-Luc Nancy: Der Fremde als Eindringling

 10. Differenz und Fremdheit der Geschlechter10.1. Das andere Geschlecht. Diskurslinien nach Beauvoir10.2. Luce Irigaray: Das Geschlecht, das nicht eins ist10.3. Das weibliche Gefäß als Gestaltungsprinzip: Der Ort, der Zwischenraum10.4. Weiblichkeit als Maskerade: Joan Riviere

 11. Das Fremdwerden des Eigenen. Theorien der Entfremdung11.1. Karl Marx, Die Pariser Manuskripte11.2. Nach Heidegger und Marx: Günther Anders’ Diagnose der Weltfremdheit des Menschen

 12. Die Übersteigerung des Fremden: Das Phantastische, das Wunderbare, das Unheimliche12.1. Diskursbegründung: Tzvetan Todorov12.2. Liminalität des Fremden: Das Phantastische

 13. Übersetzung als Agentur von Fremdheit und Differenz: Benjamin, Steiner, Buden13.1. Von der Unübersetzbarkeit des fremden Textes: Benjamin13.2. Nach Benjamin13.3. Im Turm zu Babel: George Steiner13.4. Boris Buden: Kulturelle Übersetzung und ‚dritter Raum‘

 BibliographieNachweiseEingangszitatAbbildungen

  Personenregister

  Sachregister


PROFESSOR: So! – Wir haben also in der letzten Unterrichtsstunde über die Filzpantoffel gesprochen und behandeln heute das Hemd. Wer von euch weiß zufällig einen Reim auf „Hemd“?
VALENTIN: Auf Hemd reimt sich „fremd“.
PROFESSOR: Sehr gut! Und wie heißt die Mehrzahl von „fremd“?
VALENTIN: Die Fremden.
PROFESSOR: Jawohl, die Fremden. – Und aus was bestehen die Fremden?
VALENTIN: Aus „fremd“ und aus „den“.
PROFESSOR: Sehr gut! – Und was ist ein „Fremder“?
VALENTIN: Fleisch – Gemüse – Mehlspeisen – Obst usw.
PROFESSOR: Nein! – Nein! – Nicht was er ißt, sondern was er tut.
VALENTIN: Er reist ab.
PROFESSOR: Sehr richtig! – Er kommt aber auch an – und ist dann ein Fremder. – Bleibt er dann für immer ein Fremder?
VALENTIN: Nein! – Ein Fremder bleibt nicht immer ein Fremder.
PROFESSOR: Wieso?
VALENTIN: Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.
PROFESSOR: Das ist nicht unrichtig. – Und warum fühlt sich ein Fremder nur in der Fremde fremd?
VALENTIN: Weil jeder Fremde, der sich fremd fühlt, ein Fremder ist, und zwar so lange, bis er sich nicht mehr fremd fühlt – dann ist er kein Fremder mehr.
PROFESSOR: Ausgezeichnet! – Wenn aber ein Fremder schon lange in der Fremde ist, ist das dann auch ein Fremder? Oder ist das ein Nichtmehrfremder?
VALENTIN: Jawohl, das ist ein Nichtmehrfremder; aber es kann diesem Nichtmehrfremden – unbewußt – doch noch einiges fremd sein.
PROFESSOR: Was zum Beispiel?
VALENTIN: Den meisten Münchnern zum Beispiel ist das Hofbräuhaus nicht fremd – hingegen ihnen die meisten Museen fremd sind.
PROFESSOR: Sehr richtig! – Dann kann also der Einheimische in seiner eigenen Vaterstadt zugleich noch ein Fremder sein. – Es gibt aber auch Fremde unter Fremden! Wie verstehen Sie das?
VALENTIN: Fremde unter Fremden sind – so wie ich mir das vorstelle wenn Fremde mit dem Zug über eine Brücke fahren und ein anderer Eisenbahnzug mit Fremden unter derselben durchfährt, so sind die durchfahrenden Fremden – Fremde unter Fremden, was Sie, Herr Professor, wahrscheinlich nicht so schnell begreifen werden.
PROFESSOR: Leicht fällt es mir nicht! Aber nun wieder zum Thema. – Und was sind „Einheimische“?
VALENTIN: Einheimische sind das Gegenteil von Fremde. Aber dem Einheimischen sind die fremdesten Fremden nicht fremd – er kennt zwar den Fremden persönlich nicht, merkt aber sofort, daß es sich um einen Fremden handelt, beziehungsweise um Fremde handelt; zumal, wenn diese Fremden in einem Fremdenomnibus durch die Stadt fahren.
PROFESSOR: Wie ist es nun, wenn ein Fremder von einem Fremden eine Auskunft will?
VALENTIN: Sehr einfach. – Frägt ein Fremder in einer fremden Stadt einen Fremden um irgend etwas, was ihm fremd ist, so sagt der Fremde zu dem Fremden: „Das ist mir leider fremd, ich bin hier nämlich selber fremd.“
PROFESSOR: Das Gegenteil von fremd ist bekannt. Ist Ihnen das klar?
VALENTIN: Eigentlich ja! Denn, wenn zum Beispiel ein Fremder einen Bekannten hat, so muß ihm dieser Bekannte zuerst fremd gewesen sein – aber durch das gegenseitige Bekanntwerden sind sich die beiden nicht mehr fremd. Wenn aber diese beiden Bekannten zusammen in eine fremde Stadt reisen, so sind diese zwei Bekannten dort für die Einheimischen wieder Fremde geworden. – Sollten sich diese beiden Bekannten hundert Jahre in dieser fremden Stadt aufhalten, so sind sie auch dort den Einheimischen nicht mehr fremd.

(Karl ValentinValentin, Karl, Die Fremden)

 

Habent sua fata libelli. Dieses Buch hat wie jedes andere auch seine GeschichteGeschichte, in diesem Fall einen ‚Vorlauf‘ in Vorträgen, Vorlesungen, Kursen und Seminaren, die ich im Verlauf der letzten fünfzehn Jahren etwa an der Universität Wien, an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und an der Diplomatischen Akademie (ab)gehalten habe. Erwähnt seien in diesem Zusammenhang auch das 2013 entstandene Netzwerk AKA (Arbeitskreis KulturanalyseKulturanalyse), die Internet-Plattform Kakanien revisitedKakanien revisited, meine PhD/Master-Seminare, die zahlreichen Gespräche im RahmenRahmen des fakultären Forschungsprojektes Broken Narratives (2011–2014), die Kollegenschaft am Institut und in der Abteilung sowie die Arbeitsgruppe Kulturwissenschaften/Cultural StudiesCultural Studies an der Universität Wien.

Von den vielen Gesichtern von Kollegen und Kolleginnen, von Freundinnen und Freunden, die dabei vor meinem inneren Auge auftauchen, möchte ich besonders meinen langjährigen Weggefährten Clemens RuthnerRuthner, Clemens, der das Rohmanuskript studiert und kommentiert hat, und meine Mitarbeiterin Johanna Chovanec namentlich erwähnen. Sie hat im RahmenRahmen eines Stipendiums der Stadt Wien das Buch nicht nur lektoriert und es mit Index und Bibliographie versehen, sondern intensiv mit dem Verfasser über Inhalt und Gestaltung diskutiert. Ihre unbeirrbare Genauigkeit, ihr Engagement und ihre Offenheit waren eine unschätzbare Hilfe. Ich möchte mich bei ihr und Clemens Ruthner ganz herzlich und ausdrücklich bedanken. Bedanken möchte ich mich auch bei Silvia Stoller und Mauro Ponzi, die mir wichtige Ratschläge gegeben haben.

1. Begriffsklärungen: Fremd, andersAndersheit, ausländischausländisch
1.1. Die Relationalität des Fremden

Die Beschäftigung mit der Figur des Fremden gehört seit mehreren Jahrzehnten zum unverzichtbaren Bestandteil gegenwärtiger kultureller, sozialer sowie politischer DiskurseDiskurs und Debatten. PhänomenePhänomen wie MigrationMigration, KulturtransferKulturtransfer und globale MedialitätMedialität im Bereich von KommunikationKommunikation und InformationInformation, die allesamt ein verändertes Verhältnis von FremdheitFremdheit und HeimatHeimat implizieren, halten diese Aktualität wach. All die hier erwähnten soziokulturellen Veränderungen führen dazu, dass die Fremdheit im ‚traditionellen‘ exotischen Sinne, wie wir sie aus den ethnographischen Diskursen der NeuzeitNeuzeit kennen, im Rückzug begriffen sein könnte oder, wie ich an anderer Stelle schrieb, zum raren Gut geworden ist, während in der ‚eigenenEigentum‘ KulturKultur Fremdheit auf paradoxe Weise wächst.1 NichtsNichts spricht selbst in einer für Mode und Trends so anfälligen Kultur dafür, dass sich dies bald ändern wird. Es scheint, als ob mit der sich verändernden Figur des Fremden jene kulturelle DynamikDynamik beschrieben wird, die heute Gegenstand kulturwissenschaftlicher Forschungen ist: Migration, TransferTransfer, inter- und transkulturelletranskulturell Beziehung in einer global gewordenen WeltWelt.

Zu dieser Entwicklung gehört auch, dass die Bedeutungen des Fremden wie auch des Eigenen im WandelWandel begriffen sind. Oft erweist sich das Fremde nämlich verdeckt als Teil des Eigenen: Dieser Ansatz wird von verschiedensten Denktraditionen – von der PsychoanalysePsychoanalyse über die PhänomenologiePhänomenologie bis zu den Cultural StudiesCultural Studies – verfolgt und verändert sowohl unser Verständnis jenes scheinbar so vertrackten Fremden, das sich dadurch bestimmt, dass es sich uns entzieht, als auch unsere Vorstellung des uns scheinbar so Vertrauten, dass sich durch die Amalgamierung mit FremdheitFremdheit plötzlich in ein Vexierbild unserer selbst verwandelt. In jedem Fall scheint es nicht angebracht, Fremdes und Eigenes, oder auch Fremde und HeimatHeimat als binäre Oppositionen zu begreifen, sondern als Pole einer unaufkündbaren RelationRelation und damit als Teil des kulturellen Prozesses, der sich Georg SimmelSimmel, Georg zufolge durch Wechselwirkungen wie VerbindenVerbinden und TrennenTrennen, durch EinschlussEinschluss und AusschlussAusschluss bestimmt.2 Mit diesem Verweis wird gleichzeitig deutlich, wie LiminalitätLiminalität und AlteritätAlterität miteinander verwoben sind. Denn ohne jene ausschließenden wie verbindenden Grenzformationen und -konstruktionen, ohne die Abhängigkeitsbeziehung von Fremdem und Eigenem, von ÖffnungÖffnung und SchließungSchließung und von wechselseitigem AustauschAustausch sind PhänomenePhänomen des Alteritären nicht denkbar. Was vom einzelnen aus betrachtet jenseits einer bestimmten, oftmals unsichtbaren GrenzeGrenze angesiedelt ist, das ist eben das Fremde, das jedoch so beweglich und veränderlich ist wie all jene GrenzprozedurenGrenzprozeduren, die SicherheitSicherheit und VerbindungVerbindung ermöglichen: vom persönlichen Augenschein über Öffnungsmodalitäten und Identitätsnachweise bis zu zeitlichen Beschränkungen, die Grenze zu überschreiten. Mit Simmel lassen sie sich als ein SystemSystem von Öffnungen und Schließungen ansehen. Der deutschedeutsch Philosoph und SoziologeSoziologe hat dieses Wechselspiel als charakteristisch für das Phänomen KulturKultur überhaupt gesehen. Simmel beschreibt den MenschenMensch kulturanthropologisch als „das verbindende Wesen […], das immer trennen muß und ohne zu trennen nicht verbinden kann […]“.3 Was ‚fremdfremd‘ und was ‚eigenEigenheit‘ ist, das ist in höchstem Maße kontextabhängig, das heißt von den jeweiligen Mustern des Teilens und Zusammenführens bestimmt. In diesem Zusammenhang ist die Unterscheidung davon abhängig, wo ich mich befinde. Wenn ich mich etwa auf einem anderen Erdteil befinde, dann schmilzt meine binneneuropäische sprachliche oder ethnischeEthnie DifferenzDifferenz womöglich sehr schnell zusammen. Oder andersAndersheit ausgedrückt: Die Figur des Fremden widersetzt sich jedweder SubstanzialisierungSubstanzialisierung. Jeder und jede von uns kann in einer bestimmten Situation, Beziehung oder Konstellation zum Fremden bzw. zur Fremden werden. Kulturwissenschaftlich betrachtet, unterliegen Phänomene wie NäheNähe und DistanzDistanz kulturellen Gegebenheiten, die sich ungeachtet mannigfaltiger Festlegungsversuche nicht ein für allemal fixieren lassen.

Der französische Philosoph François JullienJullien, François hat in diesem Zusammenhang die komplexe Struktur eines dialektischenDialektik Umschlages von FremdheitFremdheit und ‚EigenheitEigenheit‘ am Beispiel des PhänomensPhänomen der IntimitätIntimität herausgearbeitet. Er unterscheidet zwei Bedeutungen des französischen Wortes intimeintim: den Abschluss des/der Einzelnen vor seiner/ihrer Umgebung und die VerbindungVerbindung mit einem anderen MenschenMensch, mit dem man einen gemeinsamen intimen ‚Raum‘ stiftet. Die ÖffnungÖffnung hin zum Anderen erfolgt aber genau in jener Zone, in die sich das IndividuumIndividuum zurückzieht.4

1.2. FormenForm des Alteritären

Diesem Buch liegt die Kernthese zugrunde, dass sich der Begriff des ‚Fremden‘ ebenso wie jener der ‚KulturKultur‘, mit dem er auf unkündbare Weise verbunden ist, nicht eindeutig definieren lässt. In diesem Zusammenhang wird im vorliegenden Werk auf verschiedene Bedeutungsschattierungen eingegangen, die für die KulturanalyseKulturanalyse von außerordentlichem Belang sind.

FremdheitFremdheit und EigenheitEigenheit funktionieren in diesem Verständnis nicht länger im Sinn eines Gegensatzes oder einer Gegenüberstellung, bleiben doch beide Termini stets aufeinander verwiesen. Im vorliegenden Buch wird deshalb der Begriff der AlteritätAlterität, der die Verknüpfung von Fremdheit und Eigenheit als Prozess und ErfahrungErfahrung in eins fasst, in den Vordergrund gerückt. Das von dem lateinischenlateinisch Adjektiv ‚alter‘ abgeleitete Substantiv, das sich auch als AndersheitAndersheit bezeichnen lässt, beschreibt die abstrakteste und zugleich philosophische FormForm von ‚Fremdheit‘, eine Form, die noch ganz ohne Prädikat auskommt. Die Alterität umfasst alle Formen eines Außerhalbs meiner SelbstSelbst, wobei dieses Andere auch durch die KonstitutionKonstitution und KonstruktionKonstruktion dieses Außerhalbs bestimmt wird. So lässt sich mit der PsychoanalysePsychoanalyse fragen, ob das ‚UnbewussteUnbewusste‘ etwas (in) mir Fremdes ist.

AlteritätAlterität umfasst also verschiedene, sich überlagernde Phänomenlagen. Ich möchte provisorisch drei benennen. Viele europäische SprachenSprache kennen diese Unterscheidungen und Nuancen, die keineswegs trennscharf sind und sich immer wieder irritierend überlagern. Aber in den germanischengermanisch wie in den romanischenromanisch und slawischenslawisch Sprachen wird, wie unscharf auch immer, zwischen dem/der AusländerAusländer (the foreigner), dem/der Fremden (the stranger) und dem/der Anderen (the other) unterschieden. Im Titel eines berühmten Lieds von Frank SinatraSinatra, Frank, ‚Strangers in the Night‘, lassen sich die strangers, die Fremden, nicht durch die Ausländer (foreigners) oder gar durch die Anderen (others) substituieren. Das LiebespaarLiebespaar, das hier besungen wird, ist einander so verheißungsvoll fremdfremd und unbekanntunbekannt wie dem männlichenmännlich lyrischen Ich die NachtNacht und die damit verbundenen KonnotationenKonnotation: ErosEros, DunkelheitDunkelheit, Unbewusstes, IntimitätIntimität, GrenzüberschreitungGrenzüberschreitung. Die beiden begegnen einander als Fremde an einem unbekannten OrtOrt.1

 

Im Begriff der Fremden schwingt ein Moment mit, wonach diese aus der Perspektive der Einheimischen als unbekanntunbekannt wahrgenommen werden. Sie lassen sich nicht wirklich einordnen, sie beinhalten ein Moment der Störung, wohl auch deshalb, weil sie sich innerhalb des ‚eigenenEigentum‘ Raums der ‚anderen‘ befinden. Im Deutschen wie in anderen SprachenSprache ist das Fremde mit dem Unbekannten (im TschechischenTschechisch ist der Unbekannte neznámy, im KroatischenKroatisch neznanac)2, ja sogar mit dem UnheimlichenUnheimliche, das verschwägert. Das Beunruhigende am Fremden ist also nicht nur, dass es nicht ‚zu uns‘ gehört, sondern, dass man nicht weiß, wohin es überhaupt gehört. Insofern negiert das Fremde den vertrauten Zustand der ‚HeimatHeimat‘.

Ungleich stärker als die beiden anderen Phänomenlagen von AndersheitAndersheit trägt das Fremde auch das Moment der IrritationIrritation und der FurchtFurcht mit bzw. in sich, das etwa durch die Betrachtung und Wahrnehmung von BehinderungBehinderung, KrankheitKrankheit oder deviantem AussehenAussehen (GesichtGesicht, KörperKörper, HaarfarbeHaarfarbe) ausgelöst wird. Diese FremdheitFremdheit ist asymmetrischAsymmetrie: Der kulturell ‚normalenormal‘ MenschMensch wehrt das als abweichend wahrgenommene Gegenüber ab, möchte ihm nicht gleichen und hat AngstAngst, er/sie könnte auch so krank oder entstellt werden wie das Vis-à-vis. Für den als befremdlich stigmatisierten Menschen kommt zur Last des ‚unheimlichenunheimlich‘, fremdenfremd LeidensLeiden oder der AbweichungAbweichung einer wie auch immer gearteter NormNorm, jene sozio-kulturelle MarginalisierungMarginalisierung, die sich durch die negative FixierungFixierung von Krankheit, Behinderung und physischer Devianz ergibt. Nirgends tritt der radikale AusschlussmechanismusAusschlussmechanismus so drastisch zutage wie in diesem Fall. Es ist kein Zufall, dass sich der RassismusRassismus jedweder Couleur an körperlicher DifferenzDifferenz entzündet hat.

Ausländisch – das Adjektiv klingt im Gegensatz zu ‚andersAndersheit‘ und ‚fremdfremd‘ etwas holprig – hat demgegenüber eine klare liminale und häufig nationalstaatlichenationalstaatlich Zuordnung: Der AusländerAusländer bzw. die Ausländerin befindet sich, symbolisch markiert, auf der anderen Seite. Im TschechischenTschechisch kommt diese KonnotationKonnotation sehr schön zum Ausdruck: ‚zahraniční‘ bedeutet nämlich ‚hinter der GrenzeGrenze‘. Der Ausländer befindet sich jenseits des eigenenEigentum Raumes. Das heißt aber auch, dass er durch die GrenzziehungGrenzziehung explizit markiert ist.3 Auf jeden Fall gehört der ausländischeausländisch MenschMensch nicht zur jeweils ‚eigenen‘ heimischen nationalennational und regionalenregional GemeinschaftGemeinschaft, nicht, weil man ihn oder sie nicht kennt, sondern gerade, weil man ihn oder sie zu kennen glaubt und weil er/sie sich von uns sichtbar wie hörbar unterscheidet. Im Gegensatz zum Fremden, der, wie Georg SimmelSimmel, Georg und Alfred SchützSchütz, Alfred gezeigt haben, Teil eines kulturellen SystemsSystem ist und darin, vom SündenbockSündenbock bis zum SchiedsrichterSchiedsrichter, eine Rolle einnehmen kann, bleibt der Ausländer, dessen Aufenthalt im ‚eigenen‘ kulturellen RaumRaum (kulturell) nicht nur zeitlichen Restriktionen unterliegt, außerhalbAußerhalb eines gegebenen kulturellen Systems. Der ausländische Mensch, zum Beispiel der Nachbar eines angrenzenden Staates, hat zumindest ein Prädikat, er ist, etwa im Tschechischen, ein Deutscher, ein němec, nämlich jemand, der nicht die eigene – ‚unsere‘ – SpracheSprache spricht.

An dieser Stelle ist ein Seitenblick auf Figuren von ‚ausländischerausländisch‘ AlteritätAlterität erhellend, wie sie zum kulturellen Alltag gehören. Der modernemodern TouristTourist ist ein zeitweiliger Besucher eines anderen Landes, einer anderen KulturKultur. Er ist ein AusländerAusländer, der sich zeitlich befristet, unter bestimmten Auflagen und womöglich auch örtlich beschränkt in einem fremdenfremd Land aufhält. Für eine kurze ZeitZeit wird der Ausländer zum Fremden in einem bestimmten Land, in einem AuslandAusland. Er ist nicht zuletzt willkommen, weil er für diesen Aufenthalt bezahlt.

Der GastGast wiederum, dessen kulturelle Existenz mit dem PhänomenPhänomen der Gabe und des GeschenksGeschenk verwandt ist, kommt auf eine EinladungEinladung in ein anderes Land bzw. in eine andere Region. Zur LogikLogik der Gabe gehört indes, dass diese nicht nur angenommen, sondern erwidert wird.4 Insofern etabliert die Figur der GastfreundschaftGastfreundschaft eine interkulturelleinterkulturell Beziehung zwischen dem jeweiligen In- und dem jeweiligen AuslandAusland. Als offizieller Repräsentant des jeweils anderen Landes kann er sich an einem bestimmten extraterritorialen OrtOrt aufhalten, etwa in einer Botschaft.

Die dramatischste Figur unserer Tage ist indes der FlüchtlingFlüchtling (im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention), jener fluchtsuchende MenschMensch, der aus unterschiedlichsten Gründen vom AuslandAusland her kommend, die GrenzenGrenze zu einem anderen Land überschreitet. Es kann die Absicht bestehen, in diesem neuem Aufenthaltsort zu bleiben. Anders als der klassische AusländerAusländer, TouristTourist, GastGast oder DiplomatDiplomat, ist sein Aufenthalt also nicht zeitlich begrenzt. Das Telos seines Ankommens ist, einen Platz in einem für ihn bis dato unbekanntenunbekannt kulturellen RaumRaum (kulturell) zu finden. SelbstSelbst wenn dies gelingt, wird er wohl bis zu einem gewissen Grad ein Fremder bleiben, auch wenn er jenen Pass erhält, der ihm bescheinigt, kein Ausländer mehr zu sein.

Noch komplizierter erweist sich die abstrakte Kategorie des Anderen, für die das TschechischeTschechisch – neben jiny (das sich auf das Neutrum ‚andersAndersheit‘ bezieht) – das Wort druhy, das KroatischeKroatisch das verwandte drugo verwendet, das in der Nebenbedeutung der/die/das zweite als KonnotationKonnotation in sich trägt. Das heißt der Andere hängt damit zusammen, dass ich nicht allein auf dieser WeltWelt bin. Dieser Andere ist aber keineswegs, wie noch zu zeigen sein wird, irgendein kulturell Fremder, sondern ergibt sich daraus, dass er ein Zweiter/eine Zweite/ein Zweites ist, der/die/das mir gegenübertritt. Er/sie/es ist übrigens, um an dieser Stelle die geschlechtliche DifferenzDifferenz ins SpielSpiel zu bringen, nicht unbedingt sexuell markiert. Diese ZweiheitZweiheit, diese DualitätDualität der Andersartigkeit, ist geradezu dadurch bestimmt, dass in ihr und in dem durch sie geschaffenen Zwiespalt die konkrete symbolische Bestimmung als Eigenschaft nicht existiert. Deshalb ist es, dem feministischen Einspruch und Impuls folgend, problematisch, diesem unbestimmten Pronomen eine männlichemännlich Markierung – ‚der andere‘ – zu geben. Aber die männliche durch eine weiblicheweiblich zu substituieren oder ihr diese zur Seite zu stellen, würde diesem subtilen Sachverhalt der AlteritätAlterität als Zwiespalt nicht gerecht, sondern suggerierte höchst missverständlich und irreführend, dass Alterität maßgeblich mit der Dualität von MännlichkeitMännlichkeit und WeiblichkeitWeiblichkeit einhergeht. Dies ist, aus der Perspektive dieses Buches, nicht der Fall. Dennoch kann der/die/das Andere etwas sein, das weder im herkömmlichen Sinn unbekanntunbekannt noch ausländischausländisch und exterritorialExterritorialität, das heißt Teil einer anderen KulturKultur, sein muss.

In dem kurzen Versuch, die drei relativen Unterscheidungen fremdfremd, andersAndersheit und ausländischausländisch voneinander abzugrenzen und zugleich miteinander zu verbinden, wird deutlich, dass die Zuschreibung von FremdheitFremdheit immer die Tendenz in sich trägt, diesem oder dieser Fremden den Status des/der (gleichberechtigten und respektierten) Anderen abzusprechen. Das gilt für sexistische wie für rassistische DiskurseDiskurs fast gleichermaßen. Den/die oder das Andere zu respektieren inkludiert einen Akt wechselseitiger AnerkennungAnerkennung, bei dem weder eine positive noch einer negative Differenzsetzung eine Rolle spielen. Einem MenschenMensch5 wegen seines GeschlechtsGeschlecht, seiner sexuellen Orientierung, seiner spezifischen SpracheSprache, seiner jeweiligen ReligionReligion oder seiner unverkennbaren HautfarbeHautfarbe besondere Zuwendung zu erweisen, ihn also positiv zu diskriminieren, widerspricht einer generellen Respektierung. In dieser steht Anerkennung in keiner AbhängigkeitAbhängigkeit von solchen kulturellen und ‚natürlichen‘ Eigenschaften und ist von keinem exklusiven Verhältnis abhängig.

Die AlteritätAlterität als radikale AndersheitAndersheit beinhaltet, wie in den Kapiteln über die Philosophie Bernhard WaldenfelsWaldenfels, Bernhard’ und Emmanuel LévinasLévinas, Emmanuel’ gezeigt wird, eine unmissverständliche ethischeEthik Option und Herausforderung. Sie schließt nicht nur eine AnerkennungAnerkennung des Anderen als Anderer meiner selbst ein, sondern akzeptiert auch den existential-ontologischenOntologie Sachverhalt von dessen VorgängigkeitVorgängigkeit gegenüber meinem SelbstSelbst. Sie basiert auf einem komplexen EinschlussEinschluss (→ Kapitel 4).

Demgegenüber sind die beiden anderen Phänomenlagen, jene des (unbekanntenunbekannt) Fremden und des exterritorialenExterritorialität Anderen, immer schon von einer FormForm dauerhaften AusschlussesAusschluss und potentieller Diskriminierung begleitet. Freilich besteht auch hier die Möglichkeit einer Korrektur. So läuft die psychoanalytische Denkfigur, wie sie Julia KristevaKristeva, Julia entwickelt hat, darauf hinaus, das Unbekannte in uns, das UnbewussteUnbewusste, zu akzeptieren und damit potentiell auch das Fremde außerhalbAußerhalb unserer selbst (→ Kapitel 3).

Die sexuelle DifferenzDifferenz, um kurz auf sie zu sprechen zu kommen, lässt sich dieser Argumentation zufolge ausschließlich vor dem Hintergrund des alteritärenAlterität PhänomensPhänomen der FremdheitFremdheit / UnbekanntheitUnbekanntheit analysieren und begreifen. Die Alterität des Anders-SeinSeins im Sinne der ZweiheitZweiheit übersteigt die sexuelle Differenz, weil die abstrakte RelationRelation der AndersheitAndersheit auf kein Prädikat, so auch nicht auf die Zuschreibung des Geschlechtlichen (männlichmännlich, weiblichweiblich, ‚hybridHybrid‘ bzw. ‚transgendertransgender‘) bezogen ist. Die Alterität des Ausländischen wiederum ist für die geschlechtlichen Differenzen nur dann von Belang, wenn sexuelle und kulturelle Andersheit miteinander ge- und verkoppelt sind. Es mag zudem OrteOrt geben, an denen sich Frauen, metaphorisch gesprochen, in einem männlichen ‚AuslandAusland‘ befinden. Damit ist gemeint, dass es ethnologisch gesprochen in allen KulturenKultur spezifische und exklusive ‚subkulturelle‘ Orte, Räume und Treffpunkte der beiden GeschlechterGeschlecht gibt. Illustrativ ist in diesem Zusammenhang der im Post-68er FeminismusFeminismus einflussreiche MythosMythos vom fremdenfremd Volk der Frauen, den Amazonen, in dem der Unterschied der sexuellen und der ethnischenEthnie Differenz enggeführt bzw. sistiert wird. Aber dabei handelt es sich ganz offenkundig nicht um eine kulturgeschichtliche Tatsache, sondern um ein ganz besonderes gegenweltliches, ja phantasmatisches NarrativNarrativ, das der GegenwartGegenwart entzogen bleibt oder eine negativ besetzte männliche AngstAngst-UtopieUtopie darstellt.6