Pforte des Todes

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Pforte des Todes
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Pforte des Todes

Impressum

Prolog

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Willi Voss

Pforte des Todes

Thriller

XOXO Verlag

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://www.d-nb.de abrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-176-4

E-Book-ISBN: 978-3-96752-676-9

Copyright (2020) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung: Grit Richter, XOXO Verlag

unter Verwendung des Bildes: 1032933763

von www.shutterstock.com

Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Trotz der herrschenden Sucht, Verschwörungstheorien zu stricken, versichere ich, dass die Fakten und Schauplätze dieses Buches über Jahre sehr sorgfältig recherchiert worden sind, aber die handelnden Personen, sofern sie keinen geschichtlichen Bezug haben, einzig und alleine aus der Logik und Fantasie des Autors gestaltet wurden. Aber durchaus mit dem Ziel, Glauben zu hinterfragen. Zu Toten und Lebenden wären Bezüge dem Zufall geschuldet und nicht beabsichtigt.

- Willi Voss

Für Rheinhardt Raoul

Prolog

Starr, dem Klang seines pfeifenden Atems lauschend, witterte Jakob in die Dunkelheit, als könnte er dort finden, was seiner jäh abgeschnittenen Erinnerung entglitten war. Die letzten Bilder aus der Wirklichkeit waren der erhobene Arm, die Dämonenmaske, hinter der sich das Gesicht des Angreifers verborgen hatte. Und der schwarze Phallus, der sein Bewusstsein ausgeschaltet hatte.

Ein Rauschen wie entfernt fallender Regen drang zu ihm. Das Gefühl, aus wachsamen Augen beobachtet zu werden, kroch wie Frost in seine Seele. Bildfetzen stürmten auf ihn ein. Er sah sich auf einem geflügelten Pferd. In der linken Faust einen goldenen Speer, in der rechten einen eisernen Schild. Er ritt schwebend an riesigen Bäumen vorbei auf weißes Licht zu, aus dem auf einer gleißenden Scheibe ein bärtiger Kopf ragte.

Kein Blut.

Die Augen waren Aufmerksamkeit erzwingende Lichter voller Anteilnahme und - wie er fand - Liebe.

Er lag in einem dunklen Raum. Entfernt schimmerte in einem viereckigen Ausschnitt orangenes Licht. Es kam von draußen, von einer Straßenlaterne, deren Anblick ihm vertraut war.

Schritte klangen auf.

In Erwartung eines weiteren Schlages spannten sich seine Muskeln. Eisige Schauer ergossen sich über ihn. Sie lähmten ihn, während sein Kopf erneut das tanzende Gesicht der Dämonenmaske und des herab sausenden schwarzen Knüppels projizierte.

Er richtete sich auf, schwankte, fühlte sich, als hätte er eine schwere Last auf den Schultern. Er taumelte in das Dunkel hinein und stieß gegen einen Stahlrohrstuhl. Er hielt sich an der Lehne fest, kniff die Augen zusammen, als das Deckenlicht aufflammte. Er sah sich in einer mit Stühlen vollgestellten Doppelgarage, an deren Wänden dunkelblaue Samtvorhänge drapiert waren. Er begriff im nächsten Augenblick, dass es seine eigene war.

Er bemerkte das erstaunte Gesicht einer Frau. Ihre Blicke glitten über den am Kopfende errichteten, von zwei Alabastersäulen getragenen Altarstein, hinter dem unter einer leuchtenden Sonnenscheibe an Pharaonen erinnernde Gestalten anbetend einer seltsamen Vogelfigur huldigten, die über einem mumienhaften Körper schwebte.

»Ein Unfall«, erklärte Jakob wie unter Zwang. »Ich bin ausgeglitten.« Er versuchte ein Lächeln. »Haben Sie mit dem Ingenieursbüro zu tun?«

»Ich halte das alles sauber«, sagte die Frau.

»Herzlichen Dank. Falls ich mich erkenntlich zeigen kann?«

»Um Gotteswillen.

Wie auf Kommando verließ die Frau die Garage und wenig später das Grundstück.

Offensichtlich war er nur am Hals getroffen worden. Genau in jenem Augenblick, als er die zum Andachtsraum umgewandelte Doppelgarage betreten hatte. Sicher war er, in den Schlitzen der Maske hellbraune, erschreckte Augen gesehen zu haben. Er tastete die Jacke ab, spürte die Brieftasche in Höhe des Herzens, zog sie heraus und prüfte den Inhalt. Ausweis, Führerschein, Bank- und Kreditkarten, Tankbelege, ein Parkschein aus der Rintelner Innenstadt. Alles war an Ort und Stelle. Jetzt mit seinen blutnassen Fingerabdrücken versehen.

 

Benommen ging er ins Haus und ins Badezimmer. Er fand den Verbandskasten, wankte an den Spiegel und erschrak. Er starrte gegen eine samtene, schwarze Fläche. Er griff zu und spürte weiches Tuch, erinnerte sich, den Spiegel selbst verhangen zu haben. Er riss das Tuch herunter und betrachtete sich.

Sein Haar hing in feuchten Strähnen herab. Die Augen lagen in dunklen Höhlen. Vom Kinn aus schwoll das Fleisch in einer breiten Spur bis zum linken Halsmuskel.

Jakob stöhnte, ließ das Wasser laufen, schaffte es nicht, den Kopf unter den Wasserhahn zu senken. Er mühte sich in die auf der anderen Seite stehende Badewanne und öffnete das Duschventil. Er blieb sitzen, bis nur noch ein dünner Blutfaden vom Hals in den Abfluss lief. Er kroch wieder heraus, entledigte sich mühsam seiner Kleider, hüllte sich in ein Badetuch, trocknete mit Papiertüchern die Wunde und versorgte sie in unendlicher Langsamkeit. Das Aufkleben des breiten Pflasters brachte ihn zum Schwitzen und seine Hände zum Zittern. Einer Ohnmacht nahe, wankte er ins Schlafzimmer, torkelte an Videokamera, Monitoren und Ordnern vorbei auf das Doppelbett zu und fiel erschöpft mit dem Gesicht voran hinein.

Er roch den Duft eines aus dem Laken aufsteigenden Parfums, das die Erinnerung an ein verzückt lachendes Mädchengesicht und schwellende Brüste in ihm weckte. Er hatte das Gefühl, sich auf einer Scheibe zu drehen, tauchte in ein diffuses Dunkel und flog davon, einem Licht entgegen, aus dem stolz ein weißes Pferd galoppierte und ihn mit magischer Kraft erneut durch diesen hintergründig erleuchteten Hohlweg trug. Auf ein riesiges Gebäude zu, das im Schatten des Hintergrunds zu erkennen war. Voraus dieser glatt abgeschnittene Kopf mit den gütigen Augen, in der warmfeuchten Nachtluft eine stille Musik, als wenn filigrane Gläser aneinander klirrten und - einen jähen Schrecken auslösend - ein Schrei und eine Störung, die von einem auf ihn zu stürzenden verzerrten Gesicht ausging.

Er richtete sich auf, setzte sich auf den Bettrand.

Der Schmerz, dachte er, dieser Überfall ... Wenn ich nur wüsste, was es mit dem Pferd auf sich hat!

Es lenkte ihn.

Ein starkes Pferd mit vorgezeichnetem Weg. Der Reiter war nichts weiter als Last, abhängig von dem Willen des Tieres. Er, Jakob, war lediglich das Werkzeug und nicht der Wille gewesen.

Er zuckte wie unter einem Schlag zusammen. Er sah das Bild, das ihn im Traum so maßlos erschreckt hatte, die Gestalt hinter der Dämonenmaske, die Hand, die den schwarzen Phallus gehalten und zugeschlagen und damit das Pferd vom Weg gezwungen hatte. Und es war kein weißes, es war ein fahles Pferd gewesen. - Und fahle Pferde, wusste er, sind Boten des Todes.

Seine Augen wurden dunkel vor Sorge. Er richtete sich trotz seiner Schwäche vom Bett auf, wankte in den Flur und auf das Arbeitszimmer zu. In brutaler Klarheit stürzten nicht nur die Bilder des Überfalls auf ihn ein. Er erinnerte sich der ängstlichen Augen, sah dahinter den Mann, dem sie gehörten und wusste mit instinktiver Sicherheit dessen Absichten.

Er stieß die Tür auf, roch, noch ehe er das Arbeitszimmer betrat, den Gestank verschmorter Kabel und bemerkte den offenen Wandsafe.

Die Wertpapiere, auch die Schatulle, in der er antike Münzen aufbewahrte, waren vorhanden, doch der schwere Schlüssel für die Bergkapelle und das kostbare Medaillon fehlten.

Sein Magen rebellierte. Er fiel nach vorne, barg das nasse, heiße Gesicht in den Händen, spürte Hitze Kälte und die Wand zugleich und hatte das sichere Gefühl, eine Hand würde ihn greifen und hinabziehen in einen Schlund, die ihn wegen seines Versagens niemals mehr loslassen würde.

Kein Zweifel: Nur Deskin konnte den Kapellenschlüssel und das Medaillon an sich genommen haben. Deskin, ein erst seit wenigen Monaten zum Tempel gehörendes Mitglied, hatte nach der Abendandacht offensichtlich das Verlassen des Hauses vorgetäuscht. Er hatte sich - die Abdrücke seiner Sportschuhe waren auf dem Wannenboden abgedrückt - im Gästebadezimmer versteckt und abgewartet, bis im schräg gegenüber liegenden Andachtsraum Ruhe eingekehrt war. Er hatte sich mit der Dämonenmaske getarnt und mit dem fürchterlichen Knüppel zugeschlagen, als er, Jakob, die Garage in Richtung Wohnbereich verlassen hatte. Deskin hatte die Zeit der Bewusstlosigkeit ausgenutzt, um sich in das Arbeitszimmer zu schleichen und den Safe zu öffnen, in dem er das unersetzliche Medaillon wusste.

Jakob presste den Kopf gegen den Spiegel, spürte das kalte Glas auf der Stirn und hoffte, der stechende Kopfschmerz werde sich nach Einnahme der beiden Tabletten rasch verflüchtigen. Er tastete nach dem Wasserhahn, öffnete ihn und ließ kaltes Wasser über seine Handgelenke laufen. Seine Lippen formten Worte, ein Gebet, mit dem er um Kraft flehte, um sich auf die Suche nach dem Verbrecher machen zu können.

Tastend, als befände er sich am Rande eines Abgrundes, bewegte er sich in den Flur, ins Arbeitszimmer und stützte sich dort auf dem Schreibtisch ab. Er nahm den Hörer von der Gabel und wählte. Vierzehn Mal erklang das Freizeichen, bis sich eine verschlafene Mädchenstimme mit einem nörgelnden »bei Deskin« meldete.

»Ist Florian zu sprechen?«

»Wissen Sie, wie spät es ist?«

»Entschuldigung, aber ich muss ihn unbedingt erreichen!«

»Er ist aber nicht hier. Er musste was erledigen. Was, hat er nicht gesagt.«

»Wo kann ich ihn finden?«

»Das hat er mir nicht gesagt. Er hatte eine Verabredung, mit jemandem von der Presse und sagte, es werde sehr spät werden.«

Jakob legte auf. Der offene Safe fiel in seinen Blick. Allmächtiger, lass diesen Kelch an mir vorüber gehen! Er rieb sich das glatte Kinn. Die Haut brannte. Gib mir Kraft, gib mir Kraft! Er tastete nach seinem Hals, der noch immer wie Feuer brannte und die ihn daran erinnerte, dass er seine Kräfte schonen musste. Aber das zählte nicht, es zählte, dass Judas Deskin Verrat geübt hatte und, wenn er den Hinweis des Mädchens richtig deutete, sein Wissen zu verkaufen gedachte.

Jakob schob sich hinter den Schreibtisch, öffnete die oberste Schublade des Rollcontainers, tastete mit den Händen darin herum, bis er den kühlen Stahl eines Skalpells spürte. Er zog es heraus und steckte es ein. Er nahm die Schlüssel und verließ noch immer schwankend das Zimmer. Im lang gestreckten Flur prallte er gegen die Garderobe. Schmerz durchraste ihn. Er stützte sich an der Wand ab und schüttelte sich. Verzweiflung bemächtigte sich seiner. Er wusste, dass er es nicht alleine schaffen konnte. Schon das Autofahren war unter solchen Vorzeichen mehr als fahrlässig.

Er atmete schwer, schob sich, die Flurwand als Hilfe nutzend, ins Arbeitszimmer zurück und ließ sich hinter den Schreibtisch fallen. Er zog das Telefon an sich heran und wählte.

»Magdalena«, sagte er, als die junge Stimme sich meldete, »du weißt, dass ich dich niemals um etwas bitten würde, wenn es nicht unbedingt notwendig wäre, aber heute brauche ich dich. Kannst du bitte zu mir kommen?«

»Wird es lange dauern?«

»Ich möchte, dass Du mich fährst, und wie lange es dauern wird, kann ich noch nicht sagen.«

»Es ist, weil ich morgen früh die Reise antrete.«

»Was heißt früh?«

»Um acht.«

»Dann bist du längst wieder zu Hause. Kommst du?«

»In den Tempel?«

»Nein, nach nebenan«, sagte er. »Und beeile dich bitte.«

Sie versprach es.

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Irgendein Mitarbeiter hatte aus einem der Dienstfahrzeuge einen Klappstuhl herbeigeschafft, den Oberstaatsanwalt von Vennebeck ohne Dank, aber mit großer Skepsis auf seine Festigkeit prüfte und seufzend okkupierte. Er ließ sich von seiner Begleiterin eine Zigarre reichen und zündete sie an.

»Sonderbar«, sagte er, an Hautkommissar Reineking vorbei blickend, »finde ich lediglich Ihre ausgesprochen rege Fantasie, die diesem Fall eine ihm nicht zugehörige Dimension verleiht. Ihnen sind hoffentlich die hier am so genannten Baldachin aufgestellten Baugerüste nicht entgangen, Herr Hauptkommissar, nicht wahr?«

Er deutete auf den mächtigen steinernen Überbau, der die Kaiserskulptur schützte.

»Nein, auch die Absperrungen nicht. Wir haben sie mühsam wegräumen müssen.«

»Ein reiner Schreibtischjob wäre ihnen auch nicht recht, denke ich. Aber kommen wir zur Sache.« Von Vennebeck sog an der Zigarre. »Seit etwa fünf Jahren wird dieses famose Bauwerk - ich darf mich als Mitglied des unterstützenden Vereins outen - unter großen Opfern und leider nicht so üppigen Spenden vom Land Nordrhein-Westfalen und dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe renoviert. Auf den Gerüsten werden Sie Spuren von Wesen finden, die gewöhnlich weiße oder blaue Arbeitskleidung tragen und genau das tun, für das sie bezahlt werden: Die Schäden beseitigen, die im Laufe des letzten Jahrhunderts - es gab zwei dicke Kriege und ein Wirtschaftswunder, wie Sie sich erinnern werden - entstanden sind. Meine bescheidene, aber ich denke hinreichend begründete Frage: Haben Sie die Möglichkeit, um nicht zu sagen Wahrscheinlichkeit in Betracht gezogen, dieses Bein könnte zu einem der auf diesen Gerüsten tätigen Handwerker gehören?«

Der Rauch der Sumatra wölkte in die Nacht. Reineking hob leicht irritiert die Hände.

»Selbstverständlich werden wir im Bereich der hier tätigen Firmen nach abgängigen Personen ermitteln. Die Frage der Identifizierung ist es jedoch nicht, die mich bedrückt ...«

»Ist es Ihnen zu einfach, wenn sich herausstellt, dass da ein bemitleidenswerter Mensch, der wahrscheinlich drei schreiende Kinder und eine trauernde Witwe hinterlässt, vom Gerüst gefallen ist?«

»Danach sieht es nicht aus.«

»Wonach denn?«

»Es war kein Sturz, soviel ist sicher.«

Die Zigarre stieß auf Reineking zu.

»Und was, bittschön, ließ sich feststellen?«

»Nichts«, sagte Reineking. »Das ist unser Problem.«

Von Vennebeck hielt den Atem an. Seine Lippen wurden schmal. Die rechte Hand mit drohend ausgestrecktem Zeigefinger stieß auf den Polizisten zu. Termöhlen grinste.

»Um dieser weltbewegenden Erkenntnis willen, wollen Sie sagen, haben Sie mich aus dem wohlverdienten Schlaf geholt?«

»Ich habe nicht Sie, ich habe den diensttuenden Staatsanwalt angefordert. Und das, weil wir hier mit unseren Mitteln nicht weiterkommen.«

»Was soll ich Ihnen denn zaubern? Die Lösung des Falles?«

»Ach, hören Sie mit dem Quatsch auf«, sagte Reineking, und spürte kalte Wut in sich aufsteigen. »Wenn ich sage, wir haben nichts herausgefunden, bezieht sich das auf die Ursachen des Brandes.«

»Ihre Hausaufgaben müssen Sie schon selbst machen.«

»Ohne Ihre Zustimmung kann ich keine Experten anfordern.«

»Experten?« Oberstaatsanwalt von Vennebeck lächelte. »Trauen Sie Ihren Leuten die Bewältigung der Aufgabe nicht zu?«

»Uns fehlt nicht der Sachverstand, sondern die nötige Ausrüstung.«

Reineking hockte sich nieder, um mit dem Juristen auf gleicher Höhe zu sein. Er deutete auf den Gerichtsmediziner, der das Bein untersuchte.

»Vermutlich macht der Doktor im Augenblick die gleiche Erfahrung wie ich. Er fragt sich vergeblich, wie der Körper entzündet wurde.«

»Und wie lautet seine Antwort?« von Vennebecks Augen funkelten immer noch. »Herr Doktor?«

Medizinalrat Sczymanzik drehte sich um. »Genau darüber denke ich nach.«

»Und was bringt uns dieses Nachdenken?«

»Nicht den Hauch einer Ahnung, Herr von Vennebeck. Was ich entdecke, sind Auswirkungen, nicht Ursachen. Diese fettigen Schmauchablagerungen hier«, er deutete auf die Spuren am Sockelboden, »sind typisch für vom Feuer ausgehende Effekte. Aber nirgendwo eine Spur von Zünd- oder Brandhilfsmitteln. Was mir einfällt, ist ein Tatbestand, den ich vor kurzem bei der Bundeswehr zu begutachten hatte. Da löste sich ein Soldat im Treibgas einer Abwehrrakete auf, oder besser gesagt, er wurde auf ein Viertel seiner ursprünglichen Größe reduziert.«

 

»Ihren seligen Soldaten in Ehren, aber der liebe Gott wird doch keinen Grund haben, ausgerechnet hier Feuer vom Himmel regnen zu lassen?«

»Sie sind der Herr des Verfahrens.«

»Das ist richtig, ändert aber nichts an der dubiosen Ausgangslage, die auch eine der Zuständigkeiten ist. Bei Verdacht eines Verbrechens sollte die vielleicht kompetentere Mordkommission Bielefeld den Fall übernehmen. Ist das Ihr Ziel, Herr Hauptkommissar?«

»Sie entscheiden.«

»Will ich aber nicht!«, bellte von Vennebeck. »Ich will Klarheit. Wie sehen Sie das, Herr Doktor?«

»Ich schließe mich Reinekings Meinung an«, sagte der Arzt, irritiert von der geradezu greifbaren Spannung zwischen den beiden Männern. »Hinzuziehung von Experten, exakte Analysen, all den Kram, den wir mit unseren Steinzeitwerkzeugen nicht leisten können.«

Von Vennebeck wandte sich an Reineking.

»Gibt es irgendwelche Hinweise auf Fremdeinwirkung?«

»Keine erkennbaren.«

»Herr Doktor?«

»Nein«, sagte Sczymanzik.

Von Vennebeck biss sich auf die wulstigen Lippen.

»Wie war denn das Wetter zum wahrscheinlichen Zeitpunkt des Geschehens?«

»Beschissen«, sagte Reineking und gab Grotejohann, der noch immer hinter dem Baugerüst auf Fotosession machte, einen diskreten Hinweis, sich zu verabschieden.

»Was heißt das?«

»Nass und windig und kalt, wie es sich für den deutschen Hochsommer gehört.«

»Also Gewitter!«

»Sie glauben wohl, da wäre ein Blitz eingeschlagen, was?«, fragte der Arzt.

»War eines oder war keines?«

»Selbst wenn es gewittert hätte, Herr Oberstaatsanwalt, können Sie die Idee, in das Opfer wäre der Blitz eingeschlagen, vergessen. Gucken Sie sich den alten Kaiser an, und was die ihm tonnenschwer über ‚s Haupt gebaut haben. Nee, da kommt kein Blitz ran.«

Von Vennebeck wandte sich an Reineking. »Was also schlagen Sie vor?«

»Ich bin für die Zuziehung des LKA. Das zöge allerdings die Absperrung und das Absuchen des gesamten Denkmalgeländes nach sich.«

»Sie wollen hier alles stilllegen?«

»Ich will die Ursachen dieses Falles finden.«

»Ha ´m Sie ´ne Ahnung, was der Verein mit mir macht, wenn ich Ihnen den Gefallen tue?«

»Das ist nichts im Vergleich zu dem, was geschehen wird, wenn wir die Geschichte nicht plausibel aufklären«, sagte der Kommissar. »Wie Sie sagten: Wir haben es hier mit einem Ort nationalen Interesses zu tun.«

»Da spricht mir die Kriminalistik aus tiefstem Herzen. Nur sagen Sie mir bitte, warum ich das akzeptieren soll?«

»Weil wir keinen vernünftigen Ermittlungsansatz haben. Es kann sich um einen Unfall, um Selbstverbrennung oder aber um ein Verbrechen handeln.«

Von Vennebeck rollte die Zigarre im Mund. Seine Blicke richteten sich auf das Bein neben dem Denkmal.

»Wieso kann solch ein Mensch sich nicht einfach das Genick brechen, he? - Entschuldigung«, fügte er mit einem Blick auf seine frierende Assistentin hinzu. »Ich bin mir durchaus der Situation bewusst, dennoch... Wie lange, glauben Sie, wird die Absperrung nötig sein?«

»Wenn wir die Experten sofort einsetzen können, vielleicht bis Mittag.«

»Auch wenn ´s weh tut«, sagte von Vennebeck nach einem kurzen Zögern, »setzen Sie ein, was Sie für richtig halten. Und Sie!«, bellte er, die zerkaute Zigarre drohend in Richtung Baugerüst ausstreckend, den doch unvorsichtig agierenden Grotejohann an, »Sie werden in Teufels Küche kommen, wenn Sie mich ohne meine Einwilligung ablichten!«

Grotejohann trat ins Licht.

»Heute ist es vom Gesetz gedeckt«, sagte er. »Heute sind Sie eine Persönlichkeit der Zeitgeschichte.«

»Gütiges Göttchen, muss ich mir dieses Laientheater wirklich anhören!?«

»Es tut ja nicht weh, Herr Oberstaatsanwalt.«

»Sie irren, Sie irren sogar sehr!«

Reineking lächelte und verabschiedete sich in Richtung der Spurenexperten. Das Wortgewitter zwischen dem gewichtigen Juristen und dem nur geringfügig leichteren Reporter wollte er aus möglichst großer Distanz über sich ergehen lassen.