Faust oder Mephisto?

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Faust oder Mephisto?
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Willi Jasper

Faust oder Mephisto?

Europas Intellektuelle –

eine aktuelle Krisengeschichte


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8012-7032-2 (E-Book)

ISBN 978-3-8012-0572-0 (Printausgabe)

Copyright © 2021

by Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH

Dreizehnmorgenweg 24, 53175 Bonn

Umschlag: Antje Hack | Lichten, Hamburg

Unter Verwendung der Handschrift von Johann Wolfgang von Goethe

Satz: Rohtext, Bonn

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, 2021

Alle Rechte vorbehalten

Besuchen Sie uns im Internet: www.dietz-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Geist und Tat: eine Spurensuche

Europa unterm Brennglas der Pandemie

Blick zurück: Mythos der Antike – Gründungsmythos der Moderne

Faust, Mephisto und die Deutschen

Exil und Transnationalismus

Volksfronten

Kant und Heinrich Mann

Willy Brandt und die »linke« Tradition

Flüchtlingskrise und »Leitkultur«

Europa – »ein neuer jüdischer Ort«?

Die Intellektuellen und der Medienwandel

Was habt ihr uns noch zu sagen?

Ein Ausblick: Zukunft und Solidarität – sind das noch EU-Themen

Namensregister

Quellen und Literatur

Geist und Tat: eine Spurensuche

Die Intellektuellen – wo sind sie? Seit Jahrzehnten monieren Journalisten, Wissenschaftler und Schriftsteller, dass ihre Bedeutung für die europäische Krisensituation zu wenig beachtet werde. Aber haben sie heute überhaupt noch eine Bedeutung im öffentlichen Leben? 1976 erinnerte der österreichische Schriftsteller und frühere Widerstandskämpfer Jean Améry anlässlich der deutschsprachigen Neuausgabe von Julien Bendas Klassiker »Der Verrat der Intellektuellen« (1927) daran, wie »aktuell« und notwendig auch 50 Jahre nach dem Erscheinen dieses Buchs das ideenpolitische Engagement für die »europäische Zivilisation« sei. Gut gebrüllt, Löwe! Für Benda bestand die Aufgabe der Intellektuellen, der Clercs, wie er sagte, der Gelehrten, nach wie vor darin, die Idealität der menschlichen Moral zu verkünden und Widerstand zu leisten gegen diejenigen, denen es allein um materielle und »nationalleidenschaftliche« Bedürfnisse ging. Im November 2011 polemisierte der Zeit-Redakteur Thomas Assheuer: »Irgendwann, wenn die Ratlosen von morgen die Schuldigen von heute beim Namen nennen, wenn sie aufzählen, wem alles Europa gleichgültig geworden war, bevor es fast in Trümmer fiel, wenn sie mit den Fingern auf die tollen Ökonomen zeigen, die an der Börse ›Staaten versenken‹ gespielt hatten, wenn sie mit posthumer Bestürzung all die Politiker Revue passieren lassen, die Front gegen Europa machten – irgendwann, ganz am Schluss, bevor der Letzte das Licht ausmacht, wird die Rede auf eine seltsame Spezies kommen, nämlich auf die Intellektuellen. Wo waren sie eigentlich, als Europa die Luft ausging?« Europa habe unter den Intellektuellen »keine Leidenschaft« hervorgebracht, keine »sprühende politische Fantasie, nur ein apartes Phlegma auf mittlerem Niveau«. Die Europäische Union, so Assheuer, besitze keine geistige Adresse. Brüssel sei »wie eine Realfiktion, eine gigantische Blackbox, ein schalltoter Raum, eine insulare Macht der Absorption ohne den geringsten diskursiven Charme.« Die sogenannten »kritischen Intellektuellen« hätten sich gegen die Macht des Geldes, die Macht der Schulden und beim »Debakel der Finanzindustrie« nicht durchsetzen können.

Obwohl sich inzwischen unzählige Publikationen mit der Frage, »Was ist ein Intellektueller?«, beschäftigen, »fixieren« sie damit »eine falsche Perspektive«. Das jedenfalls betonte der Literaturhistoriker Dietz Bering 2010 in seinem Buch über »Die Epoche der Intellektuellen«. Denn die Frage unterstelle, es gebe da eine feststehende Figur, von der man nur noch herausbekommen müsse, was sie eigentlich sei. In Wirklichkeit seien Wörter von Menschen gebildete und durch vielerlei Stellschrauben »extrem veränderbare Werkzeuge«. Möge das Werkzeug auch denselben Namen tragen (nämlich »Intellektueller«), so sei es in der Hand verschiedener Menschen und verschiedener Ideologien doch so verschieden geformt, dass die Frage nur lauten könne: »Wer soll bei uns aus welchen Gründen zu welchen Zwecken ›Intellektueller‹ genannt werden?«

Gab es diese Spezies nicht bereits im antiken Athen, als Philosophen über die geistige Substanz der Polis, ihres Staatsverbands, gestritten haben? Bering erinnert daran, dass das Wort les intellectuels in Frankreich auch schon vor seiner offiziellen Geburtsstunde, dem berühmten Dreyfus-Prozess von 1894, gebraucht wurde. Einiges spricht dafür, die Ankunft des Intellektuellen in der Welt ein Jahrhundert vorzuverlegen und dem kritischen Aufklärer Voltaire die Urkunde zu überreichen. Doch der Dreyfus-Prozess war das »aufrüttelnde Ereignis«, das den Begriff ins Zentrum der Pariser Debatten und bald auch in die der Weltöffentlichkeit brachte. Die gesetzwidrige Verurteilung des jüdischen Hauptmanns Alfred Dreyfus als vermeintlicher Spion war nur der äußere Anlass – im Kern ging es der Dritten Republik um viel mehr, um etwas von genereller Bedeutung: Es ging um die Demokratie. Am 13. Januar 1898 hatte der Schriftsteller, Journalist und Maler Émile Zola mit seinem an den Präsidenten Félix Faure gerichteten Aufruf »J’accuse« die französische Öffentlichkeit in Dreyfus-Feinde und Dreyfus-Freunde gespalten. Wenig später verbreitete die Zeitung LAurore das von dem Journalisten und Politiker Georges Clemenceau sowie dem Schriftsteller Anatole France initiierte »Manifeste des intellectuels«. Es war ein »Identifikationsangebot«. Ein neuartiger Presse-Krieg und die Debatten der Straße sorgten dafür, dass das Wort »Intellektueller« von allen hochgehalten wurde, die bereit waren, sich zu politisieren und ihrem »Gewissen« zu folgen, die die »demokratischen« Prinzipien verteidigten und einem »wissenschaftlichen« Wahrheitsbegriff die Ehre gaben. Von der reaktionären Gegenpartei wurden die »intellektuellen« Demokratieverfechter als »dekadente« und »jüdische Vaterlandsverräter« diffamiert. Mit der Revision des Urteils und dem Freispruch für Dreyfus – auch wenn das komplizierte Verfahren sich über Jahre hinzog – erzielte Zolas Kampagne einen direkten Erfolg, aber noch wichtiger war der indirekte: die Bewahrung der Dritten Republik vor einem neuen Bonapartismus. Zwar hatte die Dreyfus-Affäre Frankreich in feindliche Lager geteilt – doch der Nationalismus und Antisemitismus der Action Française waren zurückgedrängt worden, Frankreichs Republik gerettet durch die Institutionalisierung der Rolle des »allgemeinen Intellektuellen« (Michel Foucault).

Dass Zola den moralischen Geist dieser Rolle verkörperte, hat Anatole France in seiner Grabrede am 5. Oktober 1902 betont: »Zola war gut. Er hatte die Größe und Einfachheit der großen Seelen. Er war tief moralisch. Er hat das Laster mit einer harten und tugendhaften Hand gemalt. Sein scheinbarer Pessimismus, die finstere Stimmung vieler seiner Seiten verbergen kaum einen wirklichen Optimismus, einen Glauben an den Fortschritt der Intelligenz und die Gerechtigkeit. Er verfolgte in seinen Romanen, die soziale Studien sind, mit kraftvollem Hass eine müßige und frivole Gesellschaft, eine niedrige und schuldige Aristokratie, er bekämpfte das Übel der Zeit, die Macht des Geldes. Obwohl er Demokrat war, schmeichelte er nie dem Volk, er bemühte sich, ihm zu zeigen, wie es, durch Unwissenheit und durch den Alkohol blöde und wehrlos gemacht, der Unterdrückung, dem Elend und der Schande ausgeliefert ist. Er bekämpfte das gesellschaftliche Übel, wo immer er es antraf. Das war das Wesen seines Hasses. In seinen letzten Büchern zeigte er seine ganze Liebe zur Menschheit. Er war bestrebt, sich eine bessere Gesellschaft vorzustellen und sie anzukündigen.«

 

Die Dreyfus-Affäre symbolisierte nicht nur eine nationalistisch-antisemitische Gesellschaftskrise Frankreichs, sondern wurde durch Zola zum politisch-intellektuellen Markstein im kollektiven Gedächtnis Europas. Das galt auch für Spanien. Hier standen auf der Seite der Dreyfus-Verteidiger, wie Bernd Rother zusammenfasst, »die Mehrheit der Intellektuellen« und die größten Zeitungen des Landes wie El Pais, El Imparcial, El Liberal oder El Correo. Die liberalen Blätter empörten sich darüber, dass »alle wichtigen katholischen Strömungen« in Europa »den Antisemitismus ablehnen« würden und »nur die Katholische Kirche in Spanien eine beschämende Ausnahme« sei. Doch bei allen liberalen Entwicklungen: So wurde die Spaltung der spanischen Öffentlichkeit nicht überwunden. Für die traditionell reaktionären Kräfte in Kirche, Militär und Staatsapparat blieb, »wie kaum anders zu erwarten, die Schuld von Dreyfus nicht zweifelhaft«.

Auch in Deutschland war die öffentliche Wahrnehmung der französischen Ereignisse nicht ungeteilt. Die überwiegende Mehrheit der Menschen hier betrachtete die Dreyfus-Affäre aus einem judenfeindlichen Blickwinkel heraus. Doch es gab auch andere Stimmen, wie den jungen Heinrich Mann, der Zola verehrte und dessen Kritik an der Ära Napoleons III. auf das wilhelminische Kaiserreich übertrug. In seinen Essays »Geist und Tat« (1910) und »Zola« (1915) feierte Mann den Franzosen Zola als Vorbild für die Herausbildung eines demokratischen Geistes in Europa. Seine Analyse der deutschen Verhältnisse in puncto Demokratie war hingegen ernüchternd. »Zur Abschaffung ungerechter Gewalt« habe sich in Deutschland fast »keine Hand bewegt«. In Frankreich hätten sich demgegenüber die wichtigsten Schriftsteller »von Rousseau bis Zola« nie von den breiten Massen getrennt, sondern seien aus sozialen und humanen Motiven stets »der bestehenden Gewalt entgegengetreten.« Hier sei der Geist immer wieder zur politischen Tat geschritten. »Intellektuelle«, so Heinrich Mann, »sind weder Liebhaber noch Handwerker des Geistes. Man wird es nicht, indem man gewisse Berufe innehat. Man wird es noch weniger durch das lüsterne Betasten geistiger Erscheinungsformen, und am wenigsten sind jene Tiefenschwärzer gemeint, die gedankliche Stützen liefern für den Ungeist.« Der »Intellektuelle« erkenne »Vergeistigung« nur an, wo »Versittlichung« erreicht wurde. »Er wäre nicht, der er ist, wenn er Geist sagte, ohne Kampf für ihn zu meinen.« Das ist gut 100 Jahre her und zwei fürchterliche Weltkriege.

Europa unterm Brennglas der Pandemie

Auf die Frage, wie er die Corona-Krise einschätze, antwortete der Philosoph Jürgen Habermas unlängst: »Eines kann man sagen: So viel Wissen über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie.« Hier offenbart sich Ratlosigkeit gegenüber den Ursachen und Folgen einer weltweiten Katastrophe. Zweifellos ist die aktuelle Pandemie etwas Neues. Aber auseinandersetzen muss man sich mit der Geschichte schon – auch wenn es wehtut: Bereits vor mehr als 3.000 Jahren gab es eine dokumentierte Influenza-Epidemie in Zentral- und Südasien. Seitdem wiederholten sich Seuchenkatastrophen immer wieder. Im 16. Jahrhundert starben 40 Prozent der Bevölkerung Mexikos an den Pocken. Im 17. Jahrhundert erlagen in Spanien 700.000 Menschen der großen Pest von Sevilla, und 1831/32 wanderte die europäische Cholera-Krise von Paris bis Warschau. Zwischen 1918 und 1920 forderte die Spanische Grippe bis zu 50 Millionen Tote und auch die Hongkong-Grippe (1968 –1970) mehrere Millionen (davon 50.000 in Deutschland). Und nicht vergessen sollte man, dass es seit 1981 mehr als 30 Millionen Aids-Opfer und noch viel mehr Tote durch Malaria und Tuberkulose gibt. Bei allen diesen Katastrophen ging und geht es nie nur um medizinische Probleme, sondern generell um ökologische, ökonomische, soziale und politische Ursachen und Folgen. Doch wer Vergleichbarkeit unterstellt, läuft zurzeit Gefahr, von einem neuen Typ des Frömmlers, den es auch in seriösen Medien gibt, zum Corona-Verharmloser, gar Leugner gestempelt zu werden. Zu Recht? Wo sind die Intellektuellen, die das öffentlich diskutieren?

Der französische Philosoph Edgar Morin hat schon vor Jahrzehnten in seinem sechsbändigen Hauptwerk »Die Methode« den wissenschaftlichen »Reduktionismus« in der Analyse des Verhältnisses von Natur und Mensch kritisiert: »Das Denken, welches vereinfacht, ist zur Barbarei der Wissenschaft geworden. Dies ist die spezifische Barbarei unserer Zivilisation.« Auch in Europa lebten die Menschen in Gesellschaften mit voneinander getrennten Erkenntnissen. Die Reform des Denkens, die Morin von den Intellektuellen forderte, müsse diese Einzelerkenntnisse wieder verbinden, die Teile mit dem Ganzen und das Ganze mit den Teilen – sowie die Beziehung des Lokalen mit dem Globalen begreifen. Der griechische Ökonom und Politiker Yanis Varoufakis erklärte, dass sich »die Welt mit der Corona-Krise nicht wirklich verändert« habe, vieles komme »nur jetzt deutlicher zum Vorschein«. Das Virus sei eine Art Vergrößerungsglas für schon länger existierende gesellschaftliche Probleme. Doch nicht nur der krasse Widerspruch zwischen arm und reich werde durch die Pandemiefolgen sichtbarer, sondern auch das Fehlen einer intellektuellen Öffentlichkeit. Vor allem in und für Europa. Die Europäische Union dürfe nicht weitermachen wie bisher, sonst drohe ihr Untergang.

Schon als die Eurokrise Ende 2011 ihren Höhepunkt erreichte, machten einige Kritiker auf einen Aspekt aufmerksam, der damals kaum registriert wurde: Die Krise war ja nicht nur ein Ausdruck für das Versagen der Europäischen Zentralbank, der griechischen Bürokraten, italienischen Nichtsteuerzahler und einer erpresserischen Politik der deutschen Merkel-Regierung – sondern sie stand auch für ein umfassendes Versagen der Intellektuellen. Warum verteidigten sie nicht mit (direktem) öffentlichem Engagement die europäische Einigung, demokratische Grundrechte, Solidarität und soziale Gerechtigkeit? Heute stellt sich die Frage sogar weitaus brutaler. Die Corona-Pandemie und Quarantänemaßnahmen trafen die südlichen Länder Italien und Spanien besonders hart. Die nördlichen Länder – vor allem Deutschland – verhielten sich bei der medizinischen Hilfeleistung und in der Finanzfrage einer gemeinsamen Kreditregelung (Corona-Bonds) anfangs erneut unsolidarisch. Warum legten prominente Intellektuelle in dieser Situation nicht konkrete, gemeinsame Pläne einer europäischen Krisenbekämpfung und gesellschaftlichen Neuordnung vor? Dieses »Versagen« ist nicht nur ein aktuelles, sondern ein grundsätzliches, historisch erklärbares Problem. Der Politikwissenschaftler Kurt Sontheimer vermutete in seinem Buch »Das Elend unserer Intellektuellen« (1976) vor allem bei deutschen Geistesgrößen eine entsprechende Störung im Verständnis von Verantwortung und Wirklichkeit.

Der Vorwurf des ausdrücklichen »Versagens« der Intellektuellen in Krisensituationen hat seinen Ursprung im 20. Jahrhundert, das als »Jahrhundert der Ideologien« gilt. Ideen spielten nicht nur eine vage, allgemeine Rolle, sondern wurden direkt in die Politik übertragen. Dass sich die Idee der Abgrenzung des »deutschen Geistes« von den kulturellen Traditionen in Europa so fanatisch und wahnhaft gestalten sollte, lag daran, dass sie immer umstritten war. Einen der frühesten und heftigsten Einsprüche gegen eine solche Abgrenzung brachte Heinrich Mann. So heißt es in einem leidenschaftlichen Plädoyer für die europäische Einheit: »Dem Europäer gehören unveräußerlich schon jetzt die Freiheit und die Selbstbestimmung. Vorgesehen aber sind ihm die Einheit und der innere Friede. Unser gemeinsames Haus hat innere Grenzen, die in irgendeiner guten Zukunft sollen aufgehoben werden. Nicht sollen sie blutig eingerissen und, wer dahinter wohnt, vernichtet werden.«

Das vorangegangene Fin de Siècle hatte, so der britische Historiker Tony Judt, habe »die erste Welle politisch engagierter Intellektueller erlebt – in Wien, Berlin, Budapest, vor allem aber in Paris: Männer wie Theodor Herzl, Karl Kraus oder Léon Blum.« Ein Jahrhundert später seien die Leute, die Anspruch auf ihre Nachfolge erhoben, zwar nicht vollkommen von der Bildfläche verschwunden, aber doch »weitgehend bedeutungslos«. Es gab verschiedene Gründe »für das Aussterben der kontinentalen Intellektuellen«. In Mittel- und Osteuropa stießen die Fragen, die einst die politische Intelligenz mobilisiert hatten – Marxismus, Totalitarismus, Menschenrechte oder die Übergangsperiode – bei der jüngeren Generation nur noch auf Langeweile und Gleichgültigkeit. In Westeuropa sei die »Mahnfunktion« der Intellektuellen noch nicht ganz aus dem öffentlichen Leben verschwunden – Leser der gehobenen Presseerzeugnisse in Deutschland und Frankreich wurden noch regelmäßig »mit zürnenden politischen Predigten von Günter Grass oder Régis Debray versorgt«. Doch sie hatten ihren Hauptgegenstand verloren. Zwar gab es noch viele »Teilsünden«, gegen welche die öffentlichen Moralisten wettern konnten, aber kein übergreifendes Ziel mehr, kein allgemein verpflichtendes Ideal, für das sie ihre Anhänger hätten mobilisieren können. Faschismus, Kommunismus und Krieg schienen zusammen mit Zensur und Todesstrafe vom Kontinent verbannt. Zwar forderten die Raubzüge des schrankenlosen kapitalistischen Marktes intellektuelle Kritik heraus, doch da es an einem konkreten antikapitalistischen Gegenprojekt fehlte, blieb die Debatte folgenlos.

Die Politikwissenschaftlerin Marianne Kneuer vermutet, dass das »Gros der deutschen Intellektuellen deswegen versagt« habe, »weil sie sich, verfangen in ihrer Theorie, abgekoppelt hatten von der politischen und gesellschaftlichen Realität mit der Folge, dass sie sich entweder vollständig zurückzogen oder apologetisch wurden.«

Im Gegensatz dazu hätten sich die Intellektuellen anderer Länder sehr viel stärker wirklichkeitsorientiert verhalten, indem sie ihr nationales Schicksal in Verbindung brachten mit dem europäischen Projekt. Vor allem in Deutschland stelle sich jedoch die Frage, ob »die Formung einer europäischen Identität, die Mitwirkung an der Herstellung einer europäischen Öffentlichkeit« noch als eine »genuin intellektuelle« Aufgabe betrachtet werde. Gerade in Krisensituationen müssten die Intellektuellen verschiedene wichtige und Rollen ausfüllen: »als Impulsgeber und innovative Kräfte, als Orientierungs- oder auch Korrekturhilfen, als Verortungsinstanzen und als Visionäre, als Integratoren und Identitätsstifter.«

Immerhin gab es vor den EU-Wahlen 2019 eine Initiative, an der auch deutsche Intellektuelle aktiv beteiligt waren. Dreißig prominente Schriftsteller und Publizisten – angeführt von Bernard-Henri Lévy, Claudio Magris, Adam Michnik, Agnes Heller, Elfriede Jelinek, Herta Müller, Orhan Pamuk und Salman Rushdie – veröffentlichten in der linksliberalen französischen Tageszeitung Libération einen Aufruf, die europäische Idee zu retten. Man glaubte, heißt es da »dass die Einheit des Kontinents sich von selbst ergeben wird, ohne Willen und Anstrengung. Wir lebten in der Illusion eines notwendigen Europas, das in der Natur der Dinge liege und sich ohne uns und unser Zutun gestaltet, einfach, weil es im Sinne der Geschichte sei … Wir müssen Schluss machen mit dem trägen Europa ohne Kraft und Gedanken … Wenn die Populismen knurren, müssen wir Europa wollen oder untergehen.«

»Ein Dreivierteljahrhundert nach der Niederlage des Faschismus und 30 Jahre nach dem Mauerfall« sei das » ›Kulturdach‹ unserer Zivilisation einer neuen entscheidenden Bewährungsprobe ausgesetzt«.

Wo liegen die Probleme, für die Europa die Intellektuellen heute braucht?

Der Vormarsch der Rechtspopulisten konnte bei den Wahlen nicht aufgehalten werden, auch wenn sie auf verschiedene Fraktionen aufgeteilt sind. Vertreter und Vertreterinnen rechtspopulistischer Parteien aus neun EU-Mitgliedstaaten haben die Fraktion »Identität und Demokratie (ID) gegründet, angeführt von der italienischen »Lega«-Partei eines Matteo Salvini, assistiert vom französischen »Rassemblement National«, dessen Chefin Marine Le Pen mehr Stimmen erhielt als Staatschef Emmanuel Macron, und schließlich beklatscht von der AfD, die nach der Wahl aus Brüssel twitterte: »Wir sind hierhergekommen, um Stachel im Fleisch der Eurokraten zu sein.« Nicht dabei, aber programmatisch nahe stehend, sind die ungarische »Fidesz«-Partei (Viktor Orbán) und die polnische »PiS«, die den Rechtsstaat mit Füßen treten.

 

Der Brexit und das Auseinanderfallen der EU: Während die Mehrheit der britischen Bevölkerung den EU-Austritt bejubelte, überwiegt bei den Künstlern und Intellektuellen Zurückhaltung und Verwunderung. Harry Potters Erfinderin Joanne K. Rowling erklärte lakonisch per Twitter »Das hätte nicht passieren müssen«, und der Schauspieler Oliver Phelps verkündete, ebenfalls per Kurznachrichtendienst, er hoffe, dass der Brexit nur ein schlimmer Traum sei. »Vielleicht wird alles vorübergehen, wenn ich im Bett bleibe.« Reicht das? Nicht jeder Denker, der im Bett auf das Ende der Krise wartet, ist ein »Intellektueller«, das sei hier festgehalten.

Die neoliberale Wirtschaftspolitik ist und bleibt der Kern der EU. Um diese (monopolkapitalistische) Marktentwicklung zu »vollenden«, sollen das Entscheidungsrecht der Parlamente über das Budget weiter eingeschränkt und der Druck auf Löhne, Pensionen und Sozialleistungen erhöht werden. Hinzu kommen strengere Migrations- und Grenzkontrollen sowie Pläne für eine gemeinsame Armee. Ganz offensichtlich ist die EU in ihrem gegenwärtigen Zustand kein progressives Projekt gegen Nationalismus und Konservativismus. Vor allem die Austeritätspolitik weckt bei Millionen Menschen Existenzängste und verschafft dem Rechtspopulismus wachsenden Zulauf. Einer der bekanntesten Kritiker des Neoliberalismus, der französische Historiker und Sozialwissenschaftler Emmanuel Todd, macht vor allem die wirtschaftliche Vormachtstellung Deutschlands für diese EU-Entwicklung verantwortlich. »Die sozialen Unterschiede innerhalb Europas sind zu markant«, lautet sein Argument. »Schwächere Volkswirtschaften« kämen schwerlich in die Lage, »sich vor den Effizienzkriterien zu schützen, die die Deutschen beständig einfordern.« Die BRD sei »verantwortlich für einen Kampf um die Effizienz«. Für den Autor ist es »Ausdruck einer besonderen Qualität, dass Franzosen, Italiener, Spanier und andere nicht wie die Deutschen agieren.

Aber auch »Deutsche zweifeln am Kapitalismus«, so lautete die Überschrift des Berichts in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: »Gerade einmal 12 Prozent glauben noch, dass das System ihnen nützt und sie von einer wachsenden Wirtschaft ausreichend profitieren. Dagegen sind volle 55 Prozent der Meinung, dass der Kapitalismus in seiner jetzigen Form mehr schadet als hilft.« Schon 2018 hatte Oxfam, der unabhängige Verbund internationaler Hilfs- und Entwicklungsorganisationen, als prinzipielle Ursache für die wachsende Kluft zwischen Reich und Arm das derzeitige Wirtschaftssystem angeprangert. Demnach besitze das reichste Prozent der Weltbevölkerung mehr Vermögen als die anderen 99 zusammen.

Also ungleiche Vermögensverteilung und Lebenschancen. Angesichts solcher Verhältnisse betrachtet der Philosoph und Wirtschaftsethiker Christian Neuhäuser den »Reichtum als moralisches Problem« (2018). Für ihn ist der Kampf gegen extreme finanzielle Ungleichheit eine transnationale Aufgabe »weil die ökonomische Abhängigkeit der Staaten vom internationalen Kapital zu groß« sei. Das gehe »nur auf europäischer Ebene«, denn er sehe »im Moment keine andere Weltregion, mit der man einen solchen Diskurs führen könnte«. Aber kommt jemals die Sozial- und Transferunion?

Das große Brennglas, die Lupe auf den Schwären unterlassener Hilfeleistungen der Intellektuellen ist, was wir gerade sehen, wenn es um die aktuelle Corona-Krise geht. Mit ihr scheinen nicht nur für Europa, sondern für alle Demokratien der Welt, finstere Zeiten angebrochen zu sein. »Wohin man sieht«, so der Tagesspiegel-Redakteur Gregor Dotzauer im April 2020, »zehrt ein Regime angeblicher und tatsächlicher Sachzwänge die Handlungsspielräume auf. Virologische und epidemiologische Experten geben Politikern alternativlose Lösungen vor (oder werden von der Politik in diesem Tenor vorgeschoben), und die kontrollierenden Gremien Europas drücken bei verfassungsrechtlichen Bedenken beide Augen zu – wenn mit einem Notstandsgesetz wie in Ungarn die Gewaltenteilung nicht gleich ausgehebelt wird. Technokratisch-exekutive Strukturen rücken an die Stelle demokratischer Strukturen. Es gibt nicht wenige, die darin ein dem historischen Augenblick angemessenes Rezept erblicken. Und dennoch wäre nichts gefährlicher, als eine Demokratiedämmerung auszurufen.« Man sollte nicht so tun, »als hätten wir über Nacht ein Paralleluniversum betreten, das eine neue Moral erfordert.« Das gelte nicht nur für einzelne Nationalstaaten, sondern für ganz Europa und die übrige Welt. Wenn man in früheren Krisensituationen »in Bezug auf die Brüsseler Verordnungswut zu Recht von technokratischen Exzessen sprechen konnte«, dürfe man es »auch in Corona-Zeiten« tun. Was Jürgen Habermas im Titelessay seines Buches »Im Sog der Technokratie« (2013) als »Prüfsteine einer europäischen Solidarität« benannt habe, zähle nach wie vor, nur eben »in existentiell verschärfter Form«. Wenn es darum gehe, sowohl ein funktionierendes Gesundheitssystem, eine stabile Wirtschaft und demokratische Freiheitsrechte aufrechtzuerhalten, müsse das politisch und nicht technokratisch ausgehandelt werden. Experten hätten dabei ein gewichtiges Wort mitzureden. Nur müsse man sich von der Idee verabschieden, dass sie eine von der Politik unabhängige Klasse seien. Das gilt nicht nur für Ökonomen, Naturwissenschaftler und Mediziner, sondern auch für Philosophen und Kulturexperten.

Der französische Essayist und Moralist Julien Benda warf 1927 seinen »intellektuellen« Kollegen (Schriftstellern wie Philosophen) vor, sie hätten ihren Berufsstand verraten, weil sie sich nationalistischen Positionen angepasst hätten. Wahre Intellektuelle würden die politischen Machthaber mit der universalen und zeitlosen Wahrheit des Geistes konfrontieren. Und Albert Camus legte 1945 den Intellektuellen die »Verteidigung der Intelligenz« nahe. Man müsse nach der Weltkriegskatastrophe »unser politisches Denken erneuern«. Das bedeute, »dass wir den Geist bewahren müssen«. Denn er war überzeugt, dass darin »der Kern des Problems« lag.

Das könnte, auf heute übertragen, bedeuten, dass Intellektuelle unter den ganz anderen Gegebenheiten in Europa im 21. Jahrhundert auch die aktuelle Krisensituation vor dem Hintergrund demokratischer Werte gründlich falsch verstehen. Sie können selbst zu fanatischen Nationalisten werden oder den aufkommenden antieuropäischen Geist indirekt fördern, indem sie ihn negieren. Oder sie versagen als Intellektuelle, wenn sie die Ungerechtigkeit und Strenge von staatlichen Maßnahmen in der Medizin, Sozial- und Finanzpolitik nicht hinterfragen. Das Verhalten von Politikern, Behörden und Bürgern (einschließlich der meisten Intellektuellen) in der Corona-Krise offenbart, dass der fatale Hang der Menschen zur »Gefolgschaft« durch Aufklärung und Nachkriegszeit nicht überwunden ist. Das Verhältnis zwischen Bedrohung, Angst und dem Sicherheitsversprechen des Staates sei heikel, erklärte der Historiker Paul Nolte in der »Frankfurter Rundschau«. In dieser Hinsicht erlebe er einen »irritierenden« Konformismus. »Wie viele Prominente, Intellektuelle und Kirchenführer stellen sich hin und sagen: ›Liebe Leute, haltet euch an Maßnahmen, die die Bundeskanzlerin verkündet hat.‹ Wir brauchen aber auch in einer solchen Situation eine lebendige und kritische Zivilgesellschaft. Wir brauchen streitbare Intellektuelle, die der Politik widersprechen, andere Szenarien entwickeln. Wo ist eigentlich die Linke, die müsste diese Diskurse doch jetzt führen.« (April 2020)

Die Linke und ihre Intellektuellen hielten sich weitgehend zurück. Schlagzeilen und Titelseiten der meisten Medien waren geprägt von Politikerporträts und Botschaften des Corona-Gehorsams. Es gab kaum kontroverse Diskussionen, weil in der Öffentlichkeit nahezu kollektiv aufs Denken zugunsten von Expertenmeinungen verzichtet wurde. Es sei bemerkenswert, dass über 90 Prozent der Deutschen die Maßnahmen gegen das Corona-Virus befürworten, monierte der Philosophieprofessor Markus Gabriel in einem Deutschlandfunk-Gespräch. Es sei eigentlich »verdächtig, wenn solche Einigkeit« herrsche. Eigentlich gebe es eine Pflicht dazu, widerstreitende Meinungen einzuholen. Doch durch die hohe Infektionsgefahr würden nun andere Regeln gelten. Diese Einigkeit berge aber Gefahren, denn es sei ja durchaus möglich, dass die derzeitigen Maßnahmen auch das Gesundheitssystem gefährdeten. Gesundheitliche Präventionsmaßnahmen blieben schließlich auf der Strecke und auch die wirtschaftlichen Folgen könnten sich im Gesundheitssystem niederschlagen. Es sei daher sehr zu begrüßen, dass inzwischen auch kritische Stimmen zu den Maßnahmen aufgetaucht seien. Eine »sehr gefährliche Maßnahme« sei das Tracking von Handydaten: »Warum tun wir etwas, das wir vorher eigentlich für moralisch verwerflich hielten, nämlich Maßnahmen einer soften Cyberdiktatur einführen?« In einigen Staaten, wie zum Beispiel Ungarn, sei bereits klar zu sehen, dass der Ausnahmezustand »als Deckmantel für undemokratische Maßnahmen« genutzt werde. Man dürfe das Corona-Virus zudem nicht nur als medizinisches Problem begreifen – auch wenn es das natürlich hauptsächlich sei. Denn das Virus sei auch »ein hochkomplexes soziales Problem, das alle Dimensionen des Menschseins« anspreche. Es brauche daher »sozial- und geisteswissenschaftliche Methoden« zur Untersuchung. Wenn man die Perspektiven dieser wissenschaftlichen Schulen ausklammere, laufe man Gefahr, dass »wir uns als Menschen nur noch sehen als potenzielle Virenträger, und das wäre natürlich ein gefährliches einseitiges Menschenbild«. Man könne politische Entscheidungen nicht alleine naturwissenschaftlich oder technisch rechtfertigen. Ein derartiger »Wissenschaftsglauben« sei genauso falsch wie die Wissenschaftsskepsis von Populisten wie Donald Trump. »Wir müssen«, so Gabriel, »Subjektivität und Objektivität ins richtige Verhältnis setzen, und das kann man nicht durch die Wissenschaft alleine.«