Die Halbstarken

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Aus der Reihe: Filme zum Lesen #1
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Die Halbstarken
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Filme zum Lesen, Nr. 1

Herausgeber der Reihe: Andre Kagelmann und Reinhold Keiner

Produktion: 2012 MEDIA Net-Edition, Kassel

Copyright © 2012 by MEDIA Net-Kassel

www.medianet-edition.de www.facebook.com/medianet.edition Titelgestaltung und E-Book-Herstellung: Silke Rappelt, www.srappelt.de ISBN: 978-3-939988-13-7

Inhaltsverzeichnis

1. Vorwort der Herausgeber

2. Die Halbstarken. Ein packender Zeitroman

3. Bildteil

4. Will Tremper – Biografische Notiz

5. Drehbuchauszüge

6. Bildnachweis

Vorwort der Herausgeber

Die Halbstarken

Wir befinden uns in der Zeit des Wirtschaftswunders, ganz Deutschland (ganz Deutschland?) ist von dem Gedanken an ökonomischen Erfolg beherrscht: Wohlstandsorientierung wird zum gesellschaftlichen Leitbild, man will die Schrecken von Naziherrschaft und Zweitem Weltkrieg vergessen und sich etwas leisten können, und dafür ist man bereit, hart und viel zu arbeiten. Ziel dieser Anstrengungen ist die Familie, die noch unangefochten und autoritär vom Vater geführt wird: Gehorsam, Ordnung und Disziplin sind die selbstverständlichen Sekundärtugenden, die den Kindern und Jugendlichen abverlangt werden. Politisch ist das noch im Wiederaufbau befindliche Land fest in der Hand Konrad Adenauers. Als Stichworte sollen hier Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland (Nato-Beitritt sowie Gründung der Bundeswehr), Anwerbung von Gastarbeitern und Kalter Krieg genügen.

Allerdings wird gegen die verkrustete Gesellschaft auch Protest seitens der Jugend laut, die den Rock ‘n‘ Roll als Medium der Rebellion für sich entdeckt. Insbesondere Elvis Presley, aber auch Chuck Berry und Little Richard, oder dann Peter Kraus und Ted Herold sind die Helden einer neuen, körperbetonten und wilden Musik, die – so wie sich das noch immer gehört hat – von den Eltern als minderwertig abgetan wird: Nur so macht Rebellion schließlich Spaß...

Neben die musikalischen treten v.a. auch Kinohelden, sie heißen Marlon Brando und James Dean. In Filmen wie Denn sie wissen nicht, was sie tun (Rebel Without a Cause, Nicholas Ray 1955) oder Die Saat der Gewalt (Blackboard Jungle, Richard Brooks 1955) werden diese Leinwandrebellen zu Vorbildern für viele junge Männer. Für die Frauen sind Marylin Monroe und Brigitte Bardot Stilikonen: Natürlich findet die Auflehnung gegen das prüde Nachkriegsdeutschland auch in der Mode ihren Ausdruck, Blue Jeans und Lederjacken sowie Petticoats sorgen für große Augen bei der Elterngeneration; insbesondere ruft ein freizügigeres Körperkonzept konservative Kritiker auf den Plan. Und wie auch in der Musik zieht im Kino der American Way of Life die Jugendlichen magisch an – ein Grund mehr für die Eltern, die neue transnationale Jugendkultur zu beargwöhnen. Das alte Lied vom Niedergang der Kultur wird eben in jeder Generation von neuem angestimmt. Dazu passt dann auch ein moderner flapsiger Jugendjargon, der bildungsbürgerlichen Sprachpflegern ein Dorn im Auge ist. Freilich dauert es andererseits nicht lange, bis diese Jugendkultur als Wirtschaftsfaktor identifiziert wird und man Musik und Film kommerziell verwässert; auch diese Geschichte ist nicht neu…

Georg Tresslers (1917-2007) Klassiker Die Halbstarken aus dem Jahr 1956, dessen Drehbuch er zusammen mit Will Tremper (1928-1998) schrieb, trägt den zeitgenössischen Schmähbegriff für die aufsässige Jugend im Titel. Wir begegnen den als Typen gezeichneten Jugendlichen und ihrem charismatisch-großspurigen Anführer Freddy Borchert zunächst im Hallenbad (siehe Drehbuchauszug, ab Einstellung 5), wo sie noch kindlich-verspielt gestohlene Uhren darauf testen, ob sie wasserfest sind. Hier treffen sich auch der vom Vater aus dem Haus geworfene Freddy und sein Bruder Jan wieder; die anschließende Schlägerei mit zwei Bademeistern lässt sich noch als jugendlicher Übermut abtun. Der Ernst der Lage wird aber spätestens deutlich, als Freddy eine Pistole kauft (siehe Drehbuchauszug, Einstellung 174). Das Geschehen eskaliert dann nach dem misslungenen Überfall auf ein Postauto, weil in der Jugendbande Hierarchiekämpfe ausbrechen, die Freddy, der wie ein waidwundes Tier reagiert, nur noch schwerlich kontrollieren kann. Das erkennt auch Freddys intrigante »Braut« Sissy Bohl, die nun auf Jan setzt, der sich als nüchterner Entscheider präsentiert hat (siehe Drehbuchauszug, Einstellung 455). Von ihr geht die in die Katastrophe führende Idee aus, das Haus des italienischen Barbesitzers Garezzo auszurauben; noch dazu hetzt Sissy die Brüder gegeneinander auf. Während des Einbruchs kommt es schließlich zum Konflikt zwischen Sissy und Freddy, in dessen Folge Sissy sowohl auf den Vater des Hausbesitzers als auch auf Freddy schießt. Die Szene endet mit dem Eintreffen der Polizei. – Im Drehbuch sah das übrigens noch etwas anders aus… (siehe Drehbuchauszug, Einstellungen 542 bis 544).

In diese Kriminalhandlung sind zwei Beziehungsdramen eingelassen: Das erste spielt sich zwischen Freddy und seinem ‚schwachen‘ Vater ab, einem frustrierten Kriegsheimkehrer, der durch eine Bürgschaft verschuldet ist und dem es so verwehrt bleibt, am Wirtschaftswunder zu partizipieren. Seinen Frust lässt er zunächst an Freddy aus, später auch an Jan, so dass die Familie zerrüttet wird. Das Filmende deutet, übrigens weniger deutlich als das Drehbuch (siehe Drehbuchauszug, Einstellung 549), dann eine mögliche Versöhnung in diesem Generationenkonflikt, bei dem der Krieg als Politikum noch keine Rolle spielt, zumindest an. Ein zweites Beziehungsdrama spielt sich zwischen Freddy und Sissy ab, die sich von ihrem Freund einen möglichst schnellen sozialen Aufstieg erhofft; dazu sind ihr alle Mittel recht. So entpuppt sich das berechnende Mädchen auch als eigentlicher Motor der Eskalation, zumal sie Freddy mehr oder weniger kontrolliert; im Roman heißt es: »Er verfiel ihr immer mehr. Mit ihren erhöhten Ansprüchen wuchsen sein Wagemut und sein rücksichtloses Vorgehen.« Innerhalb dieser beiden Beziehungskomplexe ist zudem das Verhältnis der Brüder Freddy und Jan zu verorten, weil Jan nicht nur Freddys Position in den Konflikten mit dem Vater einnimmt, sondern auch, weil Jan von Sissy nach dem gescheiterten Postraub als Freddy-Ersatz ins Auge gefasst wird. Die Erzählung deutet eine Dreiecksgeschichte inklusive wechselseitiger Eifersucht aber schon früher an.

Die Halbstarken zielt zwar in der Organisation der Rezeption auf die viel diskutierte Jugendbewegung in den 1950er Jahren (Stichwort »Halbstarkenkrawalle«) und macht die Rebellion der Jugendlichen gegen die Gesellschaft zum Thema, allerdings steht die kriminelle Energie der Gang im Vordergrund. Es geht dem Film auf der Basis eines Zeitphänomens also darum, eine spannende Geschichte zu erzählen, nicht eigentlich um Zeitdiagnostik. Außerdem bleibt der durchaus reißerische Film seinen amerikanischen Vorbildern verhaftet. Insofern ist die Frage nach der ‚Authentizität’ des Werkes doch sehr eine Frage der Perspektive und kann eher aus heutiger Sicht positiv beantwortet werden. – Im Vorspann heißt es: »Dieser Film berichtet über die Taten einzelner Jugendlicher und ihres kriminellen Anführers, im Zwielicht von Erlebnisdrang und Verbrechen.« Diese zeittypische Berichtfiktion wird zudem pädagogisiert, indem man den Film als »Warnung« verstanden wissen will »für alle jungen Menschen, die in Gefahr sind, auf Abwege zu geraten« (vgl. zu solcher Art expliziter Pädagogik im Hollywoodfilm The Wild One). Freilich hat dies nicht nur mit Erziehung im Medium des Films zu tun, sondern man kann so unter dem Deckmantel der Warngeschichte auch in einer prüden Zeit relativ explizit eine reißerische und durchaus provokative Story erzählen, die von Auflehnung, Erotik, Gewalt, Sex, Waffen und schnellen Autos handelt (FSK: ab 16 Jahren).

Dieser partielle Aufstand vollzieht sich (noch) unter gesellschaftskonformen Vorzeichen, denn der naive Traum, den die Jugendlichen hier träumen, ist ein kleinbürgerlicher von sozialem Aufstieg und Familienleben (siehe Drehbuchauszug, ab Einstellung 307). Die eigene Kriminalität wird dabei durch das Verhalten der Eliten entschuldigt und zudem ‚pseudosozialdarwinistisch‘ legitimiert, wenn Freddy Jan erklärt: »Sieh‘ mal, mit den Brüdern musst‘e so umgehen, das ist Pädagogik, verstehst‘e? Wenn Du weiterkommen willst im Leben, dann darfst Du Dich nicht unterkriegen lassen. Wenn ich dem nicht auf den Kopf trete, dann tritt er mir auf den Kopf.« – Zehn Jahre später wird sich eine ganz andere Bewegung formieren…

Unter formalen Gesichtspunkten ist es Tressler, der für seinen auch kommerziell erfolgreichen Film 1957 das Filmband in Silber als bester Nachwuchsregisseur gewann, relativ überzeugend gelungen, das Lebensgefühl der Jugendlichen einzufangen. Abgesehen von dem pseudo-pädagogischen Vorspann setzt sein Jugend-, Kriminal- und Berlinfilm in medias res ein und stellt uns die Clique vor. Geschickt nähern wir uns der erzählten Welt aus der Perspektive eines Außenseiters: Zusammen mit Jan werden wir in das Gangleben (wie man heute sagt) rund um Freddy eingeführt. Die Figuren sprechen die Sprache der Zeit, ihr Jargon dynamisiert eine Handlung, die auf einen Samstag in der Großstadt Berlin verdichtet ist.

 

Der von Wenzel Lüdecke produzierte, nicht immer klischeefreie Schwarzweißfilm kann als temporeich erzählt bezeichnet werden, der Einsatz der Musik ist pointiert. Die modernen Songs charakterisieren den Lebensstil der Jugendlichen, auch wenn sie eher Dixie als Rock ‘n‘ Roll bevorzugen. Symptomatisch steht der Marsch, der versehentlich von den Jugendlichen in der Jukebox angespielt wird, für die Elterngeneration, über die man lacht. Filmisch sticht besonders die Kameraarbeit von Heinz Pehlke hervor, auch lebt das Werk von seinen guten und gutaussehenden Darstellern, allen voran von Horst Buchholz (1933-2003) und der Laienschauspielerin Karin Baal (*1940).

Die Halbstarken reloaded

Im Jahr 1996 erlebte das Werk eine Renaissance, wurde es doch unter der Regie von Urs Egger neu verfilmt (Produktion: Bernd Eichinger). Der Fernsehfilm orientierte sich aber zu präzise am Original und fand kaum eigene Zugänge zur Thematik. Bei dieser von der Kritik geschmähten Produktion handelt es sich nicht um eine formale oder inhaltliche Aktualisierung, sondern um eine rein auf Unterhaltung zielende nostalgische Hommage. Folgerichtig beginnt das Werk, nach einer cineastischen Verbeugung vor Horst Buchholz, im Kino. Und als Hommage funktioniert der Film gut; dazu trug auch die damals erste Riege deutscher Jungschauspieler bei.

Bemerkenswert sind – neben einigen mehr oder weniger gelungenen kleinen Abweichungen – zwei Veränderungen in der nun in Köln spielenden Handlung: So stirbt die weniger intrigant gezeichnete Sissy im Handgemenge am Ende des Films: »Freddy«, sagt sie, »ich glaube, wir haben verloren.« Dazu kommt die formale Abweichung, dass die Geschichte von zwei Voice-Over-Erzählern aus der Rückschau kommentiert wird, nämlich der toten Sissy und dem ‚halbtoten‘ Freddy, der nach seiner kleinkriminellen Karriere tatsächlich als Briefträger bei der Post angeheuert hat und dessen Träume im Spießertum untergegangen sind.

Die Halbstarken. Ein packender Zeitroman

Will Trempers Erzählung Die Halbstarken aus dem Jahr 1956 liegt dem Drehbuch zugrunde. Es gibt große Gemeinsamkeiten zwischen Erzählung, Drehbuch und Film; einige der Unterschiede sind schon durch die Drehbuchauszüge aufgezeigt. Auch nimmt der Film deutlicher als der Roman den pädagogischen Warntopos an einigen Stellen im Erzählerkommentar auf und legt Wert auf eine Wandlung der Mitglieder der Gang. So zeigt am Ende der Handlung auch Freddy deutlich Reue: »‘Das…, das wollte ich nicht…, das… nicht…‘, würgt er mühsam hervor.«

Formal handelt es sich um ein Produkt der Arbeit im Medienverbund, das mit Szenenphotos aus dem Film in der Reihe Der bunte TOXI Film-Roman im Langhelm-Verlag (Hannover) veröffentlicht wurde. Der Roman ist (auch im Vergleich zum Film) konventionell strukturiert, aber handwerklich solide gearbeitet und ebenfalls temporeich. Besonderes Augenmerk wird auf die erzählte Zeit gelegt, gliedern doch 28 exakte Zeitaufrufe (von 15.22 bis 2.05 Uhr) den Text (bei dem man besser von einer Erzählung als von einem Roman spricht). Ähnlich wie den Film zeichnet den »Zeitroman« eine große Dynamik aus, die auch durch die Sprache erzeugt wird: Das Werk entfaltet sich aus einer Mixtur von im Stil einer Reportage berichtender Erzählerrede und von am Jugendjargon orientierten Figurendialogen. (Störend nimmt sich für den heutigen Leser allerdings die lautsprachliche Nachbildung der Rede nicht-muttersprachlicher Figuren aus.)

Die Halbstarken ist der erste Titel in der neuen E-Book-Reihe Filme zum Lesen, die es sich zur Aufgabe macht, literarische Werke, die Filmklassikern zugrundeliegen, in Form eines neuen Mediums wieder in den Blick zu nehmen. Das E-Book folgt dem ungekürzten Text der Erstausgabe von 1956, die in der Reihe Der bunte TOXI Film-Roman im Langhelm-Verlag (Hannover) erschienen ist. Der Text wurde behutsam der aktuellen Rechtschreibung angepasst.

Einen guten Überblick über den Kontext von Die Halbstarken bietet der Aufsatz von Jürgen Felix: Rebellische Jugend. Die „Halbstarken“-Filme: Vorbilder und Nachbildungen. In: Schauding, Michael (Hrsg.): Positionen deutscher Filmgeschichte. 100 Jahre Kinematografie: Strukturen, Diskurse, Kontexte. München: Diskurs-Film-Verlag: 1996. (Diskurs Film. 8.) S. 309-328.

Die Halbstarken. Ein packender Zeitroman

15 Uhr 22

Freddy blickt noch einmal zum Eingang des Hallenbades zurück.

Die anderen sind stehengeblieben. Ihre Gesichter verraten keine Angst. Sie schauen nicht zum Eingang zurück. Sie sehen ihren siebzehnjährigen Boss an. Und Freddy grinst ...

»Meine Herren – Uhrenvergleich!«

Die nackten schmächtigen Arme fliegen hoch. Die goldenen Armbanduhren blitzen im Nachmittagssonnenlicht, das schräg durch die hohen Glaswände des Hallenbades fällt.

»Tauchprobe, Leute!«

Meterhoch spritzt das grünschimmernde Wasser, als sie sich lässig über die Schulter in das Becken kippen lassen. Das Hallenbad dröhnt vom Geschrei. Die klaren Linien des Bassins fließen ineinander. Sechshundert Halbwüchsige, Jungen und Mädchen, haben ihr Samstagnachmittags-Vergnügen.

Und niemand achtet auf die beiden Polizisten, die am Eingang erscheinen und resignierend das Gewimmel der Badehosen und nackten Leiber betrachten.

»Zwecklos ...«, sagt der Hauptwachtmeister und winkt dem Kollegen zu. Über Sprechfunk meldet der Funkwagen: »Verfolgung der Täter ergebnislos abgebrochen.«

»Meine steht schon!«, kräht Wölfi, der Knirps, und schüttelt seine Armbanduhr.

Spuckend und prustend taucht Freddy auf. »Was ...? Ich hab‘ noch nie Ramsch geklaut – musst‘ Dir mal merken!« Und er taucht den kleinen rothaarigen Kopf unter das Wasser, bis Wölfi blaurot im Gesicht das Weite sucht.

»Mann!« Willi lacht sich kaputt. »Das Gesicht von dem Alten, als die Schaufensterscheibe ‘runterkam – der dachte, die Russen kommen!«

Wassertretend halten sie ein großes Palaver ab. Mädchen kreischen, und plötzlich treibt ein schmales gelbes Stück Stoff, das für zweiteilige Badeanzüge nun einmal unerlässlich ist, auf den Wellen. Das »Huch!« und »Hach!« und Rufen nach dem Bademeister geht im Toben und Kreischen völlig unter.

Freddy droht spöttisch mit dem Zeigefinger.

»Mario, benimm Dich, oder Du musst nach Hause und die Lateinarbeit machen ...«

Lachend treiben sie auf dem Rücken um Freddy. Mario und Willi und, vorsichtig Abstand haltend, Wölfi. Mario, der schlanke Primaner, der Phantasievolle mit dem hübschen Römerkopf, der gar nicht in die Bande passt; Sohn reicher Eltern und von Freddy um sein sorgenloses Elternhaus heimlich beneidet. Willi, der Fleischergeselle, der Muskelprotz mit der Krawallstimme und dem ewigen Kaugummi; der ohne viel nachzudenken alles tut, was Freddy befiehlt. Und der rotznäsige Rotschopf Wölfi mit den sehnigen Drahtbeinen, für den Freddy der Abgott ist. Sie treiben um Freddy herum und lassen den »Boss« nicht aus den Augen, bereit, auf das kleinste Zeichen von ihm zu reagieren. Sie haben ihre »großen Vorbilder« in Filmen gut studiert. Zu gut studiert.

Doch Freddy hasst in diesem Augenblick ihre nervöse, ständig lauernde Aufmerksamkeit. Er wühlt sich in das grüne Chlorwasser, schlägt weiße Wellen und sucht sehnsüchtig nach Sissy.

Sissy liegt drüben auf dem warmen, trockenen Marmorpodest, unter dem die Heizungsröhren laufen. Sie liegt auf dem Rücken und schaut seit fünf Minuten Spinnen zu, die in der obersten Ecke des schrägen Daches ihre Netze ziehen. Oder schläft sie?

Freddy presst die Lippen zusammen und wirft sich wieder auf den Rücken. Das macht sie aus Gemeinheit, die dämliche Gans. Dabei hat sie uns genau gesehen, schon beim Reinkommen. Das ist so ihre Art. Und so etwas liebt man. Wegen der stellt man alles an. Was soll ich denn noch tun? Verdammtes Biest. Möchte mal wissen, was sie gesagt hätte, wenn die Polente hier aufgetaucht wäre. Ob sie dann auch noch so stur an die Decke gelinst hätte? Dann hätt‘ sie vielleicht Augen gemacht, Mann! Die Polizisten waren aber auch zu blöde. Die waren doch dicht hinter uns her. Möchte wetten, dass die uns gesehen haben, wie wir ins Bad geflitzt sind.

»Jan ...!«

Jan. Der Schrei ist Freddy im Moment des Erkennens einfach so herausgeschlüpft. Jan. Das ist tatsächlich Jan.

Er richtet sich auf und winkt. Die anderen werden aufmerksam und winken ebenfalls. Schon brüllen Mario und Willi mit:

»Jan!«

Freddy sieht sie wütend an. Sie wissen gar nicht, wem sie zubrüllen. Idioten. Er beeilt sich plötzlich, krault auf den Beckenrand los. Die anderen hinter ihm her.

Der blonde Junge auf dem Sprungturm blickt noch ein bisschen unsicher auf die Korona hinunter, die jetzt so eilig auf ihn zu schwimmt. Dann beeilt auch er sich, vom Sprungturm herunterzukommen.

Am Fuß der Leiter treffen sie sich.

»Tach ...!«

Schämt sich Freddy der Wiedersehensfreude? Er klatscht Jan links und rechts auf die Schultern. »Mensch, Jan ...«

»Tach, Freddy«, nickt Jan. Er ist offensichtlich verlegen. Sie schauen sich an. Sie schlagen sich wieder auf die Schultern. Sie drücken sich die Hände und wischen sich über die Gesichter.

»Verdammt!«, sagt Freddy. »Ist das komisch!«, und ehe Jan eine Antwort findet, stößt Freddy ihn wieder an: »Biste allein? ... Oder ist‘s Dir peinlich?«

»Warum ... nee.«

Da sind auch schon die anderen.

»Mein Bruder!«, stellt Freddy vor.

»Jan ... mein Bruder. Ist das vielleicht komisch?«

Sie nicken und drücken Jan kräftig die Hand. Sie tun erfreut und sind erstaunt. Das ist Freddys Bruder? Der? Seit wann hat Freddy eigentlich ‘n Bruder?

»Nu steht man hier nicht so ‘rum«, lärmt Freddy aufgekratzt, »nachher denken die noch, wir sind vom Fachverband für Uhrenhändler ...!«

Er zieht Jan mit sich. »Was machsten so? ... Komm, wir legen uns ‘n bisschen auf‘n Bauch ... Oder haste Angst?«

Jan wehrt verlegen ab. Warum sollte er Angst haben. Fragen stellt der Freddy. Genau noch wie früher, als er noch nicht von Zuhause ausgerückt war. Sie geraten in ein Knäuel laufender Jungen, den Freddy grob auseinandertreibt. »Komm ...!«

Die anderen trotten hinterher und durchbohren Jans Rücken mit Blicken. Ziemlich merkwürdig das mit dem Bruder, der sieht so anders aus, ist so ganz anders. Unheimlich. Hoffentlich verschwindet er bald.

Da liegt Sissy – blond, jung – 16 Jahre alt. Sie liegt jetzt auf dem Bauch und dreht ihnen den Rücken zu. Einen ganz besonders wohlproportionierten Rücken. Freddy stellt seinen nackten Fuß auf die sanfte Wölbung und wendet sich an Jan.

»Kennst Du meine Braut?«

Jan schüttelt den Kopf. »Nein ...«

»Sissy ist ‘ne Wolke! ... ‘ne Atomwolke! Was, Sissy ...?«

Nur Freddy merkt, dass sie ungehalten ist, als sie langsam den Kopf wendet und Jan mustert.

»Ich hab‘ Dir was mitgebracht!«, sagt Freddy und stellt Jan vor.

Jan fühlt bei diesem merkwürdig langsamen Blick, den das Mädchen hat, eine leise Beklommenheit in sich aufsteigen. Grüngraue, etwas schräg geschnittene Augen von einer Sanftheit, wie Tieraugen sanft sein können – und doch ...

»Das soll Dein Bruder sein?« Ihre Stimme klingt rauh und noch ungefestigt. Schon wieder ein Neuer. Kann man denn nie mit Freddy allein sein?

»Gefällt er Dir nicht?« Freddy schlägt einen herausfordernden Ton an. Mit dem Fuß schiebt er Sissy zur Seite, setzt sich und zieht auch seinen Bruder neben sich.

Mario und Willi klemmen sich eilfertig neben Sissy und zwinkern ihr zu. Der Bruder! ... Wie findest Du‘n das? Aber Sissy zeigt nicht, was sie denkt.

Jans Blick ist an den Armbanduhren hängengeblieben, die Freddy an jedem Handgelenk trägt. Freddy nestelt eine los. Er lacht. »Als ob ich es geahnt hätte, dass ich Dich hier treffe. Hier, nimm die eine ... Oder willste die? Sind alle beide gleich. Siebzehn Steine, wasserdicht, Schweizer Fabrikat – und richtiges Gold. Mann. Die kannste nehmen. Ich schenk‘ sie Dir!«

Jan ist ziemlich verdattert. Wieso kann sein Bruder goldene Uhren verschenken? Aber er nimmt sie.

»Gold?«

Er legt sie um sein Handgelenk. Aber dann weiß er nicht recht … »Die muss doch eine Stange Geld gekostet haben«, meint er.

Wölfi prustet los ...

Freddy schnellt herum. »Schieb ab!« Er ist böse. Jan gegenüber fühlt er plötzlich, dass ihr »Spaß« diesmal eine kriminelle Seite hatte. »Schieß los und besorg ‘n paar Zigaretten!«

 

Wölfi läuft los.

Sissy tut so, als kümmere sie sich nicht um die Jungen.

Doch jedes Wort, das gesprochen wird, nimmt sie auf. Unter den halbgesenkten Lidern beobachtet sie alles, besonders diesen Bruder von Freddy.

Jan spürt das; es macht ihn unruhig. Er fährt zusammen, als Freddy ihm klatschend auf die Schulter schlägt.

»Komm, erzähl mal, was gibt‘s denn Neues so ... Ich meine zu Hause und so ...«

»Och, alles okay«, antwortet Jan abwesend und nestelt an der neuen Uhr herum.

»Seit wann denn das? Hat der Alte etwa alles bezahlt?«

»Nö ...« Jan fühlt sich unbehaglich bei der Fragerei vor aller Ohren.

»So schnell wird er die Fünftausend auch nicht ausspucken können!«

»Fünftausend Mark ...?«, fragt Sissy erstaunt dazwischen.

Ihr plötzliches Interesse kommt so überraschend, dass alle in schallendes Gelächter ausbrechen.

»Das möchteste wissen, Goldstück!« Freddy gibt ihr einen Klaps. »Is aber nichts für kleine Mädchen ... Geh‘ lieber nochmal ins Wasser – heute ist Samstag!«

Die Jungen grölen.

Sissy erhebt sich beleidigt und geht mit dem hübschen Hinterteil wackelnd zum Bassin.

Freddy hat den Blick bemerkt, den Jan ihr nachwirft, und fragt stolz: »Is sie ‘ne Wucht? ... Na, Mann!«

Jan bleibt die Antwort schuldig.

Mario beugt sich vor und tippt Jan an die Schulter. »Was machst Du heute Abend, Jan? ... Willst Du was Hübsches erleben?« Freddy hebt im Sitzen ein Bein und stößt es Mario ins Kreuz, dass er kopfüber nach vorn fällt und sich stöhnend das Knie reibt, mit dem er auf der Bassinkante aufschlug. »Willst Du was Nettes erleben?«, brüllt Freddy hinterher. Und zeigt schnell an die Stirn.

Wölfi kommt zurück und bringt Zigaretten. »Alles Idioten. Alles Idioten!«, erklärt Freddy dem Bruder. »Zigarette?« Jan lehnt verwirrt ab. Er versteht Freddy nicht. Er versteht vor allem die Jungen nicht, die widerstandslos Freddys Ausbrüche hinnehmen.

Plötzlich steht ein bulliger, untersetzter Bademeister in Holzpantinen vor ihnen. »Wahnsinnig geworden?«, knurrt der.

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