Das Mitternachtsschiff

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Das Mitternachtsschiff
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Wilfried Schneider

DAS MITTERNACHTSSCHIFF

Ein kulturhistorischer Roman

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Umschlaggestaltung Sebastian Schneider und Sabrina Kruse

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Die Handlung dieses romanhaften Reiseberichts beschreibt eine bereits von Herodot (484 – 425 v.u.Z.) erwähnte Umsegelung Afrikas durch die Phöniker um 600 vor unserer Zeitrechnung. Sie beginnt an den Ufern des Roten Meeres, führt durch den Golf von Aden an der afrikanischen Küste des Indischen Ozeans entlang über die Straße von Mozambique zum Kap der Guten Hoffnung, dann immer in Sichtweite zur Westküste Afrikas nordwärts bis zur spanischen Stadt Cadiz am Atlantischen Ozean, durch die Straße von Gibraltar weiter im Mittelmeer zum Nildelta, wo sie unweit ihres Ausgangspunktes endet. Diese Expedition, die über zweieinhalb Jahrtausende zurück liegt, überwindet die unglaubliche Distanz von mehr als zwanzigtausend Kilometern und übertrifft die Reisestrecke des Christoph Kolumbus um ein Mehrfaches.

Geografische Namen späterer Epochen, zum Beispiel solche griechischen Ursprungs, wurden in diesem Buch vermieden. Verwendet wurden daher Sidonien für Phönikien, Kemet für Ägypten, Libyen für das gesamte Afrika, Menfe ist Memphis, die zeitweilige Hauptstadt Ägyptens. Quart-hadascht ist Karthago, Ueset ist Theben und Abdju ist Abydos. Zor ist Tyros, eine bedeutende Hafenstadt Phönikiens. Hapi ist die Bezeichnung für den Nil, die großen Ströme meinen Euphrat und Tigris. Die Bezeichnungen Inneres Meer und Großes Günes Meer stehen für das Mittelmeer, die Säulen des Melkart sind die Meerenge von Gibraltar. Gadir ist das heutige Cadiz, Ereb bezeichnet Europa. Der Atlantische Ozean trägt unterschiedliche Namen, er heißt Graues oder Dunkles Meer.

Für den Stadtstaat Ne-ir gibt es keinen historischen Hintergrund. Das Gebiet des fiktiven Stammes der Nga, das Ophir des Admirals, liegt auf dem Gebiet des heutigen Tansanias. Das Land der Giraffenjäger wäre an der südlichen Küste Westafrikas zu finden, die rätselhaften Kirini auf dem Territorium des heutigen Kamerun.

Die meisten Informationen zur alten Welt wurden den Werken »Götterwelt und Pharaonenreich« von Zahi Hawass und der »Kulturgeschichte Afrikas« von Leo Frobenius entnommen. Für bestimmte Verse des Sängers Pabener wurde Sekundärliteratur zur Bibel genutzt. Andere Fakten, zum Beispiel zur Medizin im alten Griechenland und zur altafrikanischen Heilkunst, entstammen Veröffentlichungen des Reclam Verlags.

Die Vegetation in den beschriebenen Regionen, vor allem die an der Ostküste Afrikas, glich wahrscheinlich nicht ganz der heutigen. Es wurde versucht, die Fahrt so darzustellen, wie die Menschen sie mit ihrem damaligen Wissen erlebt haben könnten. So hat zum Beispiel die Pflanzenwelt Afrikas keine Namen und die Wale am Südkap sind große Fische.

Über Konstruktion und Größe der mit Segeln ausgestatteten, seetüchtigen Ruderschiffe jener fernen Zeit existieren heute keine genauen Angaben mehr.

Verzeichnis der wichtigsten handelnden Personen

Schiffsbesatzungen:


Abdi-ashirta Admiral Phönikiens und der Stadt Tyros
Ir-nim Schiffsführer
Sipti-balu Schiffsführer
Aduna Schiffsführer
Zimri-da Schiffsführer
Gazariga Segelmeister
Ragdaya Steuermann
Milk-ilu Steuermann
Guwali Schiffsmeister
Ayalu Rudermeister
Paros Arzt
Sudumu Aufseher
Sakinu Leibwächter des Admirals
Uliliya Leibwächter des Admirals
Janhamu Ruderer
Talek Ruderer
Nagiranu Ruderer
Mecht-eft Ruderer
Arny Ruderer
Bin-yartana Ruderer
Ullupu Ruderer
Pabener Ruderer
Sohar Ruderer
Djedkare Ruderer, ehemals ägyptischer Bauer
Pan-isis Ruderer, ehemals ägyptischer Bauer
Bak-Ptah Ruderer, ehemals ägyptischer Bauer

Andere Personen und historische Persönlichkeiten:


Necho Pharao
Kerifer-Neith Priester der Göttin Neith
Neferheres Hofdame in Memphis, Nechos Tochter
Sothur Gardeoffizier und ihr Geliebter
Horudja Gelehrter aus Memphis
Ochoch afrikanischer Stammesfürst
Sil-r-kane Mädchen im heutigen Kamerun auf der Westseite Afrikas
Bar-kap Kommandant in Gadir
Ped-Osiris Ägyptischer Abenteurer

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Über das Buch

Personenregister

 

Teil I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Teil II

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Teil III

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Teil IV

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Teil V

Kapitel 1

Kapitel 2

Teil VI

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Teil VII

Kapitel 1

Kapitel 2

Teil VIII

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Teil IX

Kapitel 1

Kapitel 2

Teil X

Kapitel 1

Kapitel 2

Teil XI

Kapitel 1

Kapitel 2

Teil XII

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Teil XIII

Kapitel 1

Kapitel 2

Teil XIV

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Teil XV

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Teil XVI

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Teil XVII

Kapitel 1

Kapitel 2

Teil XVIII

Kapitel 1

Kapitel 2

I
Jetzt beginnt meine Zeitrechnung
Abdi-ashirta von Zor
1

»Schaut gen Libanon! Sein Fels atmet Melkarts Zorn! Tod! Tod für diese Stadt Zor!«

Wie eine Furie tobte die Alte durch die Gassen. Zwei fluchende Lastträger warfen der Schreienden einen Knüppel nach: »Verschwinde! Näh dein Maul zu!«

Der Gesang der Hirten, die auf den Weiden um Zor über die Ziegen wachten, verstummte. Ihre erregten Rufe drangen in die Ostsiedlung. Auf den flachen Hausdächern lagen zur Stunde vor dem Mittag nur wenige Alte, sie blickten in die fernen Berge, die den Wind gebaren.

Luftwirbel trieben Staub zwischen die Häuser und rissen an den Fensterläden. Im Färberviertel deckten Purpurmeister Tücher auf die stinkenden Urinfässer vor ihren Werkstätten. Vorübergehende nutzten sie, wie es die Ämter angeordnet hatten. Der Wind trug den Gestank des Schneckensuds zum Stadthafen, in dem kaum zwei Handvoll Schiffe lagen. Ihre Masten bewegten sich wie dürre Arme streitender Marktfrauen.

Zwei Ratsboten pressten sich schutzsuchend an die Hauswand, als sie ihre Stöcke gegen die Tür schlugen. »Eine Nachricht für den Großen Admiral unserer Stadt Zor!«

Abdi-ashirta betrachtete ein zweites Mal die Zeichen auf dem Papyrus, die ihn nach Sonnenuntergang des neuen Abends in das Stadthaus riefen. Die Worte waren freundlich gesetzt, die Gesandten bezeugte ihren Respekt, und sie hielten zum Abschied die Knie tiefer gebeugt als üblich. Der Admiral stellte die Rolle in seine Schriftentruhe und stieg über die morsche Leiter auf das Dach. Die Tritte knarrten. Nun war der Auftrag an seinen Schiffszimmermann, eine neue Treppe zu schlagen, hinfällig geworden.

Abdi-ashirta zog die Matte zurecht, setzte sich und kreuzte die Beine.

»Du hast die Meeresluft nicht hinter dein Schiff gesogen, meine Weinterrassen warten auf den Regen dieser Zeit«, hatte ihm ein Nachbar zugerufen, als er nach fünf Dekaden in sein Haus zurückgekehrt war.

»Reglos ruht die Stadt am Wasser«, sprach der Admiral die Zeile eines Liedes nach. »Berührt sind die Männer vom Willen der Macht«, fügte er mit seinen Worten hinzu.

Das Haus lag erhöht, den Steinhängen näher als dem Meer. Über den Tag stützte er oft seine Knie gegen den Rauchabzug, blickte auf den Festlandshafen und den wie ein Band sich hinziehenden Damm nach Bursa. Er erinnerte sich an die Erzählungen seiner Mutter, die ihn vor langer Zeit als schreiendes Bündel auf die Insel getragen hatte.

Wolken zerrissen das Sonnenlicht, ihre Schatten zogen schnell wie dahin jagende Pferde auf das Meer und segelten nach Südwest zur Lotosblüte, in die Welt des göttlichen Hapi.

Kratzende Besen störten die Stille, Dienstleute säuberten die mit Platten belegten Gassen des Ostviertels, einer der Vorzüge, die Zors Stadtrat jenen gewährte, die in seinen Diensten standen. Hier drängten die Wohnungen sich nicht so dicht aneinander wie in anderen Bezirken der Siedlung. In der Hafenregion schienen die Dächer eine einzige Fläche zu bilden, von weitem glichen sie eher einem verlassenen Markt als Obergeschossen, sie waren auch nicht durch Planken gesichert wie die Villen vor den Bergen. Das Geflecht von Häusern und Gassen zog sich zur Nördlichen Mauer, deren breites Tor die Reisenden auf der Straße von Sidon her einsaugte.

Der Wind erwachte von Neuem. Die Insel entzog sich den Blicken, wieder wehten die Staubschleier zum Meer, ein ungewöhnliches Spiel der Berge, zur Jahreszeit der tiefen Sonne ihren Atem auf die Abendseite zu blasen. Abdi-ashirta lehnte sich über die Planken. Schreiende Jungen zogen am Haus vorbei und jagten einen kläffenden Köter durch die Gasse, eine ewige Mutprobe, an der auch er sich bis zu jenem Tag beteiligt hatte, da das Nachbarmädchen Talaya traurig ihr Gesicht abwandte.

Am Abend dieses längst vergangenen Tages hatte er den Gefährten seiner Kindheit eine Geschichte des Großvaters Samranu erzählt, die Geschichte der bei einem großen salzigen See gelegenen Stadt Remora, die an zwei Tagen und in einer Nacht, als der Boden bebte, brennende Luft aus der Erde stieg und das Land sich verflüssigte, von einer grausamen Macht in die Tiefe gezogen wurde.

»Dein Großvater auch? Und er lebt noch?«, hatten die Jungen gespottet und weiter ihr Sklavenjäger-Spiel getrieben, Arme waren Masten und Stofffetzen die Segel. Die Starken kämpften als Schiffsführer und Soldaten, die Kleinen wurden gefangen und auf dem Markt, es war der verwilderte Garten einer leeren Villa, zum Verkauf ausgestellt. Jeder wollte Pirat sein oder König oder der Schreckliche Einäugige, ein damals berühmter Bootsmann. Talaya hatte seine Hand genommen und ihn weggezogen.

»Was ist mit den Menschen in Remora geschehen?«, hatte sie gefragt.

»Manche konnten weglaufen, die haben später die Stadt neu gebaut und wieder Asphalt aus dem Stein gegraben. Das machte sie berühmt.«

Die Villen der Ostviertel waren von Gärten umgeben, die Siedlung lag entfernt von den Zeilen der Färber und Schlachter, um nicht deren Gerüchen und dem Lärm ausgesetzt zu sein. Abdi-ashirta scharrte im Laub der Eiche, die schon von den Vorbewohnern gepflanzt worden war und ihre Zweige längst weit über das Dach streckte. »Samranu«, sagte er laut. Er hatte jeden Tag im Schatten des großen Baumes auf ihn, den Großvater und Gelehrten, gewartet. Sein Kopf begann in vergangen Tagen zu leben. Abdi-ashirta dehnte die Schultern. »Nur die Alten sehen die Bilder aus der Kindheit und Menschen vor dem Tod. Beides aber bin ich nicht!«, sagte er halblaut in Richtung des Baumes. »Ich bin der Admiral der Stadt Zor vor Großer Fahrt!« Er lachte über seine Worte. Dann stieg er zurück in die Luke.

Im geräumigen, kühlen Hausraum öffnete er die alte Seeamtstruhe und rollte einen Papyrus über den Tisch: Die bekannte Welt, gezeichnet vom Großvater und ihm hinterlassen. Mit dem Finger zog er die sidonischen Handelswege nach. Kaum merkbar ritzte sein Nagel eine Spur von den Säulen des Melkart nach Mitternacht in das Kalte Meer. Hier hatten sich die Hethiter unter seinen Männern auf die Planken geworfen und ihre Götter um Hilfe angefleht, als eine Haut das dunkle Wasser überzog. Er beachtete die Linien nicht, die Zor mit den Küsten Asias und Libyens verbanden und verwirrend um die griechischen Welten herum führten. Das waren gewohnte sidonische Wege. Samranu hatte den Papyrus so geschnitten, dass er zur Kugel gebogen werden konnte.

»Gibt es auf der anderen Hälfte auch Küsten?«, hatte der Junge gefragt.

»Finde sie!« war die Antwort des Gelehrten gewesen. Der Blick fiel auf Libyen, auf die Lotosblüte, das Delta des Hapi. Samranus Zeichnung endete mit dem Lazurwasser. »Kusch« hatte er daneben geschrieben und »Punt« als Frage. Die Küstenlinien brachen hier ab, und sie reichten auch auf der Abendseite kaum zehn Iteru über die Säulen des Melkart hinaus. Das Südliche Haus war leer. Vorsichtig griff er nach den Tontafeln auf dem Kistenboden und breitete sie auf dem Tisch aus. Das letzte Mal hatte er sie an dem seltsamen Tag in den Händen gehalten, als ein dunkler Schatten über die Sonne gekrochen war und der Rat ihn im Hafen von Bursa als Admiral ausgerufen hatte. Ein Binsenstift kam ihm in die Finger, er legte ihn zurück in die Auskerbung der Palette.

 

»Nurfret«, sagte er und wiederholte den Namen. Er hatte ihr Gesicht mit dem Rohr auf den Ton gezeichnet, so wie auch der Großvater die Tafeln beschrieb, die sidonisches Wissen für die Ewigkeit retten sollten. Das Profil verriet die noch ungeschickte Hand des Kindes. Von ihrer mit Rot und Schwarz gefärbten Gestalt hob sich das mit Gold getönte Gesicht ab, ein Zeichen besonderer Verehrung.

Er dachte daran, wie er in die Berge gelaufen war, nach farbigen Erden zu suchen. Samranu hatte die Frau gebracht, als die Eltern nach Quart-hadascht übersiedeln mussten. Sie diente dem Haus und dem Kind und war dem Großvater Gefährtin. Nurfret, die Witwe eines kemetischen Freundes, mit dem sie am assyrischen Hof gelebt hatte.

»Nurfret stiehlt mir dein Ohr«, hatte der Großvater geklagt, wenn sie Kemet als blühenden Garten besang. Lustig hatten seine Augen dabei geblinzelt.

Nurfret lehrte das Kind die kemetische Volksschrift, noch bevor er im Haus des Lebens die sidonischen Zeichen schrieb. Die Übungstafeln waren längst gebrochen und zu neuen geformt, eine aber hatte die Zeit überdauert, auf sie hatte er den Skarabäus geritzt. Lautzeichen, die der alten Bilderschrift glichen, hatte er besonders gern geübt. Nurfrets Geist führte ihn durch seine Kindheit, ihre Liebe zu Kemet lebte auch in ihm und weckte die Sehnsucht nach diesem Land. Wie sie, sah er in Hathor und Seth keine Wesen, sondern die Eigenschaften, die sie verkörperten.

Er holte acht kleine Tafeln aus der Truhe und lächelte beim Anblick der kemetischen Götter, die seine Fantasie ihn, Nurfrets Beschreibungen folgend, einst zeichnen ließ. Vorsichtig schob er die Tafel des Osiris über den Papyrus, rückte sie zum Großen Fluss am Nordende des Inneren Meeres, das Ziel des ersten Auftrags, den Hir-Rectar ihm erteilt hatte. Hier war der betrunkene Rudermeister an einem dunklen Abend über die Wandung gefallen. Niemand war ihm zu Hilfe geeilt, der Pockennarbige aus Zors Hafenviertel hatte die Peitsche zu oft gebraucht und kaum die Zunge. Der Mann war zum Südufer geschwommen, hatte am Morgen nach einem Boot gerufen und eine ältere Frau zum Schiff gebracht, eine Sidonerin aus Gebal, Magd eines Piraten und vor Jahren an diese Mündung geflohen, lebte sie nun bei den Einheimischen. Hoffnungsvoll hatte sie Abdi-ashirta nach einem Seeweg in den Norden gefragt, doch die Frau hatte nur hohe Berge angedeutet, die über den Wolken weiter wuchsen und aus denen fremde Händler Salz in die befahrbare Welt trugen.

Abdi-ashirta schob Osiris an die Küste Quart-hadaschts. In seinem zweiten Jahr als Admiral hatte Zors Stadtrat ihn beauftragt, im geheimen Kriegshafen herauszufinden, wie es den Siedlern gelungen war, Schiffe an Ketten hoch zu ziehen. Er dachte an Hir-Rectars Enttäuschung, als er berichtete, dass diese Sicherung in Bursa nicht möglich war.

Das Meer hinter den Säulen, das Wasser im Norden von Asias Küsten, all das waren bekannte Welten. Die eilige Botschaft bereits am dritten Tag seiner Rückkehr nach Zor verhieß jedoch einen Auftrag, der keineswegs nach den gewohnten Routen verlangte. Noch einmal griff er nach Osiris, dessen Haut verblasst war, obwohl er saftiges Gras gerissen hatte.

Eines Abends hatte Nurfret die Pilgerfahrt nach Abdju besungen. Aus ihrem Mund klang es, als trieben die Priester tatsächlich im Boot über den Hapi und vollführten nicht die symbolische Handlung. Er setzte den grünblassen Osiris auf Zor und rückte den falkenköpfigen Horus daneben, der das Innere Meer vor der Stadt füllte. Dem Beschützer der Könige folgte Hathor, die kuhköpfige Himmelsgöttin, die Sonne zwischen ihren Hörnern lag über der Lotosblüte. Er fasste die Tafel, auf die er damals eine von der Schläfe geschnittene Locke geklebt hatte. Das war Chon, Mondgott und Kind. Ptah, Schutzgott von Menfe, der den Kreis bedeckte, das Zeichen der Stadt. Die Augen hatte er aus der missglückten Schüssel eines Handwerkers gebrochen, die Glasscherben steckten auch jetzt noch im Ton.

Von einer besonders großen Tafel schaute ihn Amun-Re an, diesen wichtigen Gott hatte er als Riesen geritzt. Mit ihm war er am Ende der bekannten Welt angekommen, in Nub, dem Goldland, und am Ausgang des Lazurwassers. Aus der Kiste folgten Ma‘at, die Göttin der Ordnung, die für Nurfret wichtig gewesen war, wenn er seine Schreibgeräte nicht weggeräumt hatte und Seth, Gott des Gegenteils. »Du bist sein bester Diener«, hatte sie ihn manchmal getadelt. Auch Sobek, das Krokodil und Anubis, der Schakal, kamen auf Samranus Weltkarte. Wie vertraut die kemetischen Bilder waren!

Die Götterlinie endete weit im Süden, in einer Welt, die des Großvaters Hand nicht gezeichnet hatte. »Nein«, dachte er, »zu diesem Ziel gibt es keinen Weg. Noch nicht.«

Er betrachtete die ungeschickten Zeichnungen seiner Kindheit, sah das Bild der Kemetin, die so stolz gewesen war, dass die Frau eines ihren Lieblingsgott Aton anbetenden Pharaos den gleichen Namen trug wie sie. Noch einmal überblickte er seine Götterlinie, die mit Ma‘at die bekannte Welt verließ. Anubis, der Hundegott, bedeckte ein leeres Land, das nicht einmal in den Fantasien von Zors Erdzeichnern vorkam.

»Dorthin nicht!« rief Abdi-ashirta dem Gott der Unterwelt zu. »Der Süden ist ein sidonischer Traum. Die Jungen, die heute Sklavenjäger spielen, werden vielleicht die Schiffe in ein südliches Meer steuern, wenn die Götter Kemets Herrschern erlauben, das Lazurwasser zu öffnen.« Er packte die Bilder in die Truhe zurück. »Wie oft haben wir den Gaslonim getanzt. Aber einmal haben die Räuber die Wächter besiegt.«

Der Abend kam, und er stieg noch einmal auf das Dach seines Hauses, um das nun dunkle Zor zu betrachten. Die Schiffsmasten hoben sich nicht vom Nachthimmel ab, die Pollerfackeln zogen eine Lichtspur zur Werft, in der auch sein Schiff ruhte. Manchmal vertrieb der Wind die Wolken vom halben Mond, dessen mattes Licht die Gestalt des Admirals auf dem Lehm nachbildete. Er stellte sich neben den Rauchschacht.

»Wenn dein Kopf bei diesem Himmelsstand Chons zum Dachrand reicht, wirst du auf ein Schiff gehen.« Wie heute hatte der Mond eine Handbreit über der Zeder im Garten eines Ratsoffiziers gestanden. Samranu hatte die Götter gern angerufen. Ihre sidonischen Namen trug er selten im Mund.

Der Schatten hatte den Kopf verloren, da war Abdi-ashirta kaum zwölf Jahre und schneller gewachsen als die Gefährten der Kindheit, nach noch einmal zwölf Jahren war er Schiffsführer, die gleiche Zeitspanne später, fast auf den Tag genau, wurde er zum Admiral ernannt. Seitdem war von diesem Zyklus, der sein Leben so stark bestimmte, noch nicht die Hälfte vergangen.

Abdi-ashirta schaute auf die vertrauten Umrisse der Nachbarhäuser. Der Mann, der wichtige Worte stets zweimal sagte, schloss die Luken. Auf der anderen Seite schrie die Griechin, die Sprachkundige für den Rat, nach ihrem Hund, der auch an diesem Abend nicht heim kam. Hier hatte einst Talaya gewohnt. Östlich davon erahnte er das rissige Haus mit den oft auch über den Tag geschlossenen Läden, bewohnt von der Witwe eines Segelmeisters, der zweimal mit ihm hinter die Säulen gefahren war. Sie lebte für ihre kemetische Falbkatze.

Am Südhafen setzten sich Lichtpunkte in Bewegung und wanderten auf der Zedernstraße in Richtung der Berge. Eine verspätete Kolonne, die Holz für den Schiffsbau aus dem Libanon herbeigetragen hatte, zog in die Schlafbaracken vor den Steinhängen. Selbst im Dämmerlicht konnte sein Blick den Schutzwall der Südstadt bestimmen und das Viertel der Zimmerleute mit dem großen städtischen Lagerplatz. Er liebte Zor, liebte die Unruhe des Hafens, die Farben der Märkte und die Herbergen in den Vorstädten. Oft hatte er in Bitta-rapis Schankstube nach Großer Fahrt seine Vertrauten verabschiedet.

Der Abend wurde zur Nacht, und Zor verstummte. Auf dem Damm nach Bursa blinkten die Fackellichter als etwas ewig Vertrautes. Gebetsgesang aus der Parallelgasse störte die dunkle Zeit, das gewohnte Ritual eines Notars, der Gott Melkart um Beistand für seine Geschäfte bat.

Der Wind aus den Bergen lebte auf und starb, Schleier zogen vor die Sterne, gaben sie wieder frei und verbargen das Licht von neuem. Die Stimme des Meeres versprach Stunden der Ruhe. Kein Fuß trat die Platten des besseren Viertels, der Rat schickte seine Wachen nicht durch die Stadt. Die Seefahrt hatte Wohlstand gebracht, es herrschte Friede zwischen den Häusern, der auch nicht von den kemetischen Soldaten gestört wurde, die jedes Jahr durch die Küstenregionen zogen.

Abdi-ashirta erinnerte sich an die Flucht auf die Insel, als Pharao Psammetich seine Truppen zum ersten Mal nach Sidonien geschickt hatte. Im Menschenfluss war er an Nurfrets Hand über den Damm gelaufen und hatte nach dem Großvater geschrien, der auch an diesem Tag der Gefahr Tafeln in die Berge trug.

»Es gibt keinen Krieg, Assyrien ist schwach, Kemet ist stark. Wir werden in Frieden leben!« so hatte er noch am Morgen auf die Gefährtin eingeredet. Auf seinem kahlen Kopf, den er sich wie ein Kemete rasierte, hatten Schweißperlen gestanden. Tatsächlich ließ der saitische General freundliche Botschaften nach Bursa schicken. Zwei Tage später waren Zors Bewohner wieder in ihren Häusern. Der Damm nach Bursa war Samranus täglicher Weg, begleitet von Nurfret, der gebildeten Kemetin, die mit ihm die Tafeln beschrieben hatte.

Wie oft hatte er sich an den Abend erinnert, an dem der Großvater nicht zurückkehrte, obwohl die Fackeln schon brannten. Zwei Tage hatte Nurfret geweint, dann war sie ohne ein Wort des Abschieds aus Zor weggegangen, die Trauer hatte ihr keine Stimme gegeben. Weinen Erwachsene, scheint die Nacht nie zu enden. Lange Stunden hatte er auf der Herdbank neben der Geschirrtruhe seiner Mutter gelegen. Zum dritten Mittag hatten Ratsdiener ihn, den Jungen, in das Haus des Meeres gebracht, die Stadt bildete den Sohn ihres hohen Beamten zum Seefahrer aus. Frauen, die fast jährlich wechselten, verwalteten das Haus, und manchmal dienten sie ihm in späteren Jahren als Gefährtinnen. Auch jetzt waren die Kammern gesäubert und die Pflanzungen gewässert. Gern hätte er die neue Bewahrerin kennengelernt, gern wäre er auch heute über den Damm nach Bursa oder durch die Gassen der geliebten, vertrauten Stadt gegangen. Doch nach dem Erhalt der Botschaft gehörten sein Leib und seine Seele dem Obersten Rat, er durfte sein Haus nicht verlassen und hatte die Stadtwachen zu erwarten.

Der Admiral verließ die alten Zeiten, wickelte sich fester in seine Decke und schuf sich das Gespräch des morgigen Tages. Er drehte sich auf seinem Lager, bereute es, auf dem harten Lehm des Daches zu liegen und forderte seinem Kopf die Antwort ab, warum Hir-Rectar ihn nach so ungewöhnlich kurzer Zeit rief.

»In welches Haus begleitet ihr mich?«, fragte er die Unzerstörbaren des Nordhimmels, die gleichgültig auf Zor und seinen Admiral blickten. »Melkarts Fluch auf Sidon!« Abdiashirta schleuderte sein Tuch auf das Rauchloch und stieg in das Haus hinab. »Lass mich schlafen, Hir-Rectar!« Er legte sich auf die bequeme Strohmatte, die vor seiner Abreise noch nicht im Haus gewesen war und erzwang die ersehnte Ruhe.