TodesGrant

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Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die

Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über www.dnb.de

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Umschlaggestaltung: C. Riethmüller

Der Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.com

EPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbH

eISBN 978-3-8271-8416-0

Wilfried Oschischnig

TodesGrant


Diesmal für Magdalena und Johanna

Eins

„Holzpyjama“, so sagen die Wiener zu einem Sarg. Voll makabrer Poesie und im Bewusstsein: Ihr letzter Pyjama wird wohl aus Holz gewebt sein. Aus Buche, Eiche, Fichte oder Tanne … für die ewige Dunkelheit.

Und schnell kann es gehen, dass einen das Schicksal ins hölzerne Nachtgewand steckt. Sehr, sehr schnell. Wie bei Matthias Frerk Gradoneg.

Ein ohrenbetäubender Kracher, ein schmerzhafter Schlag auf den Kopf – und der helllichte Tag so schwarz wie die stockfinstre Nacht. Ja, Gradoneg hatte gerade den Deckel für seinen Sarg abbekommen, aus heiterem Himmel und mit teuflischer Brutalität.

Matthias Frerk Gradoneg wähnte sich im Sterben, wenn nicht schon tot.

Erschlagen von der eigenen Wohnungstür! Begraben unter einem Mordsding aus Vollholz! Tatsächlich. Die eigene Wohnungstür war auf ihn eingestürzt, gleich einer Fliegenklatsche für Unglücksraben. Ein hohes, breites, schweres Ungetüm. Echtes Handwerk aus einer Zeit, als Türen noch Türen waren und nicht bloß ein Hauch Furnier auf Spanholzplatten.

Und wie hatte er diese verflixte Tür noch beim Wohnungsumbau vor seiner Ursula verteidigt. Richtig heldenhaft, kaum zwei Monate ist dies nun her. Alles durfte seine Frau in der Wohnung niederreißen, nur Finger weg von dieser Tür. Diesem Heiligtum der alten Handwerkskunst. Ja, wie ein Umweltschützer an einen Baum hatte er sich an dieses mörderische Ding geklammert. Jede Wand durfte unter Ursulas Gestaltungswillen zu Schutt verfallen, jeder Boden war ihm wurscht und jedes Fliesenmuster recht. Nur eben die Wohnungstür hatte er bis aufs Blut verteidigt.

Durch diese Tür ist unser ganzes Leben ein- und ausmarschiert …, raunzte er dann seiner Ursula vor. Alles was mir wichtig und heilig ist, hab ich durch diese Tür getragen. Den Josef, die Hemma, frisch aus dem Krankenhaus und jahrelang in den Kindergarten. Verstehst du, das ist kein Schrott, sondern ein Symbol, mein Lebenssymbol … Dich … dich hab ich ja auch durch diese Tür getragen …, fügte er dann rasch hinzu, weil Ursulas Mundwinkel schon gefährlich zuckten und es in ihren Augen beleidigt blitzte. Freilich habe ich dich durch diese Tür getragen. Oft! Sehr, sehr oft! Das … das hast du nur vergessen. Falls du’s mir nicht glaubst, holen wir es eben nach, jetzt gleich …, zog er seine Frau zur Wohnungstür hinaus, hob sie hoch und keuchte und stolperte mit ihr ins Vorzimmer zurück. Spürst du’s? Ich mein, die Aura … Das ist ja kein banaler Eingang, das ist eine besondere Aura. Die … die musst du doch spüren. Ein Fotoalbum mit Seelenbildern ist das, unser unsichtbares Familienalbum. Und da er freilich mit diesem halbpoetischen Unsinn bei seiner Frau nichts bewirkte, griff er schließlich zur Angst: Denk doch zumindest an die Sicherheit, wenn dir unsere Erinnerungen schon nichts wert sind. Was gibt es denn Besseres als eine alte Wohnungstür? Sicherer geht’s nicht, glaub mir. So zugekifft sind nicht einmal die schlimmsten Hausbesetzer, dass die da einbrechen. Ist doch völlig logisch: Je schöner eine Wohnung ist, desto grauslicher muss die Eingangstür sein.

Das war schon immer so … Von den ägyptischen Pyramiden bis zum … also … bis heute …, schnappte er nach Luft und einem brauchbaren Argument. Ja, bis heute gilt das – der Eingang muss immer möglichst hässlich sein, damit man drinnen seine Ruhe hat. Wie bei den Pyramiden. Und erinnere dich an New York, ans Guggenheim-­Museum. Genau genommen ist das eine Parkgarage mit einer grauslichen Einfahrt, oder? Nicht viel mehr als ein Park & Ride in der Pampa von Wien. Ohne die Picassos würde dort niemand freiwillig hineingehen. Das … das kapieren sogar die Wiener. Schau dich doch nur einmal bei uns in Währing um. Kennst du eine einzige Villa mit einem schönen Eingang? Das sind alles Bretterverschläge mit einem Schloss.

Ja, hätte er bloß geschwiegen und sich dieses unsinnige Heldentum erspart. Gerede, nichts als schwachsinniges Gerede. Ursula hätte längst die Tür herausgerissen und auf dem Scheiterhaufen des Sperrmülls verbrannt. Ein CO2-Wölkchen am Himmel über Wien, mehr wäre nicht passiert. Aber nein, er musste wieder einmal klüger sein. Und so lag er eben da und krepierte. Ausgerechnet jetzt, als es ihm einmal gut erging und sein Leben mehr als die belanglose Schleimspur eines Wurms war. Gerade war er dabei, in die Fußspuren eines braven Währinger Bürgers zu treten. Langweilig zwar, aber wohlbestallt und zufrieden.

Und dann das! Erschlagen! Neunundvierzig Jahre alt, noch keine fünfzig.

Gradoneg röchelte und wimmerte unter der schweren Tür, blutete und konnte weder seine Arme noch Beine bewegen. Hatte fürchterlich Angst, dass er nicht nur unter einer Tür, sondern bereits im Wartezimmer des Todes, im Schlachthof der letzten menschlichen Illusionen lag. Dass er an jenem Ort angekommen war, wo die letzten Augenblicke eines Menschen verstreichen. Wo das Leben im hoffnungslosen Nichts erstickt und nur noch der Schmerz existiert. Dort, wo der Tod einen rostigen Stacheldraht in seinen Geigenbogen spannt und die letzten Schreie aus dem Klangkörper des Menschen fiedelt – die pure Angst und Verzweiflung, das inbrünstige Flehen und Betteln.

Immer schwerer und schwerer wurde so auch die Tür auf Gradoneg, und immer dunkler sein allerletzter Hoffnungsschimmer. Bitte, bitte … mach das nicht, lieber Gott, winselte Gradoneg. Innerlich, denn in seinem Zustand brachte er kein Wort mehr über die Lippen. Nicht mit mir, bitte, lieber Gott. Ich hab doch kleine Kinder und die Wohnung … die Wohnung ist auch noch neu. Bitte, ich flehe dich an. Meine Frau, die … die Ursula, braucht mich wahrscheinlich auch, zwängte er nach dem Donnerschlag und dem harten Aufprall auf dem Boden seinen Kopf zur Seite. Mehr schaffte er nicht mehr. Wahrscheinlich seine letzte bewusste Bewegung auf Erden. Fortan würden sich wohl nur noch Rettungsleute und Leichenwäscher um seinen Körper kümmern. Irgendwo in einem Keller eines Wiener Krankenhauses. Das AKH wäre nahe liegend, auch das Krankenhaus zum Göttlichen Heiland, oder würden sie ihn doch ins Unfallkrankenhaus Meidling bringen? Egal, fremde Hände in Gummihandschuhen und Wegwerfwaschlappen würden da wie dort die letzte Berührung mit dieser Welt sein. So kalt und fremd, wie sich das Leben außerhalb seiner Familie meistens anfühlte. Das erwartete ihn zweifellos, vielleicht ein primitives Witzchen über seine stoppeligen Nasenhaare, die wie ein frisch gedroschenes Getreidefeld in den Löchern wucherten; und falls die Leichenwäscher ihre Arbeit ernst nahmen, würden sie seine ersten Altersflecke in der Falte am Kinn entdecken. Ein seltsames Ameisennest aus schwarzbraunen Punkten, das ihn bei jeder Rasur in Panik versetzte. Eigentlich wollte er es längst ausheben, mit nigelnagelneuen Klingen und einem mutigen Schnitt. Egal, nun war es zu spät. Nun kamen die Würmer oder das Krematorium. Das musste Ursula entscheiden. Bald würde er kein Subjekt, sondern nur noch ein Objekt sein. Ein Ding, das man verwaltete. Ein perfekter Staatsbürger, nur leider tot und unproduktiv. Ja, vielleicht würde jemand noch diesem Ding namens Gradoneg ein Ding namens Handy aus der Hosentasche ziehen, das zersprungene Display betrachten und sich fragen, ob sich ein Diebstahl lohne. Oder sollte man doch auf den nächsten Toten, auf das nächste Ding warten?

Bitte, bitte ... lieber Gott … in zwei, drei Jahren, von mir aus, wenn’s unbedingt sein muss, aber nicht heute. Ich schwör es, dann halt ich meine Goschn und spring selber in die Erde, flehte und bettelte Gradoneg innerlich weiter. Schmeckte sein Blut, wie es sich immer giftiger, dicker und klebriger auf der Zunge anfühlte. Oder nächstes Jahr, bitte. Hol mich halt nächstes Jahr. Ich … ich rauch fast nichts mehr und trinken tu ich nur noch die Hälfte. Das wär gemein, echt. Das kannst du doch nicht machen. Ich sterbe ja gesünder, als ich immer gelebt hab. Das ist doch blöd, verstehst du? Vorher rauch ich wie ein Schlot und jetzt krepier ich. Hörst du!? Falls es dich wirklich gibt, dann kannst du doch nicht so ein hinterhältiger Fiesling … ’Tschuldige … das ist mir rausgerutscht. Unbarmherzig, ich hab wirklich ‚unbarmherzig‘ gemeint. Ehrlich … ich … ich will ja nur leben.

„Bist du deppert!“, vernahm Gradoneg plötzlich eine Stimme. Männlich, tief und fremd. Woher sie kam und zu wem sie gehören könnte, wusste er nicht. Raum und Zeit hatten längst in seinem Kopf ihre Ordnung verloren. Vielleicht stand da wer neben ihm und hatte sich im Vorzimmer über die Tür gebeugt, vielleicht war es auch nur ein Wortfetzen aus dem Stiegenhaus oder von der Straße. „Gibt‘s das?! So eine perverse Sau! Erschlägt sich beim Fluchtversuch mit der eigenen Wohnungstür. Nicht nur grauslich, sondern auch feig. Entzieht sich mit einem Suizid der Verantwortung.“

„Objekt gesichert“, drängte sich eine weitere Männerstimme mit einem harschen Befehlston in Gradonegs Kopf oder gar in seine Wohnung. „Und ich will keine Nachbarn im Stiegenhaus sehen, verstanden!? Niemanden! Jede Tür wird kontrolliert. Wer seine Wohnung verlässt, den verfüttere ich eigenhändig an diese Bestie. Kapiert! Bei lebendigem Leib!“

 

Immer mehr Stimmen kreisten und krächzten nun wie Todesvögel über Gradoneg. Schrien laut und wild durcheinander, der Boden unter ihm bebte und die Luft erzitterte. Und so sehr er sich auch konzentrierte und anstrengte: Nichts von dem, was da an sein Ohr drang, ergab für ihn den geringsten Sinn; ein wirres Durcheinander, das sich um ihn herum wie eine blubbernde Blutlache ausbreitete.

„Ist er hin?“

„Hundertprozentig. Mehr als hin. Glatter Genickbruch. Eher steht ein Neandertaler im Naturhistorischen Museum auf und geht zum Opernball.“

„Sollen wir ihn noch zur Sicherheit tasern? Vielleicht lebt diese perverse Sau ja doch noch.“

„Kann nicht schaden, doppelt hält besser. Falls du deinen Taser testen willst, gerne. Sind leider nicht so besonders, unsere neuen Taser. Wie ein Akkubohrer, der Strom spuckt. Hab ich letztens bei einer Kuh im Pinzgau ausprobiert. Aber falls es dich beruhigt, taser ihn ruhig. Ich schau weg. Lieber würd ich diesem Wahnsinnigen auf den Kopf springen und sein krankes Gehirn verspritzen. Bis kein Tropfen mehr drinnen ist. Dann wüsste er, wie das ist, wenn man jemandem das Hirn auslöffelt.“

„In Ordnung, ich mach’s …“

Ein Schatten tauchte vor Gradonegs Gesichtsfeld auf, kroch langsam durch den Spalt zwischen Tür und Boden zu ihm. Dann blitzte es. Einmal, zweimal, als würden ihn zwei glühende Kabel strangulieren. Seine Muskeln zucken, die Augen brannten und die Zunge schwoll an.

„Und …?“, fragte und krächzte ein Todesvogel.

„Funktioniert eh … aber die Glock ist mir lieber. Würd mich jucken, bei dem abzudrücken.“

„Ich mein, wie er ausschaut. Grauslich, oder?“

„Na ja, einigermaßen normal für einen Menschenfresser. Aber Hitler und Stalin hatten auch zwei Augen und Ohren. Eine Bestie erkennt man nicht auf den ersten Blick.“

Und noch mehr Todesvögel flatterten in die Wohnung, noch schlimmer wurde das Stimmengewirr rund um und über dem dahinsiechenden Gradoneg.

„Die Sanitäter sind unterwegs“, meinte einer.

„Die sollen sich Zeit lassen“, meinte ein anderer. „Unbedingt. Den braucht niemand mehr. Und einen Sarg sollen sie auch gleich mitbringen. Deckel drauf und ab mit diesem Teufel in die Hölle.“

„Habt ihr schon die Wohnung gesichert?“

„Spinnst du, ich geh da nicht rein. Das soll die Spurensicherung machen. Wahrscheinlich liegen da Leichenteile herum, und im Backrohr steckt ein Schädel.“

Perverse Sau?!

Menschenfresser?!

Hirn verspritzen?!

Hitler … Stalin?!

Leichenteile und ein Schädel im Backrohr?!

Verzweifelt versuchte Gradoneg dieses schauderhafte Gekrächze aus seinen Gedanken zu vertreiben. Wie konnte er mitten in seinem Todeskampf auf solch einen ordinären Unsinn kommen? Freilich verstand er in seinem Dämmerzustand nur jedes zweite, dritte Wort. Wusste nicht genau, was da gesprochen wurde, geschweige denn von wem.

Die Polizei?

Hatten sich irgendwelche Polizisten in der Tür geirrt und dabei auch gleich Gradonegs Leben aus den Angeln gehoben?

Gut möglich, er wäre ja nicht das erste Justizopfer in der Geschichte Österreichs. Und es stand doch immer wieder in der Zeitung: Das Bildungsniveau bei den Aufnahmetests der österreichischen Polizei sank ständig und tendierte bereits Richtung Analphabetismus.

Eine Adresse wurde da leicht verwechselt, und eine „6“ auf den Kopf gestellt ist rasch eine „9“. Nur welcher uniformierte Haufen von Analphabeten würde sich derart brutal auf einen Schwerverletzten stürzen? Mitten in Europa, im glückseligen Österreich und braven, bürgerlichen Wiener Währing?

Nein, so weit konnte es noch nicht gekommen sein.

Und wie stand es mit ‚Einbrechern‘? Vielleicht hielt ja seine Theorie von der sicheren Tür einem simplen Brecheisen nicht stand. Könnte durchaus sein. Die Wohnung war quasi neu, bis ins Stiegenhaus roch es nach Lack und – Ursula! – sündteuren, ökologischen Erdfarben, die drei bosnischen Arbeiter machten mit ihrem Mittagshunger den Johann-Nepomuk-Vogl-Markt reich, und der Möbelwagen hatte ein Abonnement vor dem Haus der Gradonegs.

Nur Einbrecher räumten in Windeseile eine Wohnung aus und schwadronierten nicht über Menschenfresser und irgendwelche Leichenteile, oder?

Also doch eine Gehirnblutung? Ein Schädelbasisbruch, der sein Leben zertrümmerte? Medizinisch durchaus möglich, geradezu logisch. Nein, diese Frage wagte sich Gradoneg nicht zu stellen. Stattdessen klammerte er sich an jeden Strohhalm, so abstrus und brüchig dieser auch war. Seine kleine Hemma, erinnerte er sich jetzt etwa, hatte ihm doch vor ein paar Tagen erzählt, dass sie sich in der Volksschule über Schimpfwörter und Mobbing unterhalten würden. Über den ‚Karies des ABCs‘, wie ihr Lehrer meinte; über all die bösen und verletzenden Wörter, welche die Kinderseelen wie schwarze Zähne verfaulen ließen. Und dass dann die Kinder im Unterricht dem Lehrer ihr gemeinstes Schimpfwort ins Ohr flüstern durften. Damit die bösen Worte die ganze Volksschulzeit dort blieben und den Kindern nie mehr über die Lippen kämen. Ja, und das hatten sie dann zu Hause auch nachgespielt:

Du Währinger Erbschleicher!, flüsterte ihm Hemma ihr Lieblingsschimpfwort ins Ohr. Du nimmersatter Ferrari ohne Räder, zischte er zurück. Ein übles Pingpong, bei dem er so rot wie die Fahne vor der chinesischen Botschaft in der Neulinggasse wurde. Schlimm, was seine Tochter im Laufe der Jahre von ihm aufgeschnappt hatte. Ein pädagogisches Armutszeugnis, bei dem er als Vater mit einer glatten Fünf abschnitt. Immerhin lieferte ihm Hemma bei diesem infantilen Spiel einen schwachen Trost. Die Kleine hatte nämlich ihre Sitznachbarin belauscht, was diese so Ordinäres auf Lager hatte: Ich reiß dir die Titten ab und spuck drauf!, brüllte die Tochter eines angesehenen Mediziners dem erschrockenen Lehrer ins Ohr. Das war Balsam auf Gradonegs pädagogische Wunden – besser man ist ein neidischer Kommunist denn ein potenzieller Triebtäter mit einem Doktortitel.

Trotzdem: Mehr als Trugschlüsse schaffte Gradonegs verwirrter Geist in diesem schmerzhaften Moment nicht. Entweder Österreich war eine völlig durchgeknallte, gesetzlose Bananenrepublik, oder ein harmloses Schimpfwort-Spiel tauchte gerade aus seiner Erinnerung wieder auf und narrte ihn zu Tode. Quälten ihn plötzlich seine eigenen Schimpfwörter? Brach da plötzlich sein Innerstes mit irgendwelchen verdrängten Menschenfresser-Fantasien auf? War das der Tod? Offenbarte sich der Mensch im Sterben von seiner grausamsten Seite?

‚Perverse Sau‘ … ‚Menschenfresser‘ … ‚Hirn verspritzen‘ … ,Schädel im Backrohr‘?!

Nein, unmöglich, das war nicht Gradoneg. Er war doch kein verkappter Menschenfresser, der sich gerade outete.

Währenddessen hackten die Todesvögel weiter mit ihrem Stimmengewirr auf Gradoneg ein. Noch immer drangen durch den Schleier des Schmerzes und der Verzweiflung nur unverständliche Wortfetzen an sein Ohr:

„Wiederbeleben müssen wir ihn allerdings.“

„Nur über meine Leiche! Ich knutsch mit keinem Menschenfresser!“

„Eh, nur pro forma … Sobald die Rettung kommt, heben wir die Tür weg und tun so als ob. Vorschrift ist Vorschrift. Oder willst du dir wegen eines Mörders und Kannibalen auch noch ein Disziplinarverfahren einhandeln?“

„Und seine Opfer, hat denen jemand geholfen?! Wer weiß, wie viele Leichen die Spurensicherung bei dem finden wird? Nein, du, ich knutsch mit keinem Mann und schon gar nicht mit einem Menschenfresser! Ich hauch dieses Schwein nicht einmal durch das Türschloss an.“

„Glaubst du, ich will das? Ich hätt dem längst die Glock von vorne gezeigt, direkt zwischen den Augen.“

Ja, was für ein Wahnsinn?! Heller Wahnsinn!

Selbst der unbarmherzigste Rachegott würde eine sterbende Menschenseele nicht in solch einen Irrsinn treiben; selbst das schwerste Schädel-Hirn-Trauma wäre gnädiger, und das schlimmste Blutgerinnsel würde sich nicht mit solch grauenhaften Geschichten im Kopf auflösen. Aus und vorbei. Er konnte nicht mehr, er war zu erschöpft.

Gradoneg gab auf.

Und wenn er schon sterben würde, dann wollte er sich zumindest noch mit einer schönen Erinnerung von seiner Familie verabschieden. Irgendwann an diesem verfluchten Tag musste seine Welt ja noch in Ordnung gewesen sein. So real und banal, so zufrieden und glücklich wie sie ansonsten mit seiner Familie war. Bestimmt hatten sie noch heute Morgen alle gemeinsam gefrühstückt. Jausenbrote für die Kinder, ein Abschiedskuss für seine Ursula, der Ärger über das verschmutzte Katzenklo und dann noch die Schuhe putzen und zum ersten Kunden hetzen. Stimmte schon, der Tür und dem Tod würde er wohl nicht mehr entkommen, doch in seinen Gedanken könnte er sich vielleicht ein letztes Mal an den Frühstückstisch setzen. Ursulas Stimme hören, sich über den Glanz ihrer Augen freuen und mit den Kindern lachen.

662 830 …?

Weshalb tauchten diese Ziffern in seiner Erinnerung auf? Er wollte sich mit einem allerletzten Glücksgefühl von seiner Familie verabschieden und doch nicht mit rätselhaften Ziffern herumschlagen. Zum Teufel mit diesen Zahlen, seine wichtigsten Menschen zählten in diesem Moment. Ursula, Josef und Hemma.

662 830 …? Weiterhin schimmerten die Zahlen in seinem Gedächtnis, ließen ihn einfach nicht zum Frühstückstisch zurückkehren. Oh Gott, verdammte Scheiße! Nicht das noch!, blinkte nun auch noch ein grelles Bild in ihm auf: Zwei Augen, rot gesprenkelt, mit murmelgroßen grüngelben Pupillen; ein Maul, das sich als blutiger Schnitt unter einer flachen Nase um einen pelzigen Tierschädel zieht. Haare so spitz wie japanische Stricknadeln, und ein Schrei, der jedes Trommelfell zerriss.

Whitey!

Natürlich, Whitey!

Das war sein letzter Kontakt mit der Menschheit. Der Kater seiner Tochter Hemma.

Nun lichtete sich der graue Nebel in seinem Kopf und ein schwarzer Kater sprang ihm ins Gedächtnis. Eben Hemmas Whitey. Ein kohlrabenschwarzer Vierbeiner, den Gradoneg aus einem paradoxen Protest heraus weiß anstrich und Whitey nannte, während diesen der Rest der Familie liebevoll Blacky rief. Alle in der Familie hatte dieses schwarze Wollknäuel um seine Pfoten gewickelt. Hemma streichelte den Kater schon wie ein Biobauer seine Kuh fast zu Tode, selbst Josef, bei dem die pubertierenden Pickel und coolen Sprüche um die Wette sprießten, wurde bei Whitey zum Gentleman und streute dem Vieh Rosen. Ja, als würde Odysseus oder sonst ein griechischer Held auf allen vieren durch die Wohnung kriechen, liebten alle das Tier. Sogar die ganze Nachbarschaft war nach Whitey verrückt. Kaum ein Tag verging, an dem nicht ein Fleischpaket auf dem Fußabstreifer der Gradonegs lag oder von der Türschnalle baumelte. Sonntags glich ihr Eingang manchmal schon einer Fleischtheke in einem Supermarkt. Alles für Whitey, alles für den Helden des Hauses. Ein Stück vom Schnitzel, das Fett vom Schweinsbraten, ein paar Gramm Faschiertes, die Flosse von einer Forelle … wie einem Götzen brachten die Hausbewohner dem Vieh ihre kulinarischen Schätze dar. Was Gradoneg zusehends auf den Magen schlug.

Eifersüchtig? Ein neidischer Tierhasser?

Nein, das war er nicht. Wirklich nicht. Eher ein Realist, der mit beiden Beinen auf dem Boden stand und das Vieh von der ersten Sekunde an durchschaut hatte. Denn mit Whitey war ein gnadenloser Egoist und furchtbarer Herrscher unter seinem Dach eingezogen: Ein wohlwollender Schnurrer gegenüber seinen Untertanen, ein teuflischer Krallenausfahrer gegenüber Aufmuckern. Kurz: Ein gefährlicher Borderline-Egoist mit einem krankhaften Schwarz-Weiß-Denken. Seine Welt bestand lediglich aus Gut und Böse und Fressen und Gefressenwerden. Selbstverständlich fiel Gradoneg in die Kategorie ‚Gefressenwerden‘. Whitey entleerte seinen Darm grundsätzlich nur, wenn Gradoneg alleine daheim war; mit üblen Duftnoten markiert wurden prinzipiell nur Hemden; nass war immer nur Gradonegs Bettseite, zerrissen und zerkratzt immer nur seine Habseligkeiten. Ja, selbst als Gradoneg den Kater nach dessen Kastration mit einer sanften Streicheleinheit trösten wollte, fuhr das Tier seine Krallen zu einem blutigen ‚Nein‘ aus. So viel bedeutete diesem egoistischen Borderliner die Männersolidarität.

Whitey!, seufzte Gradoneg ängstlich und traurig in sich hinein. Achtung! Der Whitey, ihr müsst den Whitey retten, bitte! Das arme Tier! Hört ihr mich! Bitte! Hinten, im Kinderzimmer …, wollte er die fremden Stimmen über ihm auf den Kater aufmerksam machen. Denn nun kam es ihm schlagartig in den Sinn, was sich an diesem Morgen vor seinem Unglück zugetragen hatte. Bild für Bild, Schrei für Schrei. Jede Szene konnte Gradoneg vor seinen inneren Augen wieder betrachten: Wie er in seinem besten Anzug und in höchster Eile irgendein schlecht verdautes ‚Kalbsgeschnetzeltes‘ oder eine ‚Ente in Joghurt‘ aus dem Katzenklo schaufelte. Fast riechen konnte er es in seiner Erinnerung. Alles klebte und stank, das Wasser in der Toilette drohte wegen des Kotes und klumpigen Katzenstreus überzu­schwappen, und der Muschelrand wurde dabei so braun, als hätte man diesen in ein Schokofondue getaucht. Wie immer: Alle waren sie weg, seine ganze Familie. Ursula in ihrem neuen Wollgeschäft, die Kinder in der Schule. Alle pünktlich und entspannt, wie ein vernünftiger Tag eben beginnen sollte – und nur er hatte wieder einmal den Kater und jede Menge Drecksarbeit am Hals. Du verdammtes Viech! Fressen und scheißen, mehr kannst du nicht, hörte sich Gradoneg mit dem Kater schimpfen. Du egoistischer Stinker! Ich lass dir den Magen verkleinern, ehrlich … wie bei den Hollywoodstars. Wegkastrieren! Alles sollte man dir wegkastrieren, nicht nur die Eier!, lief er dann wütend und verschwitzt – und für den ersten Kunden schon viel zu spät – ins Badezimmer. Verwechselte dort auch noch sein Deodorant mit dem Raumspray, jammerte hysterisch: „Du gemeiner Hund, wegen dir stink ich nach ‚Ocean Adventure‘“, sah er verblüfft auf den Schriftzug des Raumsprays. „Scheiße! Jetzt lauf ich den ganzen Tag wie ein Vertreter für Sanitäranlagen herum!“ Knallte so wutentbrannt das Raumspray ins Waschbecken, dass dieser zu explodieren drohte.

 

Und plötzlich hörte er den Schrei. Gellend, ohrenbetäubend und so verzweifelt, als würde man einer Nerzfarm das Fell abziehen.

Whitey!, rannte er los, jagte diesem fürchterlichen Schrei nach.

Whitey!, suchte er die Wohnung nach Hemmas geliebtem Kater ab.

Die Küche, das Wohnzimmer, die Kinderzimmer … Und dort hing er: Kopfüber von der Heizung hauchte Whitey gerade sein letztes Katzenleben aus. Oben im gerillten Heizungsblech hatte er sich eine Pfote, einen Zehenballen eingeklemmt. Das gefangene Bein fast schon so lang wie sein Schwanz, der verzweifelt gegen den Heizkörper drosch. Mit jedem Schlag näher am Tod. Immer tiefer zog ihn die Schwerkraft ins Unglück, sein Fell sträubte sich dagegen und aus dem Maul tropfte ein blutiger Brei.

Und was tat Gradoneg?

Dieser Trottel! Ja, dieser Trottel rüttelte nur panisch an der Heizung, als wäre das Tier Fallobst. Rüttelte und rüttelte. Wie eine Abrissbirne schepperte Whiteys Schädel gegen das Blech. Dieser Vollkoffer schlug ihn auch noch bewusstlos! Trottel, verdammter! Das befreite doch nicht das Tier. Alles, was bei dieser sinnlosen Heizungsrüttelei den Gesetzen der Schwerkraft folgte, waren die Harry-Potter-Figuren auf dem Ikea-Regal daneben. Ron Weasley, Hermine Granger, Draco Malfoy und Dobby, der Hauself … alle kullerten sie zu Boden, nur nicht der arme Whitey. Alles im Kinderzimmer fiel und fiel, nur Whitey blieb an der Heizung hängen. Eine Ewigkeit und Hundert Millionen Lichtjahre mehr dauerte es, bis Gradoneg endlich die Gesetze der Physik kapierte. Bis er den Kater zumindest von der Last seines Körpers befreite, das bewusstlose Tier hochhob und in den Händen hielt. Und erst noch ein paar Lichtjahre später kapierte er, dass es da oben am Blech zwei simple Plastikspangen gab, mit denen er das Blech und somit auch die Pfote lösen konnte.

Endlich, endlich, endlich … legte er den Kater mitsamt dem Blech auf den Boden.

Immerhin: So vereint waren sie noch nie, die beiden Herren im Hause Gradoneg. Beide völlig erschöpft auf dem Boden in Hemmas Kinderzimmer, umgeben von Harry Potters Freunden und Feinden, umgeben von Ron Weasley, Hermine Granger, Draco Malfoy und Dobby, dem Hauself.

Vielleicht war es keine Träne und nur ein verirrter Schweißtropfen, der nun Gradoneg über die Wange lief, aber seine Erleichterung war echt und ehrlich, als sich Whitey endlich wieder bewegte; als sich der Kater irgendwie aufrappelte und wimmernd und taumelnd das Heizungsblech mit der gefangenen Pfote hinter sich herzog.

Zum Glück – ja zum Glück wurde die Blutspur im Kinderzimmer immer länger. Selbst wenn Whiteys hinteres rechtes Bein aussah, als hätte es jemand wie ein nasses Handtuch ausgewrungen, und sein Fell am Oberschenkel aufgeplatzt war –, doch der Kater lebte. Lebte! Hemmas Liebling lebte! Und als Gradoneg dann die Tierrettung rief, sein Handy in der Hand wie sein Herz in der Brust hüpfte, da kam er sich fast schon wie ein Held und Lebensretter vor. Und zum Trost streute er dem Kater das exklusivste Trockenfutter auf den Boden hin. Alles, was der Vorratskasten hergab: „Pure Love Snackies“, „Knabberstangerl vom Voralpenrind“ und selbstverständlich den sündteuren „getrockneten Hirschmix“, den Whitey sonst nur zu Weihnachten und Ostern bekam. Denn bestimmt würde das Fressen in Tierkliniken so schlecht wie im menschlichen Krankenhaus sein, dachte sich Gradoneg.

Von dem her unterschieden sich ja Mensch und Tier kaum.

Verrückt. Einem Kater hatte er das Leben gerettet und sein eigenes dabei womöglich verloren. Der egoistischste Borderline-Kater Wiens sprang dem Tod von der Schaufel, und Gradoneg wurde von einer Tür erschlagen. Ja, was wäre gewesen, hätte sich Whitey an diesem Morgen nicht mit einer Pfote im Heizungsblech verfangen?

Würde Gradoneg unbekümmert bei einem Kunden sitzen?

Hätte ihn das Schicksal verpasst?

Diese Fragen wagte sich Gradoneg nicht zu stellen. Er war zu müde, zu traurig und zu hoffnungslos, einfach viel zu erschöpft von diesem ungerechten Leben.

„Platz machen! Die Sanis und der Notarzt sind endlich da!“, wurde es um Gradoneg wieder laut und hektisch.

„Schnell, runter mit der Tür“, hörte er die Stimmen der Männer.

„Aber nur die Tür, die Sau greif ich nicht an.“

„Heb schon! Denk an die unterlassene Hilfeleistung.“

„Wiederbeleben tust du ihn.“

Tatsächlich spürte Gradoneg, wie die Last auf seinem Körper und sogar der Schmerz etwas nachließen; er meinte sogar seine Beine und Arme leicht bewegen zu können. Vielleicht war sein Kopf doch nicht wie ein Holzscheit gespalten und das Rückgrat nicht vom eisernen Türgriff zertrümmert. Womöglich gab es noch Hoffnung. Langsam versuchte er sich auf den Rücken zu drehen, biss vor Schmerz die Zähne zusammen und fürchtete, dass ihn ein gebrochener Wirbel daran hindern würde.

„So eine Scheiße, der lebt ja noch!“, fluchte jemand empört. „Ich hab den zweimal getasert.“

„Sag ich ja, diese Dinger sind ein Dreck. Hat der Staat wieder einmal an der falschen Stelle gespart. Meine Kuh im Pinzgau ist auch sofort aufgesprungen, noch lebendiger als davor. Das Einzige, was wirkt, ist die Glock. ’s gibt nichts Besseres … Lauf an die Stirn und abdrücken. Nur so geht’s.“

Gradoneg schaffte es, sich auf den Rücken zu legen. Ein brutaler Tritt half ihm allerdings dabei. Er riss seine Augen auf und sah endlich, wer ihn da psychisch und physisch so brutal in die Mangel nahm: Die ‚Cobra‘!

Ja, die ‚Cobra‘!

Nicht irgendwelche uniformierten Analphabeten oder gar Kriminelle waren in seine Wohnung und in sein Leben eingedrungen – nein, es war Österreichs elitärstes und gefürchtetstes Polizeikommando. Die ‚Cobra‘! Sozusagen die ‚Giftnatter‘ der heimischen Justiz hatte sich vor Gradoneg erhoben und rasselte mit all ihrer Macht. Und dass diese durchtrainierten Schlangen immerhin 2003 und 2015 die „Olympischen Spiele der Spezialeinheiten“ gewonnen hatten, bekam Gradoneg sogleich mit einigen Fußtritten und Faustschlägen zu spüren.

„Das … das ist ein Irrtum, bitte …“, brachte er endlich ein paar hörbare Worte heraus. Ein jedes brannte ihm in der trockenen Kehle, klebte auf der blutigen Zunge. „Ich … ich bin unschuldig. Aufhören, bitte … Ich hab niemandem etwas getan. Sie … Sie verwechseln mich mit jemandem. Gradoneg … bitte … mein … mein Name ist Matthias Frerk Gradoneg.“