Zwischen Lust und Flammenschwert

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Zwischen Lust und Flammenschwert
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Werner Siegert

Zwischen Lust und Flammenschwert

Roman

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Die Anhalterin

Schlechtes Gewissen?

Cappuccino oder nur Milchkaffee?

Bloß kein Doppelzimmer!

Schokolade

Villa Mare

Blitze zucken

Von Sinnen

Britta

Finale furioso

Das Flammenschwert

Der nächste Tag war derselbe Tag.

Maren Wolf?

Wenn zwei sich streiten …

Monte Verità

Sanfter Wellenschlag?

Notabene:

Impressum neobooks

Die Anhalterin

Er nahm nie jemanden mit. Nie. Das hatte er sich zum Prinzip gemacht. Früher ja. Da hatten die Anhalter oder Anhalterinnen noch Manieren. Sie fragten zumindest, ob sie rauchen dürften. Sie stellten sich mit Namen vor. Man konnte sich mit ihnen wenigstens noch über irgendetwas unterhalten. Aber seit dieser dummen Tucke, Studentin nach Berlin stand auf ihrem Pappschild, die ihm rücksichtslos das Auto voll gequalmt hatte, ja, das Auto eigentlich in Besitz genommen hatte, ihm mit ihrem Politgedusel in den Ohren gelegen und wie selbstverständlich Bayern 3 mit Rock und Techno auf Superlautstärke gestellt hatte, seither war er, wie er sagte, geheilt, geheilt - ein für allemal! Auch wenn so 'ne Type noch so hübsch anzusehen wäre.

Denn es hatte noch ein unschöne Szene gegeben. Natürlich war er in Streit mit ihr geraten. Hatte das Radio abgedreht und sich das Rauchen verbeten. Vorwürfe musste er sich anhören. Ganz schön zurückgeblieben - und so. Wahrscheinlich konservativ bis auf die Knochen, CSU-Wähler. Er war dann kurzerhand bei der nächsten Raststätte rausgefahren und hatte diese widerliche Person zum Aussteigen aufgefordert. Was sie nicht tun wollte. Warum denn eigentlich? Er habe ihr doch versprochen, sie bis vor Nürnberg mitzunehmen. Und bloß wegen des bisschen Rauchs. Schließlich hat sie laut fluchend sein Auto verlassen und ihm noch mit ihrer superqueren Sporttasche einen Kratzer in den Lack gezogen. 2000 Euro Reparatur.

Also aus Prinzip nicht. Und wegen der schlechten Erfahrungen.

Nun aber saß bereits seit der Ausfahrt München diese ältere Frau neben ihm. Ziemlich zerzaust. Blass. Ohne jegliches Make-up. In einem dünnen Gabardine-Mäntelchen, das sie trotz des warmen Frühsommertages nicht ablegen wollte. Mit nichts als einer Einkaufstasche. Was ihn hätte stutzig machen sollen; denn sie wollte nach Hannover. Nur so - mit einer Einkaufstasche? Höflich war sie, aber äußerst schweigsam. Und er fragte sich ständig, warum er seinen Prinzipien so mir nichts, dir nichts untreu geworden war.

War es, weil er sie als Frau etwa seines Alters eingeschätzt hatte? Wies sie Ähnlichkeit mit irgendeiner Person auf, die er als sympathisch in Erinnerung hatte? War es Mitleid? Angst vor Langeweile?

Gut - er hatte natürlich aufgrund des kleinen Gepäcks geglaubt, sie wolle nur bis zur nächsten Abfahrt mit. Es hätte aber sein können, dass sie einen größeren Koffer im hohen Gras abgestellt hatte.

Oder war es, dass eine ältere Frau (Dame? Er blickte zu ihr hinüber) am Rande der Autobahn eher Seltenheitswert hatte? Ältere sind doch auf Sicherheit aus. Auf Ordnung. Auf Wasmantutundnicht. Verarmt? Verzweifelt? Wäre das nicht eher ein Grund, sich nicht auf einen solchen Samariterdienst einzulassen? Jemanden ein-zu-lassen? Sich schließlich auch weiter einlassen zu müssen? Gar Verantwortung zu übernehmen? Übernehmen zu müssen?

Der erste Versuch, ein Gespräch zu beginnen, schlug fehl. Auf die übliche Wetter-Ouvertüre erntete er nur ein kurzes "Ja!" Später sagte sie ihm, sie sei ihm sehr dankbar, dass er sie ein Stück mitnähme. Aber sie sei kein gesprächiger Mensch. Er solle sich keine Mühe mit ihr geben. Vielleicht habe er sich was anderes erwartet. Verwandtschaft in Hannover? Freunde? Nein. Später, im Autobahn-Restaurant Ellwanger Berge, bestand sie darauf, ihren Kaffee, mehr wollte sie nicht, selber zu bezahlen.

Schade, dachte er sich. Wenn sie sich ein bisschen pflegen würde. Wenn sie sich wenigstens gekämmt hätte. Arm könne sie nicht sein. Das Kostüm von Lucia. Neue, dazu passende Schuhe. Und die kleine lederne Handtasche, aus der sie ein schmuckvolles Portemonnaie zog.

Übrigens: "Ich heiße Tiemann!"

"Raphael - angenehm!"

Eine Weile schauten sie den Kindern zu, die sich auf dem Spielplatz austobten.

"Schön haben die's hier! Schön - und so heiter!"

"Na ja, sie wissen halt nicht, was ihnen noch alles blüht!" meinte Frau Raphael. Oder Rafael. Oder so.

Schade, dachte er sich, dass sie kein Auge hat für die herrliche Landschaft. Für die blühenden Bäume. Für die dahin treibenden weißen Wölkchen. Für die Wälder. Die tiefen Täler unter den schier endlosen Brücken.

"Wir leben doch in einem wunderschönen Land! So recht, wie wir's früher geschmettert haben: Kein schöner Land in dieser Zeit ...."

Frau Raphael zupfte nur den Rand ihres Rockes wieder nach unten, der ein wenig hochgerutscht war.

"Ich möchte aussteigen!" bat sie schließlich. "Am nächsten Parkplatz oder so!"

"Aber Sie wollen doch nach Hannover. Da können Sie doch noch ein Stück weiter mitfahren. Oder behagt Ihnen irgendetwas nicht? Fahre ich zu schnell? Sind Sie ängstlich? Oder ist Ihnen nicht gut?"

"Nein, nein - damit hat das alles nichts zu tun. Es ist nur, ich weiß überhaupt nicht, wohin ich will. Was soll ich in Hannover? Das habe ich vorhin nur so gesagt. Weil Sie mich fragten, wohin ich mitgenommen werden wollte ...."

Da hatte er den Schlamassel. Er hätte sie nicht mitnehmen sollen. Nicht seine Prinzipien durchbrechen sollen. Nicht aus Mitleid. Nicht aus irgendeinem anderen Grund. Nie. Niemals. Vielleicht ist sie eine Irre? Irgendwo aus einer Anstalt entwichen?

Wenn man Parkplätze sucht, dann kommen keine. Schließlich aber doch. Mit WC, ein paar Holzbänken. Manche sogar mit Tischen. Und Mülltonnen.

"Sie wollen doch hier nicht wirklich aussteigen, Frau Raphael. Hier können Sie nicht bleiben."

"Ich geh' auf die andere Seite und fahre zurück!"

"Aber Sie können nicht auf die andere Seite gehen! Da kommen Sie ja nicht lebend rüber. Außerdem über die Leitplanke ... die sind hoch und mit scharfen Kanten. Nein, das ist völlig unmöglich!"

"Ich weiß sowieso nicht, wo ich hin will!" antwortete sie fast trotzig. "Warum machen Sie sich denn überhaupt Sorgen um mich. Ich kann Ihnen doch völlig egal sein."

"Nein, Sie sind mir ganz und gar nicht egal. Ich spüre doch, dass Sie verzweifelt sind. Dass Sie nicht ein noch aus wissen. Da kann ich Sie doch nicht auf einem einsamen Autobahn-Parkplatz allein zurücklassen."

Tiemann hatte es eilig. Einen Termin in Würzburg. Keine Zeit für ein mitfühlendes Gespräch. Für geduldige, neugierige und doch taktvolle Fragen.

"Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Wir sind bald in Würzburg. Da habe ich zu tun. Ich bringe Sie zum Bahnhof. Von dort geht fast jede Stunde ein Zug nach München. Oder nach Hannover. Oder nach wohin Sie wollen."

Die Frau war fertig. Fix und fertig. Kraftlos war sie auf der Bank in sich zusammengesunken. Er reichte ihr seinen Arm und geleitete sie wieder zum Auto.

"Dass Sie nicht glauben, ich sei verrückt oder durchgedreht, lieber Mann. Sie müssen ja annehmen, ich sei krank oder so. Nein, ich bin einfach weggelaufen. Weggelaufen von zuhause. Eigentlich wollte ich das gar nicht. Ich wollte nur Einkaufen gehen. Nur Einkaufen gehen. Zu ALDI und zu Tengelmann. Morgens hat mich mein Mann wieder so fertig gemacht. Er war wieder so schäbig zu mir. Ich hab' mir gedacht, ich halte es nicht mehr aus. Wie ich über die Straße will, hält da ein Auto an. Der Fahrer lässt die Scheibe runter und fragt mich, wie er am schnellsten zur Autobahn nach München käme. Da kam mir die Idee, einfach mitzufahren. "Da will ich auch gerade hin - aber mit der Bahn!" hörte ich mich plötzlich reden. So als ob nicht ich gesprochen hätte, sondern irgendein anderer Mensch. Natürlich machte er die Tür auf und lud mich ein. "Wenn Sie keine Angst vor mir haben, fahren Sie einfach mit!" sagte er. Und schon saß ich in seinem Auto.

Es geschieht ihm ganz recht, wenn ich nicht zurückkomme. Dann merkt er mal, was er an mir hat, habe ich mir gedacht. Zuerst fand ich das eine gute Idee. Es überkam mich wie ein Rausch: Endlich frei sein. Frei. Rausfahren. Wegfahren. Nicht fragen. Einfach fahren. Als wir so eine Stunde oder so unterwegs waren, dachte ich mir, ob wohl mein Mann unruhig würde. Quatsch, soll er doch. Nein, wenn schon, dann wollte ich ihm so richtig eins auswischen.

 

In München bin ich in die erstbeste Trambahn gestiegen und habe bis zur Endstation gelöst. Da stand dann auch gleich ein Bus. Ich muss wohl tatsächlich irgendwie berauscht gewesen sein. Ich wollte nur fahren, fahren, fahren. Nicht stehenbleiben. Nicht nachdenken. Fahren. Einfach fahren. Durch die Scheiben gucken und alles an mir vorüberziehen lassen ...."

Richtig gesprächig wurde sie plötzlich.

".... aber jetzt bin ich schon über fünf Stunden weg. Jetzt ist er sicher schon zur Polizei gegangen. Oder zu Nachbarn. Hat bei Bekannten angerufen. Meine Frau ist verschwunden. Hat sie jemand gesehen, wird er fragen. Vorhin, als Sie im Stau standen, da war mir, als wäre ganz plötzlich der Rausch verflogen. Von mir abgefallen. Da wurde mir klar, ich muss zurück. Ich kann ihn doch nicht so allein lassen. So mir nichts, dir nichts. Einkaufen gehen und dann nicht mehr wiederkommen. Männer gehen so weg. Abends zum Zigaretten-Automaten - und weg sind sie. Auf Nimmerwiedersehen."

"Sie könnten telefonieren!"

"Zu früh. Nein, er soll erst noch eine Weile zittern. Wenn er überhaupt zittert. Nur wegen der Ungewissheit. Wenn er wüsste, wo ich bin, so weit weg, Würzburg, mindestens ein paar Stunden, bis ich zurück bin, wär' er gleich bei seinem Flittchen. Toll, meine Frau ist weg. Sturmfreie Bude!"

Tiemann nannte ihr noch das Hotel, wo er sich gleich mit seinem Verleger treffen würde. Für den Fall der Fälle. Dann nahm sie ihre Einkaufstasche und verschwand im Bahnhof.

Was es so für Leute gibt, dachte er bei sich. Bis dass der Tod euch scheidet. Aber vorher durch den Vorhof der Hölle?

Schlechtes Gewissen?

Als Tiemann aus dem Hotel kam und sich von seinem Verleger verabschiedet hatte, war sie wieder da.

"Aber Frau Raphael!" So laut brach die Überraschung aus ihm heraus, dass Dr. Kerkhoff sich wieder umdrehte und erstaunt Zeuge wurde, wie sich Tiemann mit dieser Frau unterhielt. Tiemann war das irgendwie peinlich.

"Warum sind Sie denn nicht zurückgefahren? Da gibt es doch jede Menge schnelle Züge, ICE ..."

"Erstens, weil ich meine Scheckkarte vergessen habe. Und zweitens wäre ich ohnehin nicht mehr bis nach Hause gekommen. Da fährt nichts mehr um diese Zeit! Und da dachte ich mir, Sie könnten mich wenigstens bis München zurückbringen - oder? Ich beteilige mich auch am Benzin!"

"Aber ich fahre nicht zurück nach München. Ich könnte Sie bis Ulm mitnehmen. Nein, vielleicht bis Stuttgart. Denn ich will ein paar Tage ausspannen. Ich brauche dringend ein paar Tage Ruhe, Ausspannen, Chaos, schöpferisches Chaos. Die Seele mit den Beinen baumeln lassen. Irgendwohin fahren. Wenn's dunkel wird, einen Gasthof suchen. Ausschlafen. Weiterfahren - vielleicht. Chaos. Nach mir kräht sowieso kein Hahn! Aber Sie, werte Frau Raphael, werden bald von der Polizei gesucht. Und mit dem kleinen Gepäck, was Sie da mit haben, mit Ihrer Einkaufstasche, werden Sie nicht mal übernachten können!"

"In München hätte ich eine Freundin. Bei der könnte ich bleiben! Das habe ich auch meinem Mann gesagt. Dass ich bei der Karin bliebe."

"Und ich kann Ihnen Geld leihen, damit Sie sich eine Fahrkarte kaufen können! Übrigens, weiß die Karin von Ihrem Schmu? - Hier, rufen Sie die Karin an, damit sie eingeweiht ist."

Er reichte ihr sein Handy. Wählte die Nummer für sie. Aber es kam keine Verbindung zustande.

Er nahm die Autobahn über Ulm. Frau Raphael saß neben ihm. Ab und zu wählte sie die Telefonnummer ihrer Freundin. Immer ohne Erfolg.

Keine Karin - kein Nachtquartier. Keine Karin - keine Möglichkeit ihres Mannes, dort anzurufen.

"Gut, wir könnten zusammen ins Theater gegangen sein. Oder ins Kino!"

"Aber morgen früh?"

"Ruft er nicht an. Nicht, wenn er die Nacht bei seiner Britta ist!"

"Oder gerade! Um sein schlechtes Gewissen ...."

Sie ließ ihn gar nicht ausreden. "Schlechtes Gewissen, dass ich nicht lache. Der und ein schlechtes Gewissen! Wissen Sie, wir haben uns auseinandergelebt. 30 Jahre verheiratet. Was soll da noch los sein? Kann ich ihm nicht mal übelnehmen. Frauen werden hässlich, Männer interessant. Ne, auf Krampfadern steht er nicht. Ich lass ihm seine Freiheit. Nur scheiden, hab' ich ihm gesagt, scheiden lass ich mich nicht. Versorgungsgemeinschaft - das muss sein. Wohnen und Rente. Krankenkasse. Und nichts vor den Kindern!"

Karin meldet sich nicht. Im Rasthof Ellwanger Berge lässt sich Frau Raphael zu einem Baguette mit Schinken einladen. Dazu ein Helles. Siehe da. Vielleicht nicht gerade alltäglich; denn danach schläft sie tief und fest. Immer mal wieder fällt ihr der Kopf nach vorn. Kurz vor dem Dreieck Unterelchingen reckt sie sich kurz mal. Hat sie geblinzelt? Stellt sie sich nur schlafend? Und nun? Nach Ulm bis zum Bahnhof und wieder raus auf die Allgäuer Autobahn braucht mehr als eine Stunde, fast zwei.

Besser also bis Memmingen. Karin meldet sich noch immer nicht. Und es dämmert allmählich. Schade - er hatte sich auf einen gemütlichen Abend in irgendeinem kleinen Hotel gefreut. Bei einem Viertel Wein. Allein. Mit dem Block für die Stichwörter. Gedächtnisprotokoll notieren. Aber nicht mit Frau Raphael.

Vor ihm blinken die Warnlichter. Stau. Tiemann wählt die rechte Spur. Für den Fall der Fälle kann er in Dettingen rausfahren und auf die Bundesstraße wechseln. Frau Raphael wird wieder gesprächig.

"Ausgeschlafen?"

"Ja, schon lange. Ich hab' nur so ein bisschen vor mich hingedöst. Hab' mir meine Situation durch den Kopf gehen lassen. Eigentlich kann ich mir doch noch einen schönen Tag machen, so lange das Geld reicht. Wo sind wir denn hier?"

"Hundert Kilometer westlich von München!"

"Und wie teuer sind hier die Gasthöfe?"

"Kommt drauf an, welchen Komfort Frau Raphael in Anspruch zu nehmen gedenkt!"

"Viel kann ich mir nicht leisten. Außer, ich stelle mich morgen wieder an den Straßenrand!"

Die Zimmer kosteten 48 Euro, mit Frühstück. Parkplatz hinterm Haus. An der ARAL-Tankstelle gab es zwar Zeitschriften, Süßigkeiten, Getränke und Schnickschnack. Aber keinen Reisebedarf wie etwa eine Zahnbürste, Zahnpasta, Waschlappen oder gar ein Damennachthemd. Aber ein T-Shirt XXL mit zwei Teddybären drauf. Frau Raphael ist wie ausgewechselt. Ausgelassen wie eine Kegelschwester gackelt sie über ihre Einkäufe, die ein wenig anders ausfallen, als sie morgens geplant waren.

"Er hat kein Brot mehr, keine Butter und nur noch wenig Aufschnitt. Kaffee ist auch alle! Wird er wohl ein langes Gesicht machen morgen. Ach nein, seine Britta wird ihn verwöhnen. Er wird's dann auch nötig haben. Nach einer ganzen Nacht. Ob er die noch durchsteht? Nicht nur so ein vorgetäuschter Kegelabend. Schon danach kommt er ganz schlapp nachhause!"

Tiemann bemüht sich, gerade soviel Konversation zu machen, dass er nicht unhöflich wirkt. Na ja, sie scheint sich nicht allzuviel zu grämen über ihren Fremdgänger. Es gibt Schwäbischen Filettopf. Und für jeden zwei Viertele. Macht nach Adam Riese je einen halben Liter trockenen Trollinger. Der löst die Zunge. Und noch einiges mehr.

"Eigentlich", philosophiert die Lucia-gekleidete Raphaelin, "eigentlich sollte so eine Ehe nach zwanzig Jahren oder fünfundzwanzig automatisch enden! Dann, wenn die Kinder aus dem Haus sind, spätestens. Wer dann noch weitermachen will, der kann ja echt nochmal sein Gespons heiraten."

Tiemann mag sich nicht so recht an dieser Diskussion beteiligen. Braucht er auch nicht, denn der Alkohol hat die Zunge seiner Anhalterin ganz schön gelöst.

"Dann könnte er ja seine Britta fragen, ob sie ihn auf Dauer will. Wissen Sie, das ist eine Floristin, wie man heute sagt. Früher war's für uns halt ein Blumenmädchen. Ist ganz hübsch. Hat ganz schön was in der Bluse. Da steht meiner drauf."

"Scheint Ihnen ja wirklich nicht viel auszumachen!"

"So lange er nicht mit dem Geld rumschmeißt, ihr kein Kind macht und sich kein Aids holt, hab’ ich ihm gesagt, und die Person kommt mir nicht ins Haus! Mach' ich doch kein Trara. Dann lässt er mich wenigstens in Ruh'. Wenn er bloß nicht so hässlich zu mir wäre. Manchmal denke ich, er will mich zu Tode ärgern und schikanieren, damit er an das Haus kommt. Das gehört nämlich mir. Treu war er sowieso nie. Er hat ja lange Zeit im Außendienst gearbeitet. Die ganze Woche weg, in Hotels, Gasthöfen. Da hab' ich immer gemerkt, wenn er was mit einer gehabt hat. Dann wollte er besonders lieb sein. Manchmal wollte er dann mit mir was Neues ausprobieren. Ne, die Männer! Jetzt ist er ja seit zwei Jahren pensioniert."

Tiemann machte seine Studien. War das nun "gut bürgerlich"? Vor dem Schlafengehen wollte er sich noch die Füße vertreten. Nochmal an die frische Luft. Eigentlich allein. Aber die Raphaelin heftete sich an seine Fersen. Nicht ohne Gespür für Zwischentöne.

"Sie müssen schon sagen, wann ich Ihnen auf die Nerven gehe. Aber Sie glauben gar nicht, wie gut mir das tut, mal mit einem Menschen reden zu können. Mal rauszukommen. Ich bin ja da, wo wir wohnen, wie eingesperrt. Sie müssen wissen, ich war Dolmetscherin für Französisch, Italienisch und Spanisch. Da bin ich viel rumgekommen. Lauter interessante Leute. Politiker, Manager, Künstler. Bei Kongressen, Messen, Verhandlungen. Und jetzt nichts mehr. Es gibt so viele Jüngere, Knackige. Die werden von Agenturen lieber vermittelt. Ganz, ganz selten, dass die nochmal für irgendeinen lokalen Anlass an mich denken. Irgendwie ist mein Leben zuende. Mein Sohn, der Georg, ist in San Francisco. Die Tochter Melanie in Hamburg, mit 'nem Lebensgefährten, wie man so sagt. Wir haben wenig Kontakt. Nachhause zieht es sie nie. Spießbürgertum. Dörflicher Mief. Lass dich doch scheiden, sagt sie. Soll er doch zu seiner Britta ziehen ..."

Tiemann dachte über sein eigenes Leben nach. Witwer. Verheiratet mit seinen Manuskripten. Mit den Romanfiguren. Irgendein Erfolgsautor hatte es mal trefflich formuliert: Einen Roman zu schreiben, gleicht einem multiplen Ehebruch. Man lebt, liebt und leidet mit den selbstgeschaffenen und gelegentlich auch selbst umgebrachten Personen. Man erfindet heiße Liebesnächte und tödliche Autounfälle. Meist irgendwelche außergewöhnlichen Persönlichkeiten. Eine Frau Raphael käme höchstens als Randfigur ins Spiel. Sonst keine Chance. Wie alt mochte sie sein? Mitte 50? Ausgespielt? Das Leben zuende? Keine Ziele, keine Träume mehr, nur noch das bisschen Leben ableben, an der Seite eines ebenso gelangweilten Fremdgängers? War es eigentlich unfair, lieblos, wenn er sie leise stellte wie ein Radio? Also ihren Sermon ungehört an seinen Ohren vorbeiziehen ließ? Nur kurz auf Zuhören schaltete?

"Wissen Sie, als Dolmetscherin da hat man natürlich auch so seine Erlebnisse. Da stellen einem die Männer nach. Die Italiener, kann ich Ihnen sagen. Einmal, da waren wir in Hannover. Zur Messe. Standpersonal für eine Maschinenbaufirma. Wir Mädels waren in einem Gartenhaus untergebracht, einer Dependance, wie es vornehmer heißt. Vorne war das Hotel, früher mal ein Herrensitz. Hinten, wo wir wohnten, so 'ne Art Lustschlösschen. Mit 'nem riesigen Badesalon. Mit Rundbadewanne und kleinen Springbrunnen, Liegestühlen. Vor der verglasten Schiebetür ein paar Schritte zum Swimmingpool im Freien. Und wir spätabends da wie die Nixen, nach dem Dinner und vielen Schwätzchen. Die Männer flirten, was das Zeug hält. Na ja, wir da drin in diesem Badeparadies, sechs waren wir. Da merken wir, wie einer seine Nase an der Scheibe plattdrückt. Viel konnte er ja nicht sehen; die war ja beschlagen. Ein paar von uns haben sich zur Seite geschlichen und mit einem Rums die Tür zur Seite geschoben, so dass der Kerl den Halt verlor und kopfüber in unser Badezimmer hineintaumelte. Ein kleiner Schubs, und schon platschte er mit seinem schönen Anzug in die Rundwanne. War das ein Gekreische! Natürlich haben wir ihm die Sachen vom Leib gezogen. Und da saß der arme Kerl, nackig, inmitten von sechs Nixen. Ich möchte nicht wissen, wie oft er diese Szene später in seinen Träumen umgedichtet hat. Denn wir haben uns natürlich an ihm gütlich getan. Kein Sex, nein, nein. Der konnte ja gar nicht. Saß da mit seinem kleinen Würmchen am Bauch. Während wir ihm unsere frühreifen Paradiesäpfelchen vorgeführt haben. Muss eine Tortur für ihn gewesen sein, eine Macke fürs ganze Leben. Was der alles hat erfinden müssen, um seiner Frau oder wem auch immer darzulegen, weshalb sein Pass, sein Führerschein und sein Terminkalender plitscheplatsche nass geworden waren. Geldscheine, alles, Fotos. Ein paar Sachen haben wir mit dem Fön getrocknet. Mit einem Mantel von einer Kollegin und seinen triefenden Sachen ist er lange nach Mitternacht über den Hof getrottet. Armer Kerl. Na ja, wir haben da ja auch noch so allerlei Sachen mit ihm angestellt. Wenn man halt zu mehreren ist!"

 

Frau Raphael im Lucia-Kostüm, Anhalterin, ca. 55, wohnhaft in einer Kleinstadt. Lebt von Erinnerungen! Wegzehrung für wieviele Jahre noch?

Gute Nacht!