Wir kriegen dich!

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Wir kriegen dich!
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Werner Siegert

Wir kriegen dich!

Kommissar Velmonds letzter Fall

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Wir kriegen dich!

Der Strahlen-Mord

Verfolgungsjagd

Tresor der Liebe – die heißen Kisten

Racheakt mit Nagelbombe

Vernehmung

Am Tiefpunkt angekommen

Schweigen

Alpha

Du miese kleine Kriminaler-Ratte!

Ein Jahr später

1. Notabene

2. Notabene

Impressum neobooks

Wir kriegen dich!

Die Bombe ist hochgegangen

Da war es schon wieder! Das Monster, dieser Hüne mit den Krakenarmen! Velmond riss es schweißnass aus dem Tiefschlaf, aufgeschreckt durch seine eigenen Schreie. Er versuchte vergeblich, sich zu orientieren. Schlieren vor den Augen. Alles so fremd. Von wo kam da ein Licht? Ist das schwarze Ungetüm neben ihm ein Schrank? Sein Schrank? Er tastete nach seiner gewohnten Nachttischlampe. Ein Griff ins Leere. Das Monster? Rosarote Augen blinzelten ihn an. Was ging hier vor sich? Da war ein blinkender Punkt und Ziffern? Vorsichtig und ganz allmählich tastete er sich in diese ungewohnte Umgebung vor. Ja, ein Zimmer, aber nicht sein Zimmer. Natürlich nicht.

Er war ja geflohen. Gefahren, gefahren und gefahren, schnell. Gefahren! In doppelter Bedeutung! In den Rückspiegel blickend, ob ihm jemand folgt. Zuerst ziellos. Nur weg aus München. Irgendwohin, wo ihn niemand findet. Über vertraute Straßen, die ihm auf ihre Weise eine Art Geborgenheit zurück gaben. Die Autobahn nach Garmisch. Und weiter über Ehrwald, Fernpass, Nassereith. Hallo, Velmond, da sehen wir uns ja schon wieder. Nein, hier entlang brauchte er nicht auf ein Navi oder eine Karte zu schauen. Es war so etwas wie seine Stammstrecke. Imst, Landeck, vor der Kajetansbrücke ein kurzer Halt. Sollte er doch in die Schweiz flüchten? Aber nein, die Häuser von Hochfinstermünz winkten ihm zu. Rast in Nauders, Beine vertreten. Da steht er immer noch - der Kirchturm im Wasser. Und ihm? Steht auch das Wasser bis zum Hals. Ihm, dem Fischer im Trüben. Es dunkelt, also schnell weiter nach Südtirol. Oder könnte ihm auch dort der Boden zu heiß werden? Er hatte ja nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er sich dort wie Zuhause fühlt, zwischen den Weinbergen und Apfel-Plantagen. Und in den Weinstuben.

Auch in Mals hätte er nochmal die Verfolger durch den Spurwechsel in die Schweiz abschütteln können. Über Taufers nach Zernez ins Engadin? Nein, für diese kurvige Passstraße wäre es ohnehin schon zu dunkel. Also weiter, im Scheinwerferlicht tauchen die Schilder nach Meran auf. Jetzt war er angekommen. Oder auch nicht. Er fühlte sich wie der Indianer, der aussteigen musste, um seine Seele nachkommen zu lassen. Seine Seele? Welche? Die eine, die hatte sich wohl irgendwo auf dem Mittleren Ring verhakt. Und die andere, die Südtiroler Seele war noch nicht voll erwacht. Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust. Klagte nicht Faust auch über zwei Seelen? Die eine will sich von der andern trennen. Seine, Velmonds Seelen, sind zerfetzt, auseinander gerissen. So fühlt es sich an.

„Sie haben ihr Ziel erreicht!“ Auf den letzten Kilometern hinauf nach Lana hatte er diese Orientierungshilfe gern in Anspruch genommen, um als verspäteter Gast in der Dunkelheit zu der Pension „Daheim“ zu finden, die ihm – gegoogelt – Ruhe und Gastlichkeit versprach. Daheim? Wo wäre er daheim? Hier? In München, im 3. Stock, zur Miete, sicher nicht. Jetzt noch weniger.

„Sie haben ihr Ziel erreicht?“ Die kalte Nachtluft mochte zwar Träume verscheuchen, aber die Nachtmahre blieben hart an ihm kleben. Die Hölle in München, der er hierher zu entrinnen versuchte, brodelte auch hier. Sie hatte sich nicht mit seiner anderen Seele auf dem Mittleren Ring verhakt. Vielmehr wie Kletten an ihn geheftet und war in seinem kleinen Peugeot mitgefahren, dem wohl auch das Monster entkrochen war, vor dem er jetzt auf den Balkon hinaus floh und hinab ins schwarze Tal schaute. Nur wenige Lichter grüßten hinauf, auch schlaflos wie er. Glühwürmchen gleich suchten noch späte Autos ihr Ziel. Verfolger?

Todmüde und schlaflos, oh, wie er diese Nächte fürchtete, seit er alles hingeworfen hatte. Einen Triumph hatte er sich davon versprochen, ein Hochgefühl, diesen miesen, vor der erstbesten Gesellschaft buckelnden Chefs seinen Brief mit dem Wunsch nach vorzeitiger Pensionierung auf den Tisch zu knallen. Nein, knallen, das war nicht sein Stil. Mit Genuss hatte er ihn dem Metzner in die Hand gedrückt. Bis hierher und nicht weiter, nicht mit mir. Aber das Hochgefühl hatte sich schon verflüchtigt, als er die Treppen seines über vierzigjährigen Arbeitslebens hinab stolperte, Halt am dicken, wulstigen Geländer suchend. Nein, so Knall auf Fall, wie ihm das ein innerer Dramaturg vorgegaukelt hatte, konnte er das Präsidium nicht verlassen. Gerade für einen Beamten gab es Fristen, Dienstwege, Formalitäten, beklagenswerte Wartezeiten. Im Büro waren alle perplex. Seine Uta ging ans Fenster und schaute hinaus, nur um ihre Tränen zu verbergen. Was Elsterhorst, sein langjähriger, ihm stets mit gebremster Sympathie begegnender Kollege, wirklich dachte, konnte er nur vermuten. Vielleicht stöhnte er schon, weil jetzt noch mehr Arbeit auf ihn zu käme, alle die noch nicht abgeschlossenen Fälle und die neuen, an denen es sicher nicht mangeln würde.

Still hatte er sich an seinen Schreibtisch gesetzt, unfähig, irgend einer Arbeit nachzugehen. Nicht mal Bleistifte gab es zu spitzen oder ein Kalenderblatt abzureißen. Die Akte Krüner, Soko Schilf, höhnte ihn an. Sie war um sämtliche seine erneuten Ermittlungsergebnisse zu ergänzen. Nein, es durfte keinen Mord geben, keinen Vertrauensmissbrauch, keine Erpressung, kein Passvergehen, keine Unterschlagung eines Mietwagens, keine Versuche, Ermittler auf falsche Spuren zu locken. Alles ist zu vertuschen, ungeschehen zu machen. Digitale Aufzeichnungen sind zu löschen. Mehr noch, es galt, den Täter zum Opfer zu stilisieren, damit um des Himmels Willen kein ehemals geachteter Kriminal-Hauptkommissar als Mörder eines 22-jährigen, von seiner Gier infizierten Elektronikers entlarvt würde.

Dürfte er um diese Zeit duschen? Ihm war danach, kalt oder warm, egal, alles abwaschen, weg rinnen lassen, porentief rein. Entkrünern. Entmonstern. Morgen früh ein neuer Mensch sein. Eine Fata Morgana leuchtete vor ihm auf: duftender Kaffee, resche Semmeln, ein Frühstücksei, Honig, Schinken, Käse. Kein Single-Gewurschtel. Nein, liebevoll gedeckt. Ach wär's nur bald soweit.

Metzner gab sich noch der Illusion hin, man könne das alles vor der Presse verbergen, geheim halten. Nein, mein lieber Chef und ihr alle ganz da oben in euren eichengetäfelten Edelbüros mit den gepolsterten Türen und den Vorzimmerdamen, wie weltfremd ist das denn? Wie lange seid ihr schon im Job, um euch solchen Hoffnungen, solchen Illusionen hinzugeben?

Wer auch immer die ersten Hinweise der BILD-Redaktion – vermutlich gegen aberwitzigen Judaslohn – durchgestochen hat, die Zündschnur zu dieser Bombe brizzelte rasend schnell, dann gab's den großen, alles verrußenden Knall. Je brisanter das Ding, desto höher die Aufmerksamkeit, je geringer die wahren Informationen, desto brodelnder die Gerüchteküche und schon klopfte man zu nachtschlafender Zeit an seine Wohnungstür, ließ die Klingel aberwitzig lange und oft schrillen, so dass seine Hausbewohner protestierten. Das Telefon jaulte. Endlos. Nur nicht abnehmen. Jaja, der Herr Hauptkommissar Velmond, mal wieder. Denn man hatte natürlich schnell herausgefunden, wer den sauberen Krüner zur Strecke gebracht hatte. Wie lange hält man es da hinter der verschlossenen Tür aus? Kein Licht machen! Kein Mucks! Kein Türklappern! Ob die Meute sich von Balkon zu Balkon hangeln würde? Bis die Hausmeisterin mit der Polizei drohte, laut und vernehmlich brüllte „Der ist nicht da, verdammt noch mal! Jetzt is a Ruah!“-„Aber sein Auto ist in der Garasch!“- „Das braucht er auch nicht immer! Jetzt haut's ab!“

Nein, an Schlaf war nicht mehr zu denken. Trotz dreier Pillen Neurexan; hilft gegen Erregungszustände und „ich kann auch besser schlaaafen“, sagt die Werbefrau mit den Möwen. Dem nächsten Tag kann man mit den stärksten Pillen nicht entgehen, außer bei Exitus.

Natürlich war man im Präsidium fest davon überzeugt, er sei es gewesen, der die Presse informiert habe. Aus lauter Kränkung, aus Rache, aus übersteigertem Gerechtigkeitsgefühl. Weil sie es selber wohl so gemacht hätten. Wie soll man beweisen, was man nicht getan hat? Schon weil es eine sichere Art beruflichen Selbstmords gewesen wäre? Wie nun bewiesen ist. Alles ist kaputt. Fristlos habe er das Haus zu verlassen. Alles andere schriftlich.

 

Jemand pocht an seine Tür. Laut und vernehmlich. Der Schreck lähmt seine Glieder. Schwindel erfasst ihn. Kaum kann er auf seinen Beinen stehen. Sind die Verfolger schon da? Velmond reibt seine Augen. Alles ist so hell um ihn herum. Aber das Pochen nimmt kein Ende. Jetzt dreht sich sogar ein Schlüssel im Schloss.

„Herr Velmond, es ist schon nach zehn! Frühstückszeit ist um!“

Ist es schon aus mit der Fata Morgana? Aus der Traum ... aber wieso wissen die seinen richtigen Namen? Er hatte sich doch unter Anzengruber eingetragen.

„Ich bin in fünf Minuten unten! Hab' total verschlafen, Entschuldigung!“

War das die Pensions-Chefin? Gestern Abend ein Nachtportier? Schnell wirft er sich was über. Rasieren? Keine Zeit! Gerade noch mit den Fingern die grauen Haare bändigen. Die Wirtin, hochgewachsen, vermutlich zwischen 50 und 60, und immer noch mit einem strammen Ringzopf. Dirndl. Strenger Blick! Sieht nicht gerade wie die Mutter in einem gemütlichen „Daheim“ aus.

Man würde ihm ausnahmsweise im Nebenzimmer noch was eindecken. Das träfe sich insofern gut, als man Wichtiges zu besprechen habe. Die anderen Gäste seien zwar schon längst unterwegs, aber sicher sei sicher. Das bräuchte ja nicht jeder mitzuhören.

Kein Frühstücksei, kein Honig, ein paar Reste vom Buffet; wenigstens ein Kännchen Kaffee.

„Herr Velmond, sie heißen ja nicht Anzengruber, sondern sind der Kommissar aus München und werden polizeilich gesucht.“

„Woher wissen Sie das?“

„Seit zwei Tagen brodelt es im Fernsehen. Alles dreht sich um den Strahlen-Mord. Das, was da diesem armen Mann angetan worden ist, dem man das Gehirn umgedreht hat oder wie das geht. Willfährig sei er gemacht worden von so einem Elektronik-Menschen. Ich weiß ja auch nicht, wie das gehen soll. Aber über uns sind ja auch diese Chemtrailes, diese weißen Streifen, die von Flugzeugen ausgestoßen werden und aus denen giftige Feinstoffe zu uns runter rieseln, die unsere Gehirne zerbröseln lassen. Woher kommen denn die vielen Demenzkranken? Die hat's doch vorher nicht gegeben. Das sind doch erste Opfer dieser geheimen Mächte. Die haben ja auch schon mal in Meran getagt, Bilderberg oder wie die heißen. Die mächtigsten Leute der Welt, nach deren Pfeife alle Regierungen und unsere schon gar zu tanzen haben. Die haben doch den Muslimen unser schönes Land versprochen. Ist doch längst bewiesen. Wir dürfen's nur nicht erfahren.“

„Und was hat das jetzt mit mir zu tun?“

„Sie werden als Zeuge gesucht. Mit Foto! Und Autonummer! Im Fernsehen und hier im 'Meraner Tagblatt'. Also wir werden Sie ganz sicher nicht verpfeifen. Aber Sie können unmöglich hier bleiben. Das können wir uns nicht erlauben. Unsere Gäste würden Sie erkennen, und dann?“

Velmond ließ den Kaffee stehen und bat um die Rechnung.

„Sie können ja rauf fahren zu meinem Bruder, gleich hier Straße weiter nach oben, nach einer Weile kommt ein Schild, da geht es rechts hinauf nach St. Magdalena.“

„St. Magdalena? Das liegt doch oberhalb von Bozen?“

„Nein, das ist unseres hier. Der Maierhofer Willi hat dort seinen kleinen Holzbetrieb und ist gleichzeitig Mesner für's Kircherl. Da findet sie keiner.“

„So, so, der arme Herr Krüner war also ferngesteuert wie ein Kinderspielzeug, als er den Burschen umgebracht hat und mit der Geliebten geflüchtet ist? Und auch bei der Erpressung? Und als er sich mit falschen Pässen im besten Hotel am Platze eingemietet hatte? Alles ferngesteuert?“

„Diese Geliebte soll das ja alles eingefädelt haben, so eine infame Chinesin. Die wollte ja mit der gesamten Beute durchbrennen.“

„Und hat sich sogar mit einem falschen Pass in der Universität in Bozen eingeschrieben und war überaus beliebt, und ich war sogar mit ihr oben auf dem Vigiljoch, wo sie nach seltenen Alpenblumen geforscht hat. Aber ferngesteuert? Hat sie mich nicht! Und dann ist sie abgehauen.“

„Waaas? Sie kennen die?“

„Ich weiß sogar, wo sie gewohnt hat mit ihrem Adda, ihrem angeblichen Vater.“

Velmond zahlte seine Rechnung, verließ das „Daheim“, das kein Daheim hatte werden wollen, stieg in sein kleines Auto, entschlossen, jedenfalls nicht nach diesem St. Magdalena zu fahren, jederzeit der Gefahr ausgesetzt, verraten zu werden. Aber wohin dann? Auf Schleichwegen nach Bozen und dann hinauf zu dem anderen St. Magdalena, dem Weingut, von wo er seit Jahren seine kräftigen Roten bezog. Dort gehörte er fast schon zur Familie.

Der Strahlen-Mord

Nun vergiss leises Fleh'n, süßes Kosen“ - Lothar Velmonds Handy-Melodie aus Mozarts „Figaros Hochzeit“ - riss ihn aus seiner Verzweiflung. Das konnte ja nur seine Kollegin Uta Möbius sein. Wer noch wüsste seine geheime Mobilfunk-Nummer?

„Ja, wer dran?“

„Lothar, ganz schnell, ich rufe aus einer Telefonzelle an. Wie geht es dir? Wo bist du?“

„Es geht mir gut. Pass gut auf: Geh' in meinen Keller. Du hast ja meinen Wohnungsschlüssel und weißt, wo der Kellerschlüssel hängt. Hole dir eine Flasche „Magdalener“. Over!“

Hastig drückte er auf die rote Taste. Verfolgungswahn?

Nun vergiss ...-“ - nochmal didaada, didaada, didadaaha..“

„Was soll das? Wo bist du?“

„In einer Dachkammer ... hol' den Magdalener und bringe ihn mir. Es ist zu gefährlich zu sprechen.“

„Ja, Roger!“

Litt er unter Verfolgungswahn? Hatte er sich das nur eingebildet, dass die Medienmeute ihm auf der Pelle ist? BILD und noch gefährlicher die SPIEGEL- Rechercheure? Wenn sie eine exklusive Story aus erster Hand haben wollten, dann doch nur von ihm. Dabei ist ihm durch seinen Beamteneid jegliche Weitergabe dienstlicher Kenntnisse streng untersagt. Soviel dürfte doch wohl rausgesickert sein, dass er den Krüner zur Strecke gebracht hat. Ha, und jetzt ist der arme Kerl hypnotisiert und von chinesischen Strahlen gelenkt worden ... wie lange hatte er nicht mehr so herzhaft lachen müssen, als er das las. Für wie dumm halten die denn die Menschheit? Nur weil nicht sein kann, was nicht sein darf? Er hätte da noch eine andere Diagnose: den Einzeller Toxoplasma goudii, der sich ins Gehirn hineinfrisst. Der kommt der von der deutschen Katzenliebe. Dass „seine Uta“ ihm den Magdalener bringen soll, hatte sie hoffentlich richtig verstanden. Vielleicht rätselte sie noch ein bisschen an diesem ausgefallenen Wunsch. Aber hier hatten sie mal gemeinsam ein paar Flaschen gekauft und mit heim genommen, nachdem der Fall „Rosenbank“ einigermaßen glücklich abgeschlossen werden konnte.

Na ja, als er das Weingut erreicht hatte, gab es zunächst mal ein großes Wiedersehens-Hallo. „Wisst Ihr, wer gerade gekommen ist?“ rief die Elli ins Haus. „Unser Lothar!“

„Braucht's mal wieder ein paar Kisterl? Und wie geht's denn sonst?“

Ein sicheres Zeichen, dass sie hier das „Meraner Tagblatt“ nicht beziehen und meist auch keine Zeit haben, sich lange vor den Fernseher zu setzen.

„Hast den neuen schon probiert? Wunderbar, sag' ich dir. So einen Jahrgang haben wir schon lange, lange nicht mehr im Fass gehabt! Den würd' ich an deiner Stelle mal auf Vorrat bunkern.“

Er musste auch gleich ein Glaserl probieren, als sich der Rest der Familie aus allen Ecken des Anwesens um ihn versammelte. Hier hatte er sich mal unverdient Ruhm erworben. Noch immer hing dort das Dartsbord aus Stroh am Baum. Übermütig griff er damals, als er das erste Mal Wein kaufte, einen Pfeil und ... traf sofort die Mitte! Unter großem Hallo! Heute jedoch war ihm gar nicht nach großem Bahnhof zu Mute.

„Elli, ich hab' was ganz Wichtiges mit Euch zu besprechen, am besten mit dem Peter und dir. Über den Wein reden wir später. Kurzum: Ich brauch' ein Quartier, vielleicht für länger, irgend ein einfaches Kammerl ohne großen Komfort, irgendwo hier. Ihr habt doch auch Ferienwohnungen.“

„Hast wieder einen Fall? Bist wieder einem Mörder auf der Spur?“

Da stieg natürlich die Spannung.

„Ich erzähl's Euch nachher gern, aber jetzt erstmal die Frage, ist irgendwo was frei bei Euch?“

Die Elli tuschelte ein bisschen mit der alten Oma, die ihn wieder so freundlich wie damals umarmt hatte.

„Ja, da wär was frei, aber nicht grad hier, sondern so anderthalb Kilometer weiter, Richtung St. Peter. Wart', ich begleit' dich gleich hin.“

So saß er nun hier in einer ziemlich geduckten Dachstube unter schweren Balken.

„Kost' fast nix, weil, die vermieten wir nur ausnahmsweise. Zur Weinlese wohnen hier Polen, die uns helfen. Gute, fleißige Leut'. Mach' dir's gemütlich. Nachher, wenn der Peter aus den Reben zurück ist, kommen wir und bringen alles, was du zum Leben brauchst, und dann ratschen wir!“

Velmond warf sich erst einmal aufs Bett. Was hatte er sich da eingebrockt? Nur um der Gerechtigkeit wegen? War's das? Oder spielte nicht auch der Triumph mit, dass es ihm und nur ihm mal wieder gelungen war, einen dicken Fisch an Land zu ziehen? Und dass er den Elsterhorst mal wieder hatte blass aussehen lassen? Nein, das ganz bestimmt nicht. Immerhin hatte ja auch er sich wie ein Idiot benommen, als er mit der Liang Sook auf dem Vigiljoch war, under cover, und dann rutscht ihm sein Dienstausweis aus der Rucksacktasche. Mannomann, ein blöder Anfängerfehler. Aber hatte ihn nicht genau diese Panne auf die Spur zur Uni Bozen geführt?

Könnte er sich hier wirklich sicher fühlen? Könnte nicht sein Handy geortet werden? Eine leichte Übung. Auch wenn er den Chip rausnehmen würde? Und sein Notebook? Kann man das auch lokalisieren? Aber ohne Handy keine Uta.

Ob ihm der Krüner auch nachstellt? Ja, sicher! Er verfügt ja über handfeste Beweise gegen diesen Unhold. Wenn man ihn noch so sehr befohlen hat, die ganze Akte Krüner mit sämtlichen Unterlagen, sämtlichen Beweisen und einem Abschlussbericht abzugeben; aber sein Gehirn zu entleeren, sozusagen alles zu markieren und dann zu löschen, das vermochten sie noch nicht. Hatte man Krüners Gehirn entleert, neu programmiert, wie jetzt behauptet wird? Strahlen-Mord, Hypnose, Gehirnwäsche? Zuständig wäre für soziales Verhalten der Frontallappen des Gehirns, direkt hinter der Stirn. Als vor mehr als hundert Jahren dem Vorarbeiter in einer Mine, dem Phineas Gage, bei einer missglückten Sprengung eine Eisenstange durch die Stirn in den Schädel geschossen kam und er wider alle Erwartungen überlebte und nach einiger Zeit sogar seinen Job weiter ausführen konnte, war aus dem umgänglichen, beliebten und empathischen Menschen ein Ekel geworden, ein Stinkstiefel und Menschenschinder. Erst dadurch war man darauf gekommen, welche Funktion dieser Frontallappen für unser Verhalten inne hat. Aber Krüner war nichts durch die Stirn geschossen. Ihm war nur zum Verhängnis geworden, dass er sich in dieses exotische Frauenzimmer verliebt hatte oder ihren Verführungskünsten erlegen war. Durchbrennen! Das ist doch der große Traum aller pensionierten Männer; endlich die Freiheit genießen und auskosten. Und das noch dazu mit einem rassigen, jungen Weib und jeder Menge Kohle! Und wie dran kommen? Gelegenheit schafft Diebe. Nur dass dieses durchtriebene Weibsstück zugleich mit dem Hellrich liiert war. Der allerdings eine ganz besondere Morgengabe in den diebischen Dreier einbringen konnte: erotische Filmchen, aufgenommen von Minikameras in durch ihn installierte Brandmelder im Hotel, auf Speicherkarten, die er bei jeder vorgeschriebenen Inspektion austauschen konnte. Liebesszenen, Badewannen-Orgien – und die Personen dazu aus der sogenannten besseren Gesellschaft. Fertig war der teuflische Mix für eine Erpressung der Extraklasse. Denn als Berater, was man dagegen unternehmen könnte, diente der arglosen Frau Krämer wie stets der kriminologische Experte Hauptkommissar i.R. Paul Krüner. Er war der Berater gegen sich selbst! Jetzt musste nur noch die Geldübergabe klappen, natürlich „bewacht und überführt“ durch Hauptkommissar i.R. Paul Krüner. 500.000 € gefordert, von ihm selbst auf 400.000 € runter verhandelt, wie edel er doch war. Hatte der Krämerin 100.000 € erspart. Sich selbst allerdings auch. Nun musste nur noch der überflüssige Dritte im Bunde ausgeschaltet werden, wozu doch zerschlagene Sektflaschen im Gummiboot gut sind! Dann routiniert falsche Spuren gelegt und ab ging's ins schöne Südtirol. Und wenn der Boden zu heiß würde, mit den aus der Asservatenkammer „entliehenen“ Pässen der verstorbenen Lauritzens davon fliegen.

Und das alles musste der arme Kerl aufgrund von Hypnose und chinesischer Software erleiden?

 

Wieder riss ihn heftiges Klopfen aus seinen Gedanken wie aus den Szenen eines Films.

„Wer da?“

„Wir sind's, Lothar!“

In zwei Körben brachten sie ihm Wein und Brot, Schinken, Käse, Butter, Honig, Marmelade. Alles aus eigenem Anbau.

„So, und nun erzähl mal, was dich zu diesem Versteckspiel treibt. Hast du doch bisher nicht nötig gehabt. Oder ist das alles streng geheim?“

„Nein, es steht sogar in der Zeitung, im „Meraner Tagblatt“, in BILD ohnehin, durchzieht auch seit einigen Tagen das deutsche und österreichische Fernsehen. Mit Foto vom bösen Lothar Velmond, flüchtig in einem Peugeot 207 älterer Bauart, gegenwärtiger Aufenthaltsort unbekannt, Kennzeichen M-LV 30XXX. Ihr werdet es auch erfahren und Eure Leut'. Vielleicht muss ich mir dann einen einsamen Heuschober suchen. Na ja, wo soll ich anfangen?

Es war einmal ein altes, mondänes Hotel in einer vornehmen Randlage von München. 24 Betten in 14 Zimmern. Dunkelgrüne Stofftapeten aus Samt und silbernen Stickereien, wuchtige Stilmöbel, Ölgemälde, Doppeltüren, Ausblick zum Park, Badezimmer mit musealen Armaturen, geerbt von ihren Eltern von der ältesten Tochter, die unschwer erkennen konnte, dass sich so ein Haus heute nicht trägt. Sie hat es, so gut es ging, mit der Unterstützung alter Stammkunden weitergeführt, als eines Tages ein Cousin von ihr mit einem Packerl unterm Arm kam und sie um einen Gefallen bat. Im Packerl waren Dinge, von denen er nicht wollte, dass sie eines Tages seiner Frau oder den Erben in die Hand fallen, so nach dem Motto 'Dir ist ja das alles nicht fremd ... in so einem Hotel ... könnte ich dir nicht das Päckchen zu treuen Händen zur Aufbewahrung anvertrauen?'. Ob der liebe Gott oder der Teufel zugeschaut hatten? Oder der Cousin mit seinesgleichen geplaudert? Es kamen weitere Packerl und weitere. Sie erkannte einen Rettungsanker und professionalisierte die höchst diskrete, namenlose, kennzifferbeschützte Dienstleistung. Heute würde man Passwort sagen. Für 20 € im Monat, 100 € Grundgebühr. 10 Jahre maximale Aufbewahrung. Jederzeit nach Anmeldung auszuhändigen gegen Vorlage des Coupons, wie bei einer Theatergarderobe. Im ehemaligen Luftschutzkeller wurden Regale aufgestellt. Die lieben Sünderlein, auch Frauen gesellten sich dazu, kamen immer mal wieder, um in ihren Schachteln die süßen Stunden wieder aufleben zu lassen. Mieteten dazu ein Zimmer. Im Jargon hieß der Service „Tresor der Liebe“.

Peter entkorkte eine Flasche. Gläser hatten die beiden natürlich nicht vergessen. Das war so recht eine Geschichte, zu der ein Glas vorzüglichem Magdalener 2017 trocken ausgebaut passt.

„Weil Frau Krämer auf Nummer Sicher gehen wollte mit diesem heißen Geschäft, kam ihr eines Tages ein Gast sehr zu passe. Der verwitwete Hauptkommissar i.R. Paul Krüner mietete sich immer mal wieder über ein Wochenende ein und nutzte auch Sauna und Pool, die Frau Krämer hatte einbauen lassen, um mehr Gäste anzuziehen. Sie bat ihn um Rat. Er fühlte sich geschmeichelt und erarbeitete sowas wie Allgemeine Geschäftsbedingungen. Was also nicht in den Schachteln enthalten sein dürfe: Waffen, Munition, Parfums, Flüssigkeiten, Schwarzgeld. Nach zehn Jahren oder wenn der Tod früher eintreten würde, wird alles verbrannt. Keine Aushändigung an Zweite oder Dritte. Nie!

Die Öffnung nach Ablauf der Mietzeit erfolgte stets im Beisein des Kommissars, damit alles seine Richtigkeit hat. Aber mit dem Verbrennen war man ebenso wenig konsequent wie mit dem Hüten der Namen. Besonders schöne Liebesbriefe, kostbare Memorabilien, Schmuck, goldene Ringe, erotische Fotos wanderten in eine besondere Kassette, bald in ein zweite. Beide wurden oben in Gisela Krämers Wohnung aufbewahrt. Zweitschlüssel beim Kommissar. Und auf einmal war eine Kassette weg, geklaut. Von wem? Wer hatte einen Schlüssel zu ihrer Wohnung? Genau wissen wir es nicht. Aber i c h weiß, wo sie sich bis vor wenigen Tagen befunden hat – im Keller des vertrauensvollen Kommissars. Diesen Beweis kann ich nicht verwerten, weil ich mir mit einem Trick Zugang verschafft hatte.

Bei seinen zahlreichen Besuchen und Wochenend-Aufenthalten im Parkhotel Krämer verliebte er sich in die Service-Kraft Liang Sook, ein schlankes, attraktives Thai-Mädchen, das an der Münchner Uni studierte. Sie war ihrerseits befreundet mit einem IT-Studenten der Technischen Universität, der im gleichen Studentenheim wohnte. Er verdiente sich zusätzlich Geld damit, dass er für die Firma SpyTronix in Gebäuden Brandmelder installierte, wie das Gesetz es befahl. So auch im Hotel Krämer. Er war ein Tüftler und konnte immer bei SpyTronix basteln, wenn er nicht im Einsatz war. Seine Spezialität: in Brandmelder eingebaute Minikameras und Wanzen mit Speicherkarten. Damit ließen sich in Hotelzimmern, in Schlafzimmern, in Bädern voyeuristische Videos filmen. Die Speicherkarten wechselte er bei Wartungsarbeiten aus. Oder es half ihm im Parkhotel schon mal Liang Sook aus. So entstanden zahlreiche diskreditierende Filmchen auch über liebeshungrige Prominente. Liebe macht bekanntlich blind, aber dass sie einen Mann mit bisher tadellosem Ruf und Zugehörigkeit zur kultivierten oberen Gesellschaft so umnebeln kann, dass er beschließt, mit seiner Geliebten durchzubrennen und das Geld dafür erpresserisch zu beschaffen, nämlich bei Frau Krämer, indem er ihr anonym eine Kostprobe aus der von ihm gebunkerten Kassette zu kommen lässt, mit einer Forderung von 500.000 Euro, das ist schon krass. Zugleich berät er dieselbe Frau Krämer, wie sie mit dieser Erpressung umgehen soll. Er verspricht ihr, bei der Geldübergabe den Ganoven höchstpersönlich zur Strecke zu bringen. Angeblich gelingt es ihm, die Summe auf 400.000 Euro runter zu verhandeln. Um die Geldübergabe zu organisieren, nämlich in einer Kombination mit Bike an Land und Boot über den Starnberger See, nehmen sie Liangs Freund Hellrich in ihr nunmehriges Trio auf. Alles klappt. Krüner wartet im Dunkeln auf der Westseite und gibt Lichtzeichen. Liang und Fabian paddeln mit der Beute und reichlich Alkohol los. Sie besaufen sich vor Glück, der Fabian will ihr offenbar an die Wäsche, sie knallt ihm eine Flasche auf den Kopf, denn er hat seine Schuldigkeit getan und kann nur noch gefährlich werden. Krüner zieht das Boot ins Schilf, entnimmt Beute und Liangs Kleidung in NORMA-Plastiktüten. Mit einer zersplitterten Flasche schlitzt er die Kammern auf und unternimmt nichts, den noch lebenden Jungen zu bergen, im Gegenteil, er zieht ihn ins Wasser und lässt ihn ertrinken. 400.000 durch 2 ist mehr als durch 3.“

Inzwischen war es dunkel geworden. Vor lauter Spannung hatte Peter ganz vergessen nachzuschenken.

„Und warum musst ausgerechnet du dich hier verkriechen?“ wollte Elli wissen.

„Ich habe das verbrecherische Pärchen hier in Bozen ganz durch Zufall entdeckt, aber sie sind mir durch die Lappen gegangen. Das Nest in Gries, in der Pension 'Calendula', war leer, die NORMA-Tüten auch. Beide sind mit den von Krüner aus der Asservatenkammer gestohlenen Pässen nach irgendwo geflohen.“

„Aber das spricht doch eher für dich!“

„In München gilt es, mich maultot zu machen. Denn der Krüner, das ist sowas wie ein Heiliger. Der macht sowas nicht. Und wenn er es gemacht hat, dann nur unter Drogen oder Hypnose oder als Opfer einer chinesischen Software, mit deren Hilfe der Elektroniker Fabian den Kommissar umgedreht hat. Jedenfalls stehen solche Sachen in der Zeitung. Und ich habe gewagt, an diesem Idol zu rütteln. Ich wurde entlassen! Natürlich mit Maulkorb. Aber die Presse ist hinter mir her und vermutlich der Krüner auch; denn alle wissen, dass ich immer noch über die Beweise verfüge. Hier in meinem Kopf und zum Teil noch auf meinem Notebook, im Handy und in einem USB-Stick. Den würde ich Euch am liebsten mitgeben. Ein Weingut hat viele Verstecke.“

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