Sefire

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Werner Siegert

Sefire

Die Geschichte einer schier aussichtslosen Flucht

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Assil … Assil …

Alles in Aufruhr

Irena

Eine blutvolle Nacht

Waahnsinn!

Katastrophe 921

Das Schwein

Die Flucht

Unerwünscht?

Um ein Haar!

Notabene:

Hinweis:

Impressum neobooks

Assil … Assil …

Bitte! Versetzen Sie sich nur mal für den Bruchteil einer Sekunde in folgende, in meine Situation: Sie fahren mit dem Lift in einem dieser amerikanisierten Luxushotels in Ihre Etage ....

Es ist kurz nach der Tischzeit. Der Flur liegt ruhig da. Die Bettwäsche-Container sind abgezogen. Die Service-Wägelchen mit den Röschen fürs Badezimmer, den Duschgel-Fläschchen und Vim-Dosen verschwunden. Die rotbunte Auslegeware schluckt jeden Trittschall. Es scheint, als sei ich der einzige Gast weit und breit. Arglos und in der Vorfreude auf ein paar Minuten Siesta schiebe ich meine Code-Karte in den Türschlitz, es summt leise ....

.... da drückt mich jemand mit äußerster Vehemenz von hinten in mein Zimmer hinein, so rasch, dass ich beinahe stürze. Ich spüre einen Druck in meinem Rücken, beim Umblicken starre ich in das halb verschleierte Gesicht einer, ja was denn? Iranerin, Irakerin, Perserin, ich kann das doch gar nicht unterscheiden, so schnell, wie die mich aus ihrem Tschador, oder wie man das nennt, mit weitaufgerissenen Augen anstarrt und hastig die Tür hinter sich ins Schloss zieht. Mein Herz rast. Ich hatte so viele Fotos von arabischen, iranischen, persischen Fanatikerinnen, von hassverzerrten Polit-Hexen gesehen, von Terroristinnen, die gnadenlos mit Maschinenpistolen in Flughäfen herumgeschossen und hilflose Passagiere ermordet haben, dass ich in Bruchteilen von Sekunden aschfahl wurde, mich an der Wand festkrallte und bereit war, um mein Leben zu flehen, als die Frau mir nur immer wieder die Worte ins Ohr hämmerte:

"Assil...Assil...Assil, bitte Assil!"

An ihrer flehenden Geste erkannte ich, dass sie von mindestens soviel Angst gepeinigt war wie ich. Dass mir überhaupt keine unmittelbare Gefahr drohte. Dass sie unbewaffnet war. Erschöpft ging sie zu Boden, warf sich knieend vor mich, beugte sich tief zum Boden und stieß immer wieder ihr zischendes "Assil ...Assil" aus, das mir nicht in den Kopf wollte. Ich vermutete zunächst einen Namen dahinter, einen exotischen Vor- oder Nachnamen, zweifelte, ob nicht eine flüchtige Verwechslung vorläge, beugte mich hinab, um der Frau aufzuhelfen, fasste sie am Arm und setzte die Zitternde auf das Fußende meines Bettes.

"Assil, bitte, Assil, not return to Iran, bitte, Assil!"

Erst jetzt begann ich zu begreifen, obwohl es mir total vermessen erschien, mir, als einem einfachen Mann, einer natürlichen Person, wie sich die Juristen auszudrücken pflegen, jemandem Asyl gewähren zu können. Ich, ein deutscher Mann ausgerechnet einer iranischen Frau, einer wildfremden, exotischen jungen Frau! Ich, der ich hier selbst nur für anderthalb Tage in diesem Hotel zu Gast bin. Misstrauisch begann ich, an eine Falle zu glauben, an die Ouvertüre einer erpresserischen Affäre.

Jetzt riss sie sich mit zorniger Entschlossenheit den Tschador vom Leib und schleuderte ihn auf den Boden.

Assil, bitte, Assil, nix wegschicken, nix Telefon, nix Polizei! Stay in Allemagna. Nix return to Iran. Dann tot! Compris? Versteh?"

Ich schaute auf die Uhr. Ich hatte nur zwanzig Minuten Pause, bis die Konferenz und meine die Präsentation weiterging. Und diese Zeit war wie im Fluge vergangen. Panik schoss in mir empor. Was sollte ich nur machen?

Die Frau, nein, jetzt nahm ich es erst richtig wahr, dieses junge Mädchen, geschätzte 18 Jahre, hier in meinem Zimmer allein lassen? Allein mit allen meinen Sachen? Mit dem Telefon? Ich musste sofort nach unten. Stotternd versuchte ich, eine Sprache herauszufinden, in der wir uns verständigen könnten. Versuchte es natürlich zunächst in Deutsch, aber da starrte ich nur in fragende Augen.

"You speak English?" erforschte ich.

"Just a bit!"

Am Akzent merkte ich, dass ihr Französisch eher geläufig sein müsste. Aber darin war ich nun wiederum ein radebrechender Laie. Eher kam ich mir vor wie eine Parodie auf einen deutschen Touristen, der dieser schwarzhaarigen Suzette einen äußerst komplizierten Sachverhalt in Bruchteilen von Sekunden mit Händen und Füßen, mit Gesten und einem Gemisch internationaler Wortgebilde zu erklären versuchte.

"You stay here, s`il vous plait, totale secret. I don’t tell anybody about you! Understand? In one hour!“ Ich zeigte ihr diese Zeit auf meiner Uhr, "je suis retour and I help you, if I can, understand?"

Sie nickte - Gottseidank! Und dann sagte ich kühn und mit dem innerlichen Gefühl einer totalen Kapitulation, eines Totalverlustes, einer irrsinnigen Idiotie:

"Make yourself at home!" Zeigte ihr den Kaffeetopf, die Kekse, holte aus meiner Tasche eine Tafel Schokolade. Sie lächelte mich an. Ja, als ich ihr die Schokolade in die Hand legte, bemerkte ich deutlich, wie sich eine Maske totaler Anspannung von ihrem Gesicht löste, von diesem sehr ausdrucksvollen Gesicht. Sie nahm meine Hand, drückte sie fest und seufzte nur: "Gutt, gutt! - In Stunde retour?"

Ich raste zur Tür, denn Zuspätkommen bei Business-Präsentationen, das konnte schon das Ende bedeuten. Wie oft hatte ich meinen Mitarbeitern Standpauken gehalten, dass so etwas nie, nie und nimmer nie passieren dürfe, und jetzt hing ich hier noch fest, während unten bereits alle vorwurfsvoll auf die Uhr schauen würden.

Eilig verließ ich das Zimmer, nicht ohne den Flur auf verdächtige Personen zu kontrollieren. Dann aber schoss es mir in den Kopf, dass ja irgendeine Gouvernante das Zimmer inspizieren könnte, ob alle Streichholzheftchen vorschriftsmäßig platziert, die Minibar komplettiert und die langweiligen Prospekte in der vorschriftsmäßigen Reihenfolge sortiert lägen. Also - zurück!

Das Mädchen erschrak, als ich erneut durch die Tür trat. Wortlos nahm ich das Schild mit dem Ruhe heischenden Finger vor dem stilisierten Frauenkopf BITTE NICHT STÖREN! und hing es nach draußen. "Und don`t serve the telefon!" radebrechte ich noch. Dann lief ich mit zitternden Knien und hochrotem Kopf zum Lift. Der mich natürlich, wie immer in solchen Situationen, ein Jahrhundert warten ließ, bis es Bingbong machte, und dann noch mit rotem Lämpchen, also erst einmal aufwärts bis zum 21. Stock.

Ich weiß nicht mehr, was für eine Entschuldigung ich stammelte, als ich ohne jegliches Konzentrationsvermögen in den Salon "Heidelberg" stürzte. Hatte da jemand "Na endlich!" gesagt - oder war es meine Phantasie, die solchen Horror inszenierte? Weshalb war ich ohne einen der Kollegen hierher gefahren? Es sollte eine Routinesache werden. Eigentlich eine Formalität, denn der Klient war uns schon seit Jahren treu. Aber jetzt floss mir jeder Satz stockend aus dem Mund. Unsere Scribbles und Entwürfe schienen mir merkwürdig fremd und belanglos. Power-Point-Charts öde

"Irgendetwas ist mir beim Essen nicht gut bekommen..." flunkerte ich, um der Runde etwas Verständnis für meine Fahrigkeit abzugewinnen.

"Aber es war doch so leicht, und überhaupt nichts Außergewöhnliches!"

Aha, dachte ich mir, sollte das etwa eine Kritik sein? Besticht unser Wettbewerber mit Schlemmerplatten und schwerem Burgunder? Aber gleich waren meine Gedanken wieder bei dem Mädchen, erklang in meinen Ohren ihr beschwörendes "Assil, Assil!" Wurde mir die Aussichtslosigkeit ihrer Situation klar. Fragte ich mich nach ihrer Herkunft. Die insistierenden Fragen des Marketing-Fritzen, der Auskunft über Zahlen, Aufwand und Kosten erheischte, pfiffen durch die Luft wie Säbelhiebe.

Ich kniff mich in den Handrücken. Schüttete den Underberg hinunter wie einen Zaubertrank, von dem ich Erlösung erhoffte. Konnte das Mädchen nicht zurück in diese Flasche fliehen?

Ich nahm Zuflucht zu einer neuen These der Kommunikations-Psychologie. Hier war ich fit, war mir alles präsent, konnte ich am Flipchart interessante Kurven zeichnen, bekam ich wieder Boden unter die Füße, konnte ich - mit wieviel Überzeugungskraft? - unsere neue Kampagne einbetten.

Ich begann, wie ein Buch zu reden. Ich redete, um nicht an anderes denken zu können. Fragen ließ ich nur zu, wenn sie sich mit drohender Vehemenz artikulierten.

Der Preis für dieses ganz und gar tölpelhafte Verhalten war in Viertelstunden zu zahlen. Nein, ein Blick auf die Uhr bläute es mir ein: So würde ich noch Stunden hier um den Auftrag kämpfen. Und immer wenn es in die Abendstunden hinein dauerte, war eine ermüdende, so wahnsinnig männerhafte Bar-Session unumgänglich. Meist gab man sich damit nicht zufrieden. Zuletzt klapperten wir auf einen Absacker mit dem Taxi noch Kneipen in der Altstadt ab, aus denen noch Lärm und Remmidemmi erscholl. Nur nicht heute!

 

Noch knappe fünfzehn Stunden blieben mir, um das Asylproblem zu lösen. Und jedes lächerliche Disputieren um Design, um noch farbigere Farben und den überzeugendsten Text, um die Gültigkeit der Aussage, die Griffigkeit der Packung, jedes Hin und Her von Argumenten, die längst nur noch dem Buhlen um Selbstbestätigung, der Wichtigtuerei galten, ließ diese kostbare Zeit zusammenschmelzen. Alles nach dem Motto: Es ist schon alles gesagt, aber noch nicht von mir.

So sann ich wenigstens darauf, eine kurze Pause zu erzwingen, simulierte einen Übelkeitsanfall und erbat, mich für zehn Minuten auf mein Zimmer zurückziehen zu dürfen. Kleinschmidt kam noch auf die Idee, es solle mich jemand begleiten, so echt mimte ich den Sterbenskranken. Auch wollte man den Arzt rufen, denn mit Vergiftungen solle man nicht spaßen und jede Minute sei kostbar.

Aber es gelang mir, die gröbsten Befürchtungen zu zerstreuen. Wahrscheinlich sei mir ein Grippemittel nicht bekommen, das ich schon am Vortag in hohen Dosen eingenommen hätte, um die Präsentation nicht wegen einer dämlichen Erkältung absagen zu müssen. Nun rebelliere wahrscheinlich nicht so sehr mein Magen, als vielmehr der Kreislauf - und dafür hätte ich ein bewährtes Mittel parat, nämlich kurz mal den Kopf unter kaltes Wasser zu halten. Und ein, zwei Päckchen Dextroenergen mit Schweppes runterzuspülen. In der Tat war das eines meiner Hausmittel gegen anfällige Infektionen. Aber sicher half es nicht gegen flüchtige Schleier-Frauen.

Immerhin erreichte ich damit zweierlei. Zunächst eine viertelstündige Unterbrechung, und dann - wichtiger noch - die erklärte Bereitschaft, anschließend schnell zu einer Entscheidung zu kommen, damit ich mich ein wenig schonen könnte.

Warum hat sich dieses Mädchen ausgerechnet mich ausgesucht für ihr Fluchtvorhaben, mich, einen solide verheirateten Mann, warum nicht eine Frau, oder warum war sie nicht einfach aus dem Haus gelaufen, zu irgendeinem Polizisten oder zu einer Wache?

Überdies begann ich wohl schon selbst, an mein Fieber zu glauben, denn auf dem Weg zum Lift flüchtete ich mich für einen kurzen Augenblick in die Vorstellung, ich habe das alles gar nicht wirklich erlebt. Das Mädchen sei nur meiner Phantasie entsprungen, und wenn ich erst oben in meinem Zimmer angekommen wäre, fände ich es bestimmt leer vor.

Ein Menschenauflauf an der Rezeption, das heftige Gestikulieren eines wuchtigen Mannes, dem seine persische Herkunft ins Gesicht geschrieben war, und die Anwesenheit einer Funkstreifenbesatzung riss mich allerdings rasch aus meinen Illusionen. Blitzschnell führte ich mir die Szene vor Augen, in was ich da hineinschlittern würde, wollte ich mich auf den Plan oder die fixe Idee meiner Asylantin einlassen.

Schnell bahnte ich mir eine Gasse durch den Menschenauflauf, fragte auch noch - so zur Tarnung meiner Mitwisserschaft - nach rechts und links, um was es denn hier ginge, erfuhr auch, ein Kind sei weggelaufen oder entführt worden, schnaubte ein chauvinistisches "Sollen doch auf ihren Haufen Blagen besser aufpassen!" und raste zum Aufzug. Gottlob blieb ich allein. Nur im Flur wuselten schon die Zimmermädchen durch die Gegend, um die Abendinspektion vorzunehmen, die Bettdecken aufzuschlagen, noch einmal frische Handtücher zu verteilen und die Tabletts von Zimmermahlzeiten einzusammeln. Einem dieser Kammerkätzchen lief ich direkt in die Arme, als sie auf mein Zimmer zusteuerte.

"Es geht jetzt im Augenblick nicht!" murmelte ich - mit Hinweis auf die "Nicht-Stören“-Pappkameradin.

"Verstehe!" murmelte das Weißhäuptchen. "Werde ich später noch zweite Garnitur Handtücher bringen!" schaltete sie blitzschnell. Gefährlich schnell, wie mir zugleich bewusst wurde; denn ganz gewiss würde sie ja später einvernommen und nach verdächtigen Hinweisen befragt. Mit einem verzerrten Lächeln versuchte ich sie zu überzeugen, dass ihr Verdacht auf ein leibhaftiges Mitbringsel, auf erotische Konterbande, die ich eingeschmuggelt hätte, nicht gerechtfertigt sei. Vielmehr sei mir nicht besonders und ich wolle mich jetzt schon zurückziehen, und das Zimmer sei in Ordnung und das Bett wolle ich mir schon selbst aufschlagen.

Sie schaute mich ein wenig verständnislos an. Das lag aber, wie sich bei der Wiederholung meiner Worte herausstellte, eher daran, dass sie Ausländerin unbekannter Herkunft war und auf eine überaus freundliche und strahlende Art und Weise nur Bahnhof und Bumsvallera verstand, denn die Geheimnisse oder Offenbarungen der Hotelliebe hatte sie ja sehr rasch begriffen.

Um mich nicht auf weitere Erklärungen einzulassen, schob ich entschlossen meine Codekarte in den Schlitz, drückte vorsichtig und langsam die Tür auf. Es war dunkel herinnen und für einen kurzen Moment flammte meine Hoffnung wieder auf, alles sei nur ein Spuk gewesen oder das Mädchen habe inzwischen das Weite gesucht. Ich knipste nur das kleine Flurlicht an und schaute mit forschendem Blick um die Ecke. Zuerst entdeckte ich niemanden. Aber dann sah ich die Kauernde hinter dem Sessel in der dunklen Ecke hocken. Nun legte ich den stille-erheischenden Finger an die Lippen, zog die Vorhänge zu und trat auf den Fußschalter der Stehlampe. Man kennt ja diese Einrichtung. Sie ist wohl auf der ganzen Erde, soweit das Hotelimperium reicht, erschreckend uniform.

Das Mädchen hatte ihr Gesicht in ihren Händen verborgen. War es, um sich erst allmählich an das Licht zu gewöhnen? Oder glaubte sie, hinter diesem Schutzschild vor den Fährnissen ihres unmittelbaren Schicksals Rettung suchen zu können? Wieder kam diese entstellte Maske der Angst zum Vorschein, als sie ganz langsam die jetzt gespreizten Finger hinunter gleiten ließ.

"Was machen wir nur jetzt?" fragte ich eher mich als sie. "There is police in the hotel! They are cherchez for you! Dein Vater … your father … ist sehr aufgeregt. Es gibt difficulte, many difficulties for you. Won`t you better go back?"

"No, no, no! Assil, bittescheen, Assil, gutter Herr. Lieber tott als back to Iran. No, I shall jump from the balcony. Lieber tott!"

Ich weiß beim besten Willen nicht, ob ich ihre Sätze einigermaßen authentisch wiedergegeben habe. Das spielt auch eigentlich keine Rolle, denn in den nächsten bangen Stunden unseres Zusammenseins fanden wir wie selbstverständlich zu einer sehr eingängigen und leichten Form der Verständigung.

Sie hieß Safire oder Sefire. Oder so ähnlich. Es klang so, und ihre Sprache klang wie der sanfte Wind, der Zephir, in wunderbaren Märchen. Nur dass wir uns beide in einer furchtbaren Realität befanden, und keineswegs in einem orientalischen Märchen. Andererseits hätte sie auch der Name Safire geziert; doch zu solchen Überlegungen war ich beim besten Willen in diesen Sekunden nicht in der Lage.

Alles in Aufruhr

Sefire - der Name war so schön wie das Mädchen, in das ich mich spontan hätte verlieben können. Zum ersten Mal stand sie jetzt aufrecht vor mir, in ihrer ganzen grazilen Größe, ihrem harmonischen Körperbau, und schaute mich aus ihrem ebenmäßigen, sanft gezeichneten Gesicht an. Die weiße, makellose Haut - nur ihre Augenränder waren von Tränen oder Überanspannung gerötet - bildete einen fast feenhaften Kontrast zu den langen, schwarzen Haaren, die - jetzt befreit vom Tschador - über die Schultern herabfielen.

Sefire - ein bedeutungsvoller Name schien mir, denn Zephir nannten die Griechen den Westwind, jenen Wind, der den Geist einer anderen Zeit, eines freieren Denkens auch in den Iran getragen hatte. Und dieser Geist hatte wohl das Mädchen Sefire umweht, die jetzt für ihre Freiheit auf alles zu verzichten bereit war. Zephir, so erklärte man mir später, sei auch die Bezeichnung für ein weiches, zartes Baumwollgewebe. Ich weiß nicht, ob ein Tschador aus Baumwolle, aus feinem Leinen oder gar Seide ist. Ich sah ihn nur zusammengeknüllt aus dem Papierkorb quellen, wo er unter gar keinen Umständen bleiben durfte. Denn wenn es mir je gelänge, Sefire aus diesem Hotel herauszuschmuggeln, dann dürften in meinem Zimmer keinerlei Spuren zurückbleiben.

Aber die weitschweifenden Gedanken über Zephir, den Westwind, über Zephir, der eigentlich ein Mann und Verführer gewesen sein soll, und Zephir, den Stoff, aus dem die Schleier sein könnten, das muss ich ehrlich zugeben, habe ich erst viel später aus meinem Gehirnkastl und Google kramen können. Jetzt, hier und heute, in dieser Viertelstundenpause, mit der Polizei und dem wütenden Scheich an der Rezeption und der zu allem entschlossenen Frau vor mir musste ich mich arg zusammen reißen, damit nicht die Panik mir noch den letzten Rest an Vernunft aus meinem Kopf pustete.

Ohne Hilfe von draußen, das war mir klar, kämen wir hier nicht heraus. Wenn es nicht schon geschehen wäre, würde es jedenfalls nicht mehr lange dauern, bis alle Ausgänge des Hotels bewacht und strengen Kontrollen unterworfen würden, einschließlich der Tiefgarage. Und wo hätte ich schließlich Sefire unterbringen sollen? Wo wäre eine Anlaufstation? Die romantische und romanhafte Phantasie, man könne sich solch ein exotisches Findelkind wie eine Puppe mit nach Hause nehmen, war zwar überaus verheißungsvoll und ließ von glutvollen Nächten, heißen Umarmungen mit Scheherazade Sefire träumen, aber hier waren die Realitäten derart zum Greifen nahe, dass ich mich gar nicht erst in eine solche Illusion flüchtete. Nein, es gab ein paar ganz handfeste Probleme zu lösen:

Wie konnte ich bis morgen mittag, spätestens 12 Uhr, dieses Mädchen aus einem bis dahin sicher noch intensiver bewachten Hotel hinausschmuggeln? Wohin könnte ich sie dann bringen? Und welche Schritte waren dann zu unternehmen, damit sie irgendwie, irgendwo eine legale Aufenthaltsgenehmigung erhielte? Und schließlich - wie könnte sie sich vor den doch sehr wahrscheinlichen Nachstellungen ihrer Familie oder sogar politischer Instanzen in Sicherheit bringen? Wenn es mir nicht doch noch gelänge, sie zur Aufgabe ihrer Pläne zu bewegen?

Und ob es großen Eindruck auf einen dieser Hotelwächter gemacht hätte, ihn auf die wahrscheinliche Volljährigkeit dieser Studentin hinzuweisen? Auf eine Volljährigkeit, die ihr bei deutscher Staatsangehörigkeit jeden Weg in die Freiheit, ja sogar aus der Unfreiheit eines Gurus geöffnet hätte? Aber als Iranerin, als Tochter eines gewichtigen Mannes, wo möglich sogar mit diplomatenähnlichem Status, hätte man wohl jegliche Einmischung vermieden. Und ich wäre wegen einer Entführung, und wahrscheinlich sogar aus vermuteten unsittlichen Motiven zunächst mal hinter Gitter gekommen. Und wenn man mich nicht als Mädchenräuber entlarven könnte, würde man mir immer noch böswillige, politische Beweggründe unterschieben.

Also galt es, in aller Schnelle und mit der gebotenen Vorsicht - würden nicht möglicherweise die Telefone abgehört? - einen in jeder Beziehung vertrauenswürdigen Helfer zu gewinnen. Ich erinnerte mich an Irena, eine ehemals heiße Freundin. Mein Gott, ja, es war einiges zwischen uns gelaufen, wahrscheinlich mit großen Erwartungen auf ihrer Seite, mit größeren jedenfalls als bei mir, und so war es zum Knatsch gekommen. Für mich nicht mal eine der sogenannten Beziehungskisten. Für mich war es - unfair? - ein schönes Erlebnis, eine kurze, wilde Zeit. Und wir machten die ganze Landschaft südlich von München zu unserem Lotterbett, nicht nur die Pupplinger Au, in der alles seinen Anfang genommen hatte. Jetzt Irena anrufen? Würde sie sich rächen wollen? Ich beschloss, das doch noch einmal sorgfältig zu durchdenken, um jetzt nicht einen verhängnisvollen Flüchtigkeitsfehler zu begehen.

Also beruhigte ich zunächst noch einmal Sefire. Unterwies sie in der Bedienung des Sperrhebels unter der Türklinke. Bat sie abermals um Geduld. Zeigte ihr meine Kosmetiktasche und bedeutete ihr, dass sie nehmen sollte, was sie bräuchte. Dann schlich ich mich wieder aus dem Zimmer. Die Pappdame mit dem steilen Zeigefinger baumelte wieder am Knauf. Peinlicherweise war nun jede Menge Personal unterwegs. Alles summte irgendwie wie ein Bienenstock. Als ich unten an der Rezeption vorbeiging, erschien mir der Vergleich mit einem aufgestörten Ameisenhaufen treffender.

Wieder tarnte ich mich mit einem "Na, hat man das arme Mädchen schon gefunden?" Und setzte kess hinzu: "Vielleicht ist sie nur in der Sauna?" "Das wär' eine Idee!" meinte irgend so ein bayerisches Mannsbild. "Aber da trau’n sich halt die Moslems nicht rein! Dann müss'ns halt zur Strafe dreimal nach Mekka wallfahrten!" - "Und überhaupt, ich versteh' die ganze Aufregung nicht", meinte da ein anderer, "die ist doch wahrscheinlich nur mal nach Schwabing bummeln gegangen. Da braucht doch der Herr Chomeini hier nicht ein solches Theater abzuziehen. Sollen sich doch schleichen, die Nachthemden!"

 

Ja, auch in einem Grandhotel hört man heute Volkes Stimme. Im Salon "Heidelberg" wusste man sogar schon mehr. Sie soll nämlich ihr ganzes Gepäck mitgenommen haben und ein paar Tausend Dollar! Weltmännisch ging ich über diesen ganzen Smalltalk hinweg. Es gelang mir sogar, meine alte Konzentration wiederzugewinnen. Niemand hätte mir anmerken können, dass die schöne Sefire zur gleichen Zeit in meinem Zimmer die ersten Stunden einer neuen Freiheit auszukosten begann.

So konnte ich den Auftrag gerade noch retten. Konnte Zweifel zerstreuen, Missverständnisse klären und schwache Stellen in meiner Argumentation, die mir erst jetzt wieder so richtig bewusst wurden, überbrücken. Vielleicht hatte sich das Blättchen inzwischen auch gewendet: Während am Frühnachmittag mir der glutäugige Flüchtling nicht aus dem Kopf ging, badeten sich vielleicht jetzt die Phantasien der Marketingherren in der Vorstellung, was wäre wenn! Mit Hinweis auf die gerade mühsam wiedererweckte Kondition und die Gefahr eines Rückfalls gelang es mir sogar, die nachtschwärmerischen Verpflichtungen abzuwimmeln und die Herren sich selbst zu überlassen.

Misstrauisch beäugt verließ ich kurz darauf das Hotel. Der Auflauf an der Rezeption hatte sich verstreut. Aber wohin man auch blickte, standen ganze Pulks von persischen Männern. Eigenartigerweise waren die verschleierten Matronen und die Kinder verschwunden, die sich - mit lebendigen Augen und sehr selbstbewussten Blicken - die Hotelhalle zum Spielplatz erkoren hatten. Vor dem Hotel keine Polizei. Der blinkende Streifenwagen war abgezogen worden. Sollte man lieber schnell handeln? Das Risiko eingehen, dass Sefire auf dem Wege zum Fahrstuhl, im Lift und auf dem Weg durch die Tiefgarage zu meinem Auto erkannt würde, aber dann, wenn es gut gegangen wäre, zunächst einmal einen Vorsprung gewinnen? Ein Blick zur Ausfahrt belehrte mich jedoch eines besseren. Dort hatten gleich zwei Polizeiwagen Stellung bezogen. Also vermutete man hier auch den naheliegendsten Fluchtweg.

Von der Zelle rief ich Irena an. Ihre Stimme klang ganz und gar nicht begeistert.

"Na, hat der Kavalier Langeweile? Ist dir heute noch nichts Resches begegnet?"

Es dauerte eine Weile, bis ich sie auf die andere Schiene gebracht hatte.

"Du, ob du's jetzt glaubst oder nicht, ich bin da in eine heiße Sache reingezogen worden. Und wirklich, ich kann da überhaupt nichts dazu. Ich weiß selbst nicht, weshalb diese Frau sich nun ausgerechnet auf mich gestürzt hat und bei mir Asyl erbat!"

"Na, das muss dir doch aber ungeheuer gut getan haben. Du, ja auch nicht mehr der Jüngste, und ausgerechnet du als der Retter! Mein Gott, da kann man dir ja nur neidvoll gratulieren! Ist sie denn hübsch? Hat sie einen tollen Busen? Da schaust du doch als erstes drauf. Also, worum geht's?"

"Irena, hör' mal ganz genau zu. Ich gestehe dir ja zu, dass du mich mit deinem Spott übergießt. Und schon aus Zeitmangel bin ich bereit, dir in allem Recht zu geben. Nur jetzt geht es um ein ganz und gar überlegtes und verantwortungsvolles Handeln. Könntest du nicht hierherkommen und ihr in aller Ruhe, von Frau zu Frau, die Fluchtidee ausreden? Und wenn das nicht geht, fällt dir vielleicht ein Weg ein, wie wir das Mädchen hier herausschleusen können? Die Tiefgarage ist bewacht. Wahrscheinlich stehen auch im gesamten Haus Detektive und Mitglieder des ganzen Familienclans herum und beobachten jede Tapetenritze."

"Du, ich hab' heute abend noch was anderes vor, als da so ein durchgedrehtes Weib zu bekehren! Ich find' das mit dem Tschador ja auch Scheiße und weiß ja, dass es da für die Frauen wieder ganz gewaltig rückwärts geht. Mittelalter und so! Aber hast du nicht noch ?ne andere Freundin in deinem unermesslichen Harem, die dir zu Diensten steht? Oder gibt's nicht bei der Kirche irgend so ein Ressort, Ausland, oder so, die sich da viel besser auskennen?"

"Du hast es ja nie glauben wollen, dass du in München meine Einzige bist ...."

Der Rest meines Satzes ging in schepperndem Gelächter unter. Solche Sätze klingen ja auch blöd, ob sie nun ehrlich sind oder nicht.

"Zählt Schwabing noch zu München? Und war da nicht so ne Evelyne aus Waldtrudering? Mir kommen ja die Tränen vor soviel Treue!"

"Mensch, Irena, mir ist jetzt nicht zum Spaßen zumute. Und selbst wenn du dich an weit mehr Namen erinnern solltest, als mir je bekannt waren, bedeutet es dir denn nichts, dass ich nun gerade dich anrufe? Das ist doch nun wirklich keine Situation, die man mit Jedermann bewältigen könnte. Wenn ihr Frauen mal zusammenhalten müsstet, dann ist es aus mit der Solidarität. In politischen Diskussionen groß reden, aber dann, wenn es mal ernst wird, wenn ein konkreter Mensch in Not ist, und das gleich nebenan, dann geht Kino vor! Irena, bitte, bitte!"

"Und was, um des Himmels willen, soll ich denn tun?"

"Komm hierher ins Hotel. Möglichst bald. Bring am besten eine große Tasche mit ...."

".... den Buko?"

".... was ist das denn?"

"Du bist wohl wirklich ein Mönch geworden. Beischlaf-Utensilien-Koffer - Buko! Nie gehört?"

"Ich habe gedacht, du packst da ein paar Sachen rein, als wolltest du in die Sauna gehen. Und da drunter - getarnt sozusagen - ein paar Sachen zum Anziehen. Moment mal, Größe, na vielleicht einen Kopf kleiner als ich. Also wahrscheinlich so etwa deine Größe ..."

"Ich war nie einen Kopf kleiner als du. Nie und in keiner Beziehung. Na ja, lassen wir das! Mantel auch? Und Schuhe? Einen Hut oder eine Mütze?"

Endlich spielte sie voll mit. Jetzt war sie sozusagen "angesprungen". Und dann, wusste ich, konnte man sich ganz auf sie verlassen.

"Du bist ja doch ein prima Mädchen!"

"Okay, in cirka einer Dreiviertelstunde bin ich da! Ich frage an der Rezeption nach dir. Das ist vielleicht ganz gut, um dich aus dem Kreis von Verdächtigen zu streichen."

Eilends lief ich nach Schwabing hinein. In der erstbesten Pizzeria ließ ich mir zwei kräftige Quattre Stagione in Warmhaltefolie einsiegeln und spurtete wie ein rekordsüchtiger Jogger zurück in den Glanzpalast.

Angesichts meiner Don-Vittorio-Plastiktüte fiel das Spießrutenlaufen durch die stechenden Blicke der Koran-Wächter, die sich jetzt unauffällig über die ganze Lobby verstreut hatten, ohne sonderliches Misstrauen aus.

Wegen des Türriegels musste ich eine ganze Weile klopfen, ehe Sefire es wagte, mir Einlass zu gewähren. Wir hatten vergessen, ein Signal zu vereinbaren. So presste sie sich wie in einem Krimi eng zwischen Wand und Türblatt. Wie musste die Angst in ihr emporsteigen, wenn sie doch hinter jeder Person, die sich hier Einlass verschaffen wollte, äußerste Gefahr wittern musste.

Dann, als sie sicher war, dass nur ich es war, der, den sie aus irgendwelchen Gründen zu ihrem Fluchthelfer erkoren hatte, kam sie zum ersten Mal aus ihrer Distanz heraus, ging auf mich zu und reichte mir zögerlich ihre rechte Hand. In dieser Geste lag soviel Vertrauen, soviel Freundschaft, dass ich gar nicht anders konnte, als nun auch ihre Linke zu ergreifen und beide Hände fest zu schütteln, so als ob ich damit sagen wollte: Wir schaffen das schon! Beinahe hätte ich sie auch in meine Arme geschlossen, ja, hätte ihr beinahe auch ganz spontan einen Kuss auf die Stirn gegeben - da konnte ich mich gerade noch beherrschen. Wusste ich denn, was das in ihrem Land bedeutet?

Ich berichtete - bei eingeschaltetem Fernsehen, um unsere Unterhaltung zu übertönen - von meinen Wahrnehmungen im Hotel. Von dem Aufsehen, das ihr Weggehen bereits ausgelöst hatte. Und von Irena, die bald hier sein musste. Und wir verspeisten unsere Pizzen, vom Pappteller und mit weißem Plastikbesteck.

In diesem Augenblick kam ich mir vor, als säße ich mit Sefire in einer Arche, in einem Rettungsfloß, beim Verspeisen unseres Notvorrats, und in der völligen Ungewissheit, an welches Ufer das Schicksal uns treiben würde.

Jetzt hatte ich auch einen Blick für ihre Kleidung. Ein schlichtes dunkelblaues Kleid, fast wie eine Schuluniform. Mit einem großen weißen Hemdkragen und einer Andeutung von Dekolletè, das von einer zierlichen Goldkette mit einem Rubinanhänger geschmückt war.

Noch einmal versuchte ich, sie von den Schwierigkeiten ihres Vorhabens zu überzeugen. Ich fragte nach ihrem Pass, den sie verständlicherweise nicht hatte mitnehmen können. Somit fehlte ihr jegliches Papier, das ihre Identität hätte ausweisen können.

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