Natalie - Du?

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Natalie - Du?
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Werner Siegert

Natalie - Du?

Erzählung aus dem Leben gegriffen

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Natalie

Natalie und ihre Liebhaber

Cry of Love

Zehn Tage später

Impressum neobooks

Natalie

N a t a l i e?

N a t a l i e?

N e i n !

D a s d a r f n i c h t w a h r s e i n !

Hastig greife ich zum Telefon. Wähle Natalies Nummer. Klopfe ungeduldig mit der Hand auf den Tisch...

Es ist schon nach zehn ... Sie müsste zuhause sein ...

N a t a l i e !

Das Freizeichen höhnt mich an. Es bringt mein Herz zum Zerspringen!

N a t a l i e !

Eine 27jährige Frau ... Natalie ist 27... Suizid-Absicht! Wie oft hat sie davon gesprochen! Wie oft habe ich stundenlang mit ihr telefoniert, wenn sie sich am Ende glaubte! Ein Motiv nicht bekannt? Oh, ich wüsste viele!

N a t a l i e !

Ich wähle erneut ... vielleicht hatte ich die falsche Nummer eingetippt ... in der Erregung ... vielleicht schläft sie ... oder nimmt einfach nicht ab ... nicht beim ersten Versuch ... aber ich kenne das Freizeichen ihres Apparates ...

N a t a l i e !

Vielleicht ist sie ausgegangen? Ins Theater? Ins Konzert? Zu einem Vortrag? Natalie, gib mir ein Zeichen! Sag', dass das nicht wahr ist! Dass eine andere 27-Jährige ...

Natalie - eine Woche lang war ich nicht hier. Eine Woche! Du hättest mich erreichen können! Hättest du mich erreichen können? Wusstest du, wo ich bin? In der Stunde deiner Verzweiflung?

Natalie? Ja, sie hat oft davon gesprochen:

Dann fahre ich eben zum Arabella-Haus!"

Das hatte sie oft gesagt. Und war schon zweimal oben. Dann verließ sie jedesmal der Mut - Gott sei Dank! Und diesmal?

Noch einmal wähle ich Natalies Nummer ... schon fast automatenhaft ... ich brauche dazu nicht die Wiederholtaste ... nein, ich darf nicht resignieren, sage ich mir selbst ... Natalie, sie wollte sich immer umbringen, auf Raten, mit ihrer verdammten Magersucht ... schon früh, als Kind, wollte sie mit dem Notarztwagen in die Klinik gebracht werden ... ein Signal wollte sie setzen ... ihre seelische Not mit dem Martinshorn hinausschreien ...

N a t a l i e !

Dieses entsetzliche Freizeichen! Dieses unbarmherzige Freizeichen! Die Zeitung ist vom Freitag. Also ist sie am Donnerstag gesprungen? Ist sie? Ist sie nicht? Natalie, am Donnerstag war ich in Heidelberg. Ich wäre im Hotel erreichbar gewesen. Aber woher solltest du das wissen? Wie wichtig war das für dich? Wer war ich denn für dich?

Wen könnte ich noch anrufen - um diese Zeit? Wen, der mir Klarheit verschaffen, der mir das Entsetzliche bestätigen oder mich der Hysterie bezichtigen könnte? Wer war ich denn für sie, für ihre Mutter?

War ich nicht immer nur der „N u r"? Nur ihr Freund, ihr Vertrauter für verzweifelte Stunden? Nur einer, der ihr ein Taschentuch reichte, wenn sie Tränen über Tränen weinte, weil wieder einmal eine große Liebe ex und hopp geendet hatte?

Nur ihre Zuflucht, wenn sie sich ihre Wunden lecken musste? Nur einer, der ihre Briefe verfassen musste, wenn sie glaubte, noch etwas retten zu können? Ja, nennt mich den „Herrn Nur"...

Ich habe sie nur lieb gehabt. Nur. Ich habe sie nur geliebt, aber nicht, was man heute darunter versteht. Nur sehr lieb gehabt.

Ich habe nur einige Fragen gestellt - damals, als sie aus der Klinik fliehen wollte. Als sie in einer Telefonzelle stand, draußen goss es in Strömen, und ich bin nur 80 Kilometer durch Gischt und Gewitter gerast, um sie dort aufzulesen.

Nur, immer nur! Und jetzt hat das Nur nicht ausgereicht. Jetzt war ich nur am Donnerstag auf Reisen ...

27 Jahre alt. Mit dem Taxi nach Bogenhausen. Das steht nicht in der Meldung: Eine attraktive Frau, eine zierliche Frau, trotz aller Magersucht ein gern anzusehendes, ein attraktives, ein lockendes Weib. Eine Kindfrau, wie sie dem Ideal vieler Männer entspricht. Eine, mit der man mit dem Privatjet nach St. Moritz fliegt, im Palace-Hotel eine Suite bucht, der man das VIP-Leben verspricht oder genauer gesagt: vorgaukelt. Die man als Leckerbissen vernascht und dann ex und hopp zu wichtigeren Terminen davoneilt. „Nimm Dir ein Taxi ..." - ein Taxi nach Bogenhausen, ein Taxi zum Arabella? Ein Taxi in den Tod?

Was wissen denn die jettenden Herren davon? Fragen sie noch einmal danach? Lesen sie solche Meldungen? Denken sie sich was dabei?

22,32 Uhr

Die leuchtende Digitaluhr neben dem Telefon. Wieder wähle ich Natalies Nummer. Freizeichen. Unendlich lange für mich, den „Nur"... Theater, Konzerte, sind sie schon aus? Vorträge, wohin ist sie nicht überall gegangen, vielseitig interessiert und immer gierig, etwas für ihr Leben zu erhaschen? Vielleicht war sie noch auf ein Glas Wein mit jemanden in eine Nobelbeize gegangen?

Ja, nobel musste es immer sein. Sie hatte Stil, Kultur, war ehrgeizig. Wollte dazugehören. Upper class - wie ihr verstorbener Vater. Damals hat sie einen Knacks bekommen.

Das hat sie noch weiter aus der Bahn geworfen, seelisch, damals, als sie aus den Staaten zurückkam, von einem College. Nächtelang hatte sie dort geträumt, ihrem Vater sei etwas zugestoßen. Hat zuhause angerufen. Wurde beruhigt. Nein, der Papa sei auf Dienstreise. Nachts sprach der geliebte Vater zu ihr, so erzählte sie es. Er stand neben ihrem Bett, dort in Boston, im Studentenheim. Nein, es sei alles in Ordnung, sagte man ihr noch kurz vor der Rückreise. Erst als sie aus dem Flugzeug stieg und von lauter schwarzgekleideten Frauen empfangen wurde, von ihrer Mutter, von der Oma, von der Tante, Erynnien gleich, da brauchte man ihr nicht zu sagen, was passiert war. Man hatte sie belogen. Wollte nicht, dass sie den Kurs abbricht, so kurz vor dem Diplom. Der geliebte, über alles geliebte Vater war in jener Nacht gestorben, als er neben ihr in New York neben ihrem Bett erschienen war. Zusammenbruch. Verzweiflung. Das Ende.

Ein Leben ohne ihren heißgeliebten Daddy, der auch in ihr sein Ein und Alles sah. Vielleicht war auch deshalb der Draht zur Mutter gestört? Eifersucht?

Aber die Magersucht gab es schon vorher, lange vorher. Nur die „Psycho-Heinis" - wie sich Natalie auszudrücken pflegte - , die sagten „Aha, da haben wir's doch!" und stocherten an der falschen Stelle im seelischen Nebel. Nein, das reichte vielleicht gerade aus, um ihren gefährlichen Hang zu älteren Männern zu erklären. Und vielleicht ihre Anhänglichkeit zu mir, dem Nur. Der ihr nur Ratgeber, Tröster, Tränentrockner sein sollte. Brieftexter. Kompass für berufliche Entscheidungen. Zuhörer für uferlange Gespräche am Chiemsee. Beichtvater. Nur. Und nur nicht mehr.

22,46 Uhr

Natalies Telefon bleibt unerbittlich. Ich sitze daneben. Schlaf könnte ich ohnehin nicht finden. Auch wenn ich nur der „Nur" bin. Sie war mir stets nahe. Immer hatte ich ein Foto von ihr dabei. Ein schönes Foto mit einer herzhaft lachenden, lieblichen Natalie. „Was haben Sie für eine bildschöne Tochter!" sagte eine Zimmerfrau, als sie das Bild auf dem Hotel-Nachttisch sah.

27 Jahre. Direkt in die oberste Etage. Woher wusste man das? Wer hatte sie zuletzt gesehen? War der Taxifahrer ihr nachgegangen? Hatte er eine Ahnung?

Damals, nach der Flucht durch den Regen in die Telefonzelle, damals in einer verschwiegenen Ecke eines Restaurants, damals, als sie wieder nur ein Wasser trinken wollte, da hatte ich sie gefragt, wie das alles angefangen hat.

„Wann hast du zum ersten Mal angefangen zu hungern?"

Mit fünf Jahren oder vielleicht schon mit vier! Damals haben mich meine Eltern in die Ballettschule geschickt. Kinderballett. Da habe ich mich in die Lehrerin verliebt. Nadine, die war so toll, so graziös, so unglaublich schön in meinen Augen - und schlank. Wie eine Gerte. So wollte ich auch werden. Damals schon beschloss ich feierlich, dass ich nie einen Busen haben wollte wie Mama und andere Frauen. Brüste kamen mir auf einmal unappetitlich, so wabbelig und hässlich vor. Logisch, dass ich im gleichen Atemzug beschloss, nichts mehr zu essen. Denn - so dachte ich mir - wenn man nichts isst, oder nur ganz, ganz wenig, dann kriegt man keinen Busen und bleibt so schlank wie Nadine. Natalie und Nadine - wir heißen ja auch so ähnlich. Fast. Damals hätte ich mich gern umtaufen lassen. Aber sag' das bitte niemandem, niemandem weiter. Das weiß bisher keiner! Nur du!"

„Und die Therapeuten? In der Klinik?"

Die fragen doch gar nicht! Die wissen doch alles schon vorher! Die haben ihre Schienen, je nachdem. Die Psychologinnen schieben es auf den seelischen Terror der Männer-Ideale, die anderen auf sexuellen Missbrauch in der Kindheit, auf Geschlechtsverweigerung, die nächsten auf eine Hormonfehlsteuerung oder Weißgottnichtalles, Verweigerung des Erwachsenwerdens. Du bist der Erste, der gefragt hat."

 

„Wie ist es dann weitergegangen?“

Die haben mich natürlich gefüttert! Drohungen hat es gegeben. Geschlagen haben mich meine Eltern nie, aber es gab eine viel schlimmere Strafe, und die haben sie immer wieder über mich verhängt: Schweigen. Sie haben nicht mehr mit mir gesprochen. Tagelang. Das war so furchtbar. Das habe ich nicht lange ausgehalten. Ich wurde ja gleichzeitig eingesperrt. Ich war ja immer eingesperrt. Ich durfte ja nie allein auf die Straße. Da lauerten die Gefahren der Großstadt. Die Schmuddelkinder. Die Sittenstrolche. Die Cover-Fotos am Kiosk. Und zuhause: Schweigen.

Da habe ich mich gerächt. Was sie mir alles reingestopft haben, und wenn es Pudding, Kuchen oder Schokolade war, das hab ich heimlich wieder ausgekotzt. Da hatte ich bald eine solche Routine drin. Das habe ich schon ganz früh gelernt.“

22,59 Uhr

Natalie meldet sich nicht. Ich sehe Natalies Körper vor mir. Zerschmettert auf den Steinplatten vor dem Arabella. Die Polizei hat rotweiße Bänder darum gespannt. Das Martinshorn ertönt. Ihr schöner Körper! Ihr liebliches Gesicht! Ihre zierlichen Hände! Alles zerschmettert, zerstört, zerplatzt! Mein Magen revoltiert. Ich beginne zu würgen. Heiß und kalt überläuft es mich.

Ich rufe einen Freund an. Lese ihm die Meldung vor.

„Na und?“ fragt er. Ich lege auf.

Er ruft zurück.

„Was ist?“ fragt er. „Kennst du sie etwa?“

Ich erzähle ihm ein bisschen was.

„Weißt du genau, dass sie es ist?“

„Nein. Aber sie geht nicht ans Telefon.“

„Sie hat vielleicht einen anderen? Nun beruhig' dich mal. Leg' dich hin und schlaf'! Morgen kannst du ja die Polente anrufen. Oder ihren Arbeitgeber! Mach' dich doch nicht verrückt!“

Kurt hat recht oder auch nicht. Natalie hat eine gute Freundin. Nicole. Auch magersüchtig. Dünn wie ein Strich. So, wie Natalie gern hätte bleiben wollen. Vielleicht schläft Natalie bei Nicole? Das hat sie schon oft getan, wenn die beiden zusammen aus dem Theater kamen. Daran hatte ich gar nicht gedacht. Ich bin doch hysterisch.

23,23 Uhr

Diese Ziffern auf dem Radiowecker. Pink wie Himbeerlimonade. Entweder grün wie Waldmeistersprudel oder pink. Als gäbe es keine schöneren Farben! Noch einmal wähle ich Natalies Nummer. Vergeblich.

Vielleicht sollte ich doch zu Bett gehen?

Sicher ist sie bei Nicole, versuche ich mir einzureden. Bei der gertenschlanken Nicole.

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