Liebestöter

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Liebestöter
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Werner Siegert

Liebestöter

12 Schnurzgeschichten

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

Phyllis

Wohin mit dem Liebestöter?

Erdbeerbowle

Alt-Ablage

Dieser Kuss auf die Stirn ....

Das gelbe Herz in der Gideon-Bibel

Der Kommissar und die Schnaken

Das Geschenk

Sperrmüll

Noch e i n mal ! Ein allerletztes Mal!

Myriam

Nachhilfe

Impressum neobooks

Vorwort

Was verstehen denn Sie unter Liebestötern, dass Sie sich dieses eBook zu Gemüte führen wollen? Als klassischer Liebestöter (masc.) verstand man über viele Jahrzehnte lange männliche Unterhosen in Fein- oder Doppelripp mit Eingriff – wohin wohl. Auch sollen wollene Socken von Warmduschern im Bett getragen, das Vorspiel nicht gerade antörnen. Aber auch Frauen können sexuelles Begehren jäh zum Erliegen bringen durch bunte, stramm anliegende Schlüpfer mit längerem Bein, also mit dem Zwickel gemäß Preußischer Badeverordnung von 1932. Es verwundert, dass bedrohliche Fischbein-Korsetts und spitztütige BHs in Google nicht erwähnt werden. Dass Wikipedia darum bittet, dieses Stichwort zu bearbeiten, zeigt, dass sich der Forschung hier noch eine ungemähte Wiese bietet. Ungezählt sind die Zerwürfnisse frisch Verliebter über die Einrichtung ihres Nestes, über die richtige Zubereitung von Weißwürsten, über die Herrschaft der Schwiegermütter, über riskante Fahrkünste, über den einzige richtigen Urlaub an der Waterkant oder in den Bergen. Spinnen über dem Bett führen zum jähen Abbruch des Anstiegs zum Höhepunkt. Klassisch auch Gretchens Frage „Wie hältst du’s mit der Religion?“ Oder der CSU?

Die nachfolgende Lektüre entstand jedoch nicht unter dem Ehrgeiz, diese immensen Lücken füllen zu wollen. Es handelt sich vielmehr um die Schilderung bedauerlicher Vorfälle, die der drängenden Libido ein jähes Ende bereiteten. Da Schadenfreude die schönste Freude sein soll, wiewohl dies ethisch total zu verabscheuen ist, möchte der Autor Sie über die betrüblichen Geschehnisse züchtig in Kenntnis setzen. Wohlgefällig wäre, Mitleid zu empfinden oder gar daraus für das eigene Lieben zu lernen. Ihm selbst ist das völlig Schnurz.

Phyllis

Am Anfang war es eine Schnapsidee - allerdings ohne Schnaps. Beide standen wir vor wichtigen Examina. Beide hätten wir dringend lernen müssen. Ungelesene Fachbücher stapelten sich auf den Klapptischen in den Wohnzellen unseres Studentenheims. Also trödelten wir lieber über einen Flohmarkt; über den größten Flohmarkt der Republik.

Da gab es wenigstens was zu lachen. Mehr noch über die Schnäppchenjäger als über den Ramsch auf den Tapeziertischen. Hochmütig lästerten wir über die Stadtleut’ und den Krempel, den sie nach Hause schleppten. Wir malten uns aus, wie es wohl bei denen in der guten Stube aussieht. Wo das Strickbild mit Watzmann, windschiefer Kate und tosendem Wasserfall vermutlich einen Ehrenplatz erhalten wird. Was wohl einer durch Omas gusseisernen Fleischwolf drehen würde. Und wie eine kunststoffgeborene Venus von Milo ab morgen den Kleingarten ziert, sofern das Kleingarten-Regelwerk solche ebenso sittlichen wie geschmacklichen Verfehlungen überhaupt erlaubt.

Da fiel unser Blick auf einen putzigen Tiger. Aus Porzellan. Cirka einen halben Meter hoch. Mit einem geradezu herausforderndem Blick. Er hatte es offenbar auf uns abgesehen. Lächerliche fünf Euro sollte das Raubtier kosten? Fünf? Nicht 50? Fünf Euro für einen imposanten Porzellan-Tiger?

Wir schlenderten weiter und diskutierten heftig über Kitsch und Kunst, über Billigproduzenten in China, ausgerechnet jenem Land, in dem das Porzellan erfunden wurde. Oder wo war das? Fünf Euro? Massenproduktion? Wir stellten uns die Fabrik vor, in der eine Million Jungtiger vom Band laufen, von Maschinen bemalt, Produktion 4.0, in menschenleeren Hallen. Denn wer könnte es tagein, tagaus ertragen, von lauter Tigern umgeben zu sein? In einem gigantischen 3-D-Thermomix würden aus diversen Silos alle Zutaten für Jungtiger hineinfallen, in rotierende Formen gepresst, durch Trockenschleusen gejagt, mit Farben besprüht, Jungtiger für Jungtiger glasiert, in Kartons verklappt, mit Luftpolster abgesichert. An der Laderampe werden gemäß eingegebener Bestellzahlen die Tigerlein in Container geschoben, mit selbststeuernder Bahn zu einem Hafen transportiert, von einem Kran (allerdings noch von einem leibhaftigen Chinesen gesteuert) in einen Schiffsbauch versenkt. Eine Million Kleintiger nehmen Kurs auf Europa, Einkaufspreis vermutlich 2 € incl. Fracht. Ist das die Zukunft der Weltwirtschaft?

Das kann doch nicht sein! Der Tiger ließ uns einfach nicht los.

Wir kehrten um. Die Spannung stieg. Ist der Tiger noch da? Noch! Aber wie lange noch? Hat uns jemand inzwischen den Tiger vor der Nase weggeschnappt? Für fünf Euro? Vielleicht hat er eine Macke? Mit Porzellankitt repariert? Nein – er war noch zu haben. Für fünf Euro. Der Verkäufer stand uns Rede und Antwort. „Nein! Absolut intakt! Aus Privathand! Bitte nicht anfassen! Wenn er kaputt geht, müssen Sie die Scherben kaufen! Und mitnehmen!“

Wie gesagt: Es war eine Schnapsidee, dieses Viech mit nach Hause zu schleppen, unter Veras Arm. Mir war es zu peinlich. Immerhin machten wir uns vor, den Porzellanhohlkörper nunmehr auch aus volks- und betriebswirtschaftlichem Interesse erworben zu haben. Damit besänftigten wir unsern Hochmut, den wir über jedem anderen Käufer ausgeschüttet hätten, der aber „so was von Kitsch“ erworben hätte. Guck’ mal den Mann mit dem blöden Tiger! Jetzt war er das Studienobjekt Produktion 4.0 für VWL und BWL! So was nennt man Cognitive Dissonanz: Man umhüllt blöde Missgriffe mit dem Mäntelchen der Vernunft. Aus einer Schnapsidee wird ein geradezu wirtschaftsethisch notwendiger Kaufakt.

Unsere Cognitive Dissonanz hielt allerdings nicht lange vor. Dann brachen wir in lautes Gelächter aus, zumal sich auch alle, die Vera mit dem Tiger unterm Arm daher kommen sahen, das Lachen nicht verkneifen konnten. Guck’ mal den Tiger!

Inzwischen hatten wir uns etwas Hunger angelaufen. Und Durst. Wir könnten uns ja unmöglich mit knurrendem Magen auf unsere Examina vorbereiten. Also nichts wie rein zu McDonalds, zumal dort eine Kommilitonin an der Theke ihre Finanzen aufbesserte.

Tiger auf den Tisch – und schon waren wir Mittelpunkt beim Burgerbrater. Scharen von Kindern liefen herbei. Huh ein Löwe! Beißt der? Darf ich den streicheln? Oh wie süß! Nein, das ist ein Gepard, du Doofkopp! Stau! Mütter zerrten ihre tierlieben Blagen aus dem BicMac-Verkehrsweg. Jeder Neuankömmling stoppte bei Vera, dem Tiger und glotzte sie mit wechselnden Blicken an. Was so ein Fünf-Euro-Tiger alles vermag. Phyllis, unsere Kommilitonin mit dem aparten Vornamen frotzelte „Brauchst du für den noch ne Extraportion? Wie heißt denn das Vieh?“ Allzu schlagfertig meine Antwort: „Natürlich Phyllis!“ „Ist es denn ein Weiberl?“ Danach hatten wir noch nicht geguckt.

Immerhin hatte das Tigerlein jetzt seinen Namen weg. Phyllis! Phyllis wurde mit Cola light getauft. Mei, hat das einen Spaß gemacht.

Vera meinte, jetzt müsse ich mal die Phyllis unter den Arm klemmen. Wir näherten uns mit Angst einflößender Geschwindigkeit unserem Studentenheim und damit unweigerlich auch der akademischen Zwangsarbeit. Wäre da nicht noch eine Studentenkneipe mit Straßenausschank zu umrunden gewesen. Kein barbusiges Femen-Mädchen hätte soviel Gejohle auslösen können wie unser Tiger! Mannomann, was mussten wir unser Schnäppchen verteidigen. Und natürlich unseren Ruf. Das Argument, es sei ein Studienobjekt für Produktion 4.0 aus China löste nur Gelächter aus. Auch als Kunst aus dem 3-D-Drucker konnte Phyllis nicht reüssieren. Immerhin könne man das Biest gut als Drogenversteck verwenden, meinte einer. Vera verdrückte sich auf Französisch. Sie müsse noch arbeiten.

Als ich später nachkam und an ihrer Bude klopfte, rief sie zaghaft Herein. Die „Arbeit“ war ihr indes schon aus den Händen geglitten. Sie lag bereits im Bett und rückte ein Stück zur Seite. Klar, um diese Zeit hätte Studieren jetzt auch keinen Sinn mehr gemacht. Kuscheln umso mehr. Aber wohin mit Phyllis? Fürs Regal war sie zu groß. Auf dem Schrank lagen die Koffer. Die Fensterbank zu schmal. Der Klapptisch eingeklappt, weil sonst das Bett nicht ausgeklappt werden kann. Also auf den Boden.

„Der guckt so!“ Vera unterbrach unser Vorspiel. „Der guckt wirklich so! Da kann ich nicht!“ „Der ist doch nur aus Porzellan!“ „Das ist mir egal, der guckt so. Vielleicht sind da Chips drin! In den Augen!“ „Dann dreh’ ich den einfach um!“ „Das ist mir egal. Irgendwie machte mir der Kerl, der uns dies Mistvieh verkauft hat, gleich so einen schmierigen Eindruck. Wenn er uns nicht sieht, dann hört er uns! Guck dir bloß die Augen an! Das hat schon seinen Grund, weshalb der nur einen Fünfer gekostet hat. Schaff’ mir bloß das Vieh aus meiner Bude!“ „Ist doch Quatsch. Die Augen sind genau so aus Porzellan wie der ganze Tiger!“ „Die Chinesen sind so raffiniert. Die Augen sehen nur so aus. Und wir haben noch gar nicht untersucht, was sonst noch in dem Tiger ist!“ „Da ist nichts drin!“ „Das glaubst du nur! Fünf Euro, das hat doch einen Haken! Vielleicht sind die Farben giftig und dünsten aus! Der Vorbesitzer wird schon wissen, warum er den so billig hergibt!“

 

Ich nahm Phyllis, ging in meine Zelle. Stellte sie auf meinen Tisch und begann zu arbeiten. Denn Phyllis richtete einen so drohenden Blick auf mich, dass ich mich nicht traute, mein Lesepensum auf den morgigen Tag zu verschieben. Mit Vera war es aus. Sie schob meinen Lerneifer auf eine Wesensveränderung durch feinstoffliche Emissionen , die dem Tiger entströmen. Ich die Trennung auf Eifersucht. Auf die richtige Phyllis.

Wohin mit dem Liebestöter?

Er, sie, es ist ein Erbstück. Über viele Studenten-Generationen. Irgendein Betriebswirtschaftler soll diesen Porzellan-Tiger auf einem Flohmarkt erhandelt haben. Und den unpassenden Namen gleich mit. Die wahre Herkunft lässt sich nicht mehr ermitteln. Es sei denn, einer meiner Leser würde ihn, sie oder es wieder erkennen – den Porzellan-Tiger, den ich jetzt zwecks dieser Niederschrift unweit von mir auf den SAMSUNG-Drucker gestellt habe. Er glotzt Sie auf dem Cover dieses eBooks an. Der Künstler, dem „Phyllis“ seine anmutige Gestalt verdankt, gibt sich nicht zu erkennen. „Made in Italy“ ist anal eingeprägt. Sonst hätte ich irgendeine chinesische Massenfertigung in Verdacht. Aber Chinesen produzieren ja seit einiger Zeit auch schon in Italy.

Ist es ein Tiger? Ich vermute ja, obwohl mich manche Besucher meines Büros erstaunt fragen „Wo hast du denn den Löwen her?“ Gut, manche Stadtkinder wissen angeblich nicht, wie eine Kuh aussieht, allenfalls in Lila. Woher soll ein Mittersendlinger wissen, wie ein Löwe aussieht? Es stehen natürlich in Bayern Tausende davon rum, es gäbe auch Bilderbücher, in Hellabrunn einen Zoo, in Bahnhofsnähe den Circus Krone, also Bildungsstätten, die uns eine Safari ersparen, um zu erfahren, dass Löwen nicht so ein hübsches Gewand haben wie Phyllis. So jedenfalls hat sie gendermäßig meine Vorgängerin (?) getauft und ihr sogar ein silbernes Kettchen umgehängt, mit perlengeschmücktem Anhänger.

Phyllis ist hohl. Wer Reichtümer oder Haschisch in ihr verstecken wollte, könnte ein stattliches Vermögen darin verbergen. Man kennt das ja aus vielen, vielen „Tatorten“ und ähnlichen Tragödien, dass die Deppen von der KTU die entscheidenden Hinweise übersehen, bis die grandiose Kommissarin endlich Phyllis umstülpt, darin herumpopelt und ein kryptisches Zettelchen zutage fördert, das alle Fragen „Wo waren sie gestern zwischen acht und zehn?“ – „Wer kann das bestätigen?“ – „Haben Sie irgendwelche Auffälligkeiten am Toten in den letzten Tagen festgestellt?“ - „Hatte er Feinde?“ überflüssig machen. Ich stelle gerade ein Do-it-yourself-Spiel zusammen mit Sprüchen wie diesen, aus denen dann jeder seinen eigenen Tatort zusammen phantasieren kann.

Zurück zu Phyllis. Als sie mir übereignet wurde, um sie anlässlich einer Räumung vor dem Schutt-Container zu retten, waren weder Euronoten noch kryptische Zettelchen darin zu finden, was ich ein wenig schade fand. Meine Nachforschungen ergaben zumindest, dass Phyllis mal den Flohmarkt auf der Oktoberfestwiese aufgemischt haben muss. Ich stelle mir vor – und Sie müssten auf das Cover zurück klicken – dass sie von mancher Promenadenmischung angebellt und von vielen kleinen Mädchen mit „wie süß, ach Papi kauf mir doch den kleinen Tiger!“ angehimmelt wurde. Phyllis soll für sage und schreibe 5 Euro den Eigentümer gewechselt haben. Fünf – in Worten! Es gibt eine minimale Schadstelle an der rechten Vorderpfote. Nur Pfennigfuchser können sie entdecken. Ist Phyllis Diebesgut? Wo hielt sich Phyllis vor dem Schwabinger Flohmarkt auf? Bei einem Großwildjäger im Vestibül? In einer Zoohandlung? Einem Reisebüro? Ich fürchte, das wird sich nie herausfinden lassen. Doch das wahre Problem von Phyllis ist: Wohin mit dem Jungtiger?

Auch wenn Phyllis aus Porzellan ist und niemandem etwas zuleide tut, beherrscht sie mit ihren 51 Zentimetern spielend einen ganzen Raum. Stellt man sie in die Fensterbank, schlagen sich fürderhin keine Vögelchen mehr ihre Köpfe an der Scheibe ein. Schäferhunde knurren schon mal. Kinder amüsieren sich und wollen sie triezen. Und … ja jetzt kommen wir endlich zum Thema!

Einer der Vorbesitzer in der stattlichen Reihe der Vorbesitzer soll ein Student gewesen sein, der seine Bude mit Phyllis geteilt hatte. Gemäß dem Gender-Mainstream ist das biologische Geschlecht völlig Nebensache, aber weiblich, queer und trans jedenfalls wertvoller als männlich. Der Schöpfer offenbarte diesbezüglich sehr viel Zartgefühl. Wie man die Blicke des Jungtigers auch immer interpretiert: Er/sie schaut neugierig, interessiert, oder auch bedrohlich. Wacht der Student nach einer Party morgens mit Kopfweh auf, hört er leises Knurren: „Wie willst du jemals dein Examen schaffen?“ oder „Du weißt fei schon, dass morgen die Mathe-Klausur ansteht?“ Kommt er abends nach Hause, fragt er/sie „Wo warst du denn schon wieder so lange?“ und „Wen bringst du denn da schon wieder mit?“

Das ist der Vorteil eines solchen Schweige-Tigers: Er redet ständig! Hingucken – und schon sagt er was. Für fünf Euro eine phantastische Gegenleistung. Mich hat er ja gar nichts gekostet, dafür dass ich ihn vor dem Sperrmüll gerettet habe. Mir sagt er: „Das werde ich dir nie vergessen!“ Hoffentlich. Meist aber „Wie soll denn das mit uns zweien jetzt weitergehen? Ein Büro ist ja eine öde Landschaft, öder als die Savanne, kein Zebra in Sicht, kein Gnu!“

Zurück zum Studiosus. Der unterhielt außer Phyllis ja noch andere Liebschaften, weitaus lebendiger. Und eindeutiger in ihren Botschaften. Eines Tages – oder war es schon Nacht? – allzu eindeutig: „Also wenn du dieses Viech da nicht weg schaffst, krieg ich nie einen Orgasmus. Dauernd glotzt mich diese Bestie an. Entweder sie oder ich!“

In einer Einraumwohnung gibt es wenige Möglichkeiten, diesen Jungtiger zu verstecken, um erotischen Eskapaden nicht im Wege zu stehen. So kam es, dass der Liebestöter abermals auf Wanderschaft gehen musste. Und nun steht Phyllis bei mir und mahnt mich täglich: „Du könntest auch ein bisschen mehr Ordnung halten! Und mich ab und zu abstauben.“

Ich vermute: Phyllis ist eine bedrohte Art. Wer sie oder ihn haben will, soll sich bald bei mir melden.

Erdbeerbowle

Erdbeerbowle, Erdbeertorte, Erdbeeren mit Schlagsahne, eine regelrechte Erdbeerparty sollte es geben. Eine Orgie in Rot. So hatten es meine Freundinnen und Freunde gewollt, als sie hörten, dass bei uns draußen die Erdbeerplantagen ihren betörenden Erdbeerduft ausströmten und man selbst Korb für Korb füllen könnte, vom kostenlosen, unbegrenzten Naschen ganz abgesehen. Die Sonne hatte ihren Beitrag geleistet. Die Früchte waren zwar heuer klein, aber ungeheuer aromatisch und fest im Fleisch. Also zog ich nach des Tages Arbeit noch los. Mein überdimensionaler Spankorb – wer zum Teufel hatte darin was angeliefert? – höhnte mich ganz schön an, als die ersten Händevoll Beeren verloren darin herumkullerten. Kurzum – das war ganz schön mit Arbeit verbunden. Und mit Bücken. Und Knien. Und Bücken und Knien. Und sich Recken. Und die-ganze-Party-in-den-Himmel-wünschen! Ich zupfte wie ein Berserker, denn es wollte und wollte sich keine Menge ansammeln, die ich mich getraut hätte, vorn am Ausgang auf die Waage zu stellen.

So merkte ich gar nicht, dass sich die Plantage allmählich leerte. Die Ruhe hätte mir auffallen müssen. Kein Kindergequängel mehr! Keine Hier-Rufe und kein Gemecker „Sie, Herr Nachbar, das ist meine Reihe!“

Ich zupfte und zupfte gegen die Zeit, gegen das Tageslicht und gegen die Geschäftsordnung. Denn auf einmal stand sie neben mir, die Maid mit dem in tausend gelockten Haarsträhnen abstehenden Strahlenkranz, mit dem rotbraun verwitterten Teint, mit den Sommersprossen und der Stupsnase. Mit den so herrlich dreckverkrusteten Barfüßchen und den Hotpants aus abgeschnittenen Jeans.

„Na, wollen wir nicht Schluss machen?“ fragte sie mahnend.

Und da geschah es. Ich wollte mich nach oben recken und hatte den vorgeformten Satz auf den Lippen, dass von Wollen schon gar keine Rede mehr sein könnte, als mich ein Schmerz im Rücken durchzuckte, der so ganz dem teuflischen Wort Hexenschuss entsprach. Ein Blitz war mir die Wirbelsäule herab gefahren, und statt meiner artigen Entgegnung fuhr mir nur die wesentlich weniger ziemliche Lagebeschreibung „Sch e i ß e !“ durch die Lippen. Und dann fiel ich schon mitsamt meinem Korb in die Furche zurück.

„Mei, jetzt hat sie’s aber erwischt!“ So ihr mitfühlender Kommentar. Und schon war sie zu mir gesprungen und ließ ihre mütterlichen Gefühle aktiv werden. Nur – da gab’s zunächst gar nichts zu helfen. Der Schmerz hatte mich gefällt und mir war sozusagen Hören, Sehen, Stehen und Gehen vergangen. Nicht einmal mein männlicher Stolz vermochte etwas gegen das Hexengeschoss anzuwirken. Erst als ich meine Lage zwischen den Erdbeeren und zwei liebreizenden Mädchenbeinen begriff, meldete sich ein erstes Gefühl der Blamage: Nicht mehr so ganz junger, aber sich gar zu gern jung fühlender Mann geht vor dieser prallgesunden Erdbeermaid zu Boden. Besiegt durch K.O. nach dem zweiten Kilo Senga Sengana. Immerhin!

Das Erdbeermädchen half mir – sexy, wie sie sich dahin hockte – beim Aufsammeln der verstreuten Früchte und hievte mich vorsichtig, Zentimeter für Zentimeter nach oben.

Kein „Junge, nun reiß dich doch zusammen!“ – wie ich es früher von meinen Eltern gehört hätte. Sondern einfach ein mitfühlender Arm und ein warmer Umschlag liebevoller Worte.

„Hängen Sie sich ruhig bei mir ein!“

Die Samariterin nimmt es mir hoffentlich nicht nachträglich übel, dass ich – nachdem ich von dieser Einladung zögernd Gebrauch machte – sofort das herrliche Gefühl auskostete, als wäre es ihre Haut und ihr sonnenverwöhnter Körper, an den ich mich schmiegte und nicht die Baumwollbluse.

Hexenschuss? Oh, was für eine überaus liebliche Hexe, in deren Schlepp ich mich da begeben musste. Auf der anderen Seite gab es leider keinen Zweifel: Ich konnte mich vor Schmerzen nicht nach oben recken. Gekrümmt trottete ich zum Ausgang.

„Haben Sie’s weit? Sie können ja so unmöglich Autofahren! Wenn Sie einen Augenblick warten, dann bringe ich Sie. Ihr Auto können Sie morgen hier abholen.“

Innerlich ging mir das sehr gegen den Strich, körperlich blieb es wohl der einzige Ausweg. Liebevoll schob sie den Beifahrersitz ihres Uralt-Käfers ganz nach hinten und bugsierte mich und meinen Spankorb vorsichtig hinein.

„Tilbury“, fragte sie, “was ist denn das für ein Name?“ Das klänge ja, als ob meine Vorfahren Maria Stuart noch persönlich gekannt hätten. „Und Til mit Vornamen? War Ihr Vater Werbetexter?“

Ein munteres Mädchen, diese Erdbeer-Fee.

„Und ich heiße Sophie mit peha!“

Wie hätte sie anders heißen können? Als wir vor meiner Wohnung ankamen, versuchte ich, in meine Hosentasche zu langen, um den Schlüsselbund herauszufingern. Aber da war er nicht. „Verdammt!“ sagte ich. „Wenn man einmal Pech hat, dann bleibt es gleich an einem kleben. Jetzt liegen die Schlüssel in meinem Aktenkoffer und der in meinem Auto. Was haben Sie sich da aufgeladen! Ein solcher Trottel, wie ich bin!“

„Nehmen Sie es nicht tragisch“, tröstete sie mich. „Ich nehm’ Sie jetzt erstmal zu mir nach Hause, wenn es Sie nicht geniert. Da hab’ ich vielleicht auch noch ein paar Schmerztabletten. Und vielleicht ist Judith schon zuhause. Die studiert Medizin. Die kann vielleicht helfen.“

Wenige Minuten später saß ich auf dem etwas abgerubbelten Kanapee einer herrlich verwahrlosten Studentinnenbude.

„Schauen’s Eahna bitt’schön nicht um. Ich war auf Besuch nicht vorbereitet!“ Sophie war keine Münchnerin, aber manche Axiome schleichen sich bald in die Umgangssprache ein. Sie studierte Agrarökonomie.

 

Die Erdbeeren sind nur ein Job. Nachher noch Bohnen und Himbeeren. Himbeeren sind schlimm. Da versuchen die Leute zu mogeln. Weil die halt teurer sind. Und sie fressen sich regelrecht den Wanst voll und stinken dann an der Kasse, ob sie mit Himbeersaft geduscht hätten.“

Togal hatte sie. „Damit Sie gut über Ihre Tage kommen …“ Spontan fiel mir dieser Slogan ein. Ob es ihn jemals gegeben hatte, weiß ich nicht. Gehorsam aß ich ihr zwei Pillen aus der Hand und spülte mit Sprudel nach.

„Okay, und jetzt entspannen Sie sich mal, Herr Til. Ganz locker vom Hocker. Ich mach’ uns derweil was zum Abendessen.“

So ist diese Generation: Unkompliziert, gastfreundlich, gerade und direkt. Manchmal kam ich mir besonders in solchen Situationen wahnsinnig alt vor. Denn uns hatte man „Schliff“ beigebracht. „Junge, kannst du dich nicht benehmen?“ war das zweite Wort. Und man durfte nie die Contenance verlieren. Vor allem dann nicht. Und mit Hexenschuss auf der Walstatt liegenbleiben – das wäre nun wirklich das Letzte gewesen. Geradezu ehrenrührig. Aber Sophie tat mir gut. Gegen die Muskel- und gegen die seelische Verspannung. Therapeutisch ungeheuer geschickt lenkte sie mich ab und ließ mich reden, über meinen Beruf, über Freunde, über die Erdbeer-Party – „ich kann die Biester nicht mehr sehen“, seufzte sie -, über München und den schönen Sommer. Und sie fand alles interessant und prima und echt Spitze. Und sie könne mir immer zuhören.

Irgend etwas schmurgelte in der Pfanne.

„Kann ich Ihnen denn irgendwie behilflich sein?“ fragte ich und wollte mich aufrichten. Aber da raste der Schmerz wieder den Rücken entlang.

„Jetzt lassen’s Ihnen doch mal verwöhnen! Erzählen Sie mir noch was. Das ist viel schöner!“

Mit einiger Mühe konnte ich mich dann so an den Tisch beugen, dass ich den Strammen Max mit einigem Behagen verspeisen konnte.

„Man muss auch die Brotscheiben anbraten“, verriet sie mir, „weil, nur dann sind sie richtig knusprig!“

Wie dieses kernig-frische Mädchen da vor mir saß, weckte es in mir ganz andere Assoziationen von „knusprig“ und so. Und warum hieß dieses Gericht eigentlich Strammer Max? Kaum einen Meter von mir weg wölbte sich eine stramme Sophie, nahtlos braun, das offenbarte sich selbst durch den Baumwoll-Musselin. Und während sie mir endlos zuhören konnte, konnte ich mich nicht satt sehen.

„Gleich müssen’s Ihnen mal brav umdreh’n,“ vermahnte sie mich dann, denn sie müsse sich einfach mal duschen und so. „Und viel Platz haben wir hier nicht!“

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