Kinderschänder

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Kinderschänder
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Werner Siegert

Kinderschänder

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kinderschänder

Mama Schäfer

Der Kinderschänder

Jutta

Rufmord - das erste Opfer

Auf der Flucht

Friseur gesucht

Zurück ins Leben?

Nachbeben

Turbulenzen

Titanic

Genickbruch

Champagner

Sigrid

Tödliche Rache

Notabene

Impressum neobooks

Kinderschänder

Ein Schandfleck - das sagten die einen. Andere wunderten sich nur über die Wildnis und darüber, in was für kleinen Häuschen Menschen wohnen können. Wieder andere suchten nach einem Namen, um dort anzufragen, ob sie das Grundstück kaufen könnten.

Bleiben wir beim Schandfleck. Ehemals war es der ganze Stolz eines Maurermeisters. Ein Fluchtort, eine Hoffnung.

1941 wurden große Flächen Fichten- und Kiefernwald gefällt. Man brauchte das Holz dringend für kriegswichtige Projekte. Wilhelm Schäfer war erschüttert, als er mit seiner Frau den beliebten Forstweg entlang wanderte. Sie suchten hier Erholung von der Stadtluft, vom Fliegeralarm, Entspannung auch vom unguten politischen Geschehen. Hier konnten sie miteinander offen reden, ohne Angst, belauscht zu werden. Nun waren viele Hektar Wald verschwunden. Ein amtlicher Zettel an einer schwarzen Tafel lud Interessenten ein, Grundstücke zu erwerben für Schrebergärten, zum Anbau von Gemüse und Anlage von Obstgärten zur Sicherung der Volksgesundheit. Der Preis: 10 RM/Quadratmeter. Mindestfläche 10 Hektar = 1000 Quadratmeter.

Wilhelm und Elfriede waren kurz entschlossen. Das war schon immer ihr Traum, hier draußen, südlich der Großstadt, in Waldesnähe und noch dazu fast am Ufer eines schnell dahin fließenden Flüsschens ein kleines Gartenhäuschen zu besitzen, sonntags hinauszufahren, ein bisschen zu graben, zu pflanzen, zu säen, aber auch im Liegestuhl die gute, würzige, harzgetränkte Waldluft und den ungetrübten Sonnenschein zu genießen, ohne den Lärm der Straße, an der sie in der Stadt wohnten. Immerhin mietfrei in einem vierstöckigen Renditehaus, das Vater Schäfer einst erbaut hatte.

Tausend Reichsmark, das war zwar viel; aber wenn man mietfrei wohnt, kann man Mark für Mark zurücklegen. Zuerst dachten sie an einen KdF-Wagen, einen Volkswagen, für den sie ansparen wollten. Wegen des Krieges aber verzögerte sich alles. Statt Personenwagen wurden jetzt Kübelwagen für die Front gebaut.

Wilhelm und Elfriede langten tief in die Tasche, legten alle ihre Ersparnisse zusammen, verkauften auch einige Papiere, die Vater Schäfer im Safe bei der Bank liegen hatte. Dann erwarben sie gleich zwei Parzellen zu je 100 Hektar. Später erschien ihnen das wie eine göttliche Eingebung.

Später - das war 1944 nach dem schrecklichen Bombenangriff, als der väterliche Besitz von einer Sprengbombe fast bis auf die Grundmauern zerstört wurde. Es gab Hunderte von Toten. Auch im eigenen Haus, weil manche so leichtsinnig waren, nicht in den Luftschutzkeller zu gehen. Aber auch die, die im Keller waren, als das Haus schwankte und zusammenkrachte, als sich Schutt und Asche über den Keller legten, Staub und Qualm durch alle Ritzen hineingedrückt wurden und alle Ausgänge versperrt waren, erlitten lebensbedrohliche Vergiftungen und unauslöschliche Traumata, bis sie schließlich von Helfern aus der Nachbarschaft aus dem nachtschwarzen Verließ gerettet wurden. Damals war der Franz, ihr einziger Sohn, gerade mal 5 Jahre alt.

Wilhelm wurde trotz einer Schulterverletzung, die ihn vor dem Einsatz an der Front bewahrte, für den „Wiederaufbau“ dienstverpflichtet, obwohl an Wiederaufbau nicht zu denken war; nur an die Beseitigung von Schutt und die Absicherung von Straßen gegen herabstürzende Trümmer.

Wer ausgebombt war, konnte einen Antrag auf Errichtung eines Behelfsheimes stellen, sofern er ein entsprechendes Grundstück im Umland verfügte. Wer sich gleichzeitig bereit erklärte, in dieses Behelfsheim auch andere, ebenfalls ausgebombte Bürger vorübergehend aufzunehmen, konnte mit bevorzugter Zuteilung rechnen. Behelfsheime waren Baracken, die - auf LKW - angeliefert, innerhalb kurzer Zeit aufgebaut werden konnten - und, sofern entsprechende Anschlüsse zur Verfügung standen, auch mit Strom und Wasser versorgt wurden. Für den Strom konnten am Forstweg ziemlich schnell Leitungen gelegt werden. Mit dem Wasser musste man sich behelfen, was hieß, dass man es beim nächsten an die Leitungen und Kanalisation angeschlossenen Haus, hier in rund 1 km Entfernung holen musste. Für das Klo wurde ein Häuschen mit Herz im Garten aufgestellt.

Wilhelm und Elfriede bekamen ziemlich schnell eine Zuteilung; auch, weil Elfriede dringend eine Luftveränderung benötigte. Ihre Lunge hatte in der Bombennacht zu viele Schadstoffe aufgenommen, so dass sie ständig hüstelte. Nun zahlte sich aus, dass die beiden gleich zwei Parzellen gekauft hatten. Auf die eine kam das Behelfsheim, das sie zunächst mit einem Mieterehepaar teilten. Dann aber verkauften sie diesen Notbehelf plus Grundstück an ihre Mitbewohner, die allzu gern ihre Enkel aus der bombengefährdeten Stadt mit nach draußen nehmen wollten. Für den Erlös entstand nun ein richtiges kleines Häuschen auf dem anderen Grundstück, hübsch aus Stein, anderthalbstöckig, oben mit einem Holzbalkon vor dem Schlafzimmer. Unten mit einem für damalige Verhältnisse großen Wohnzimmer, einer Küche und einem Allerweltszimmer, in dem der Franz seine Schularbeiten, Elfriede ihre Nähereien und das Bügeln erledigen konnten. Alles war halb unterkellert. Als Maurermeister konnte Wilhelm viele Arbeiten selbst übernehmen. Überdies hatte er „Vitamin B“, also Beziehungen, wie er an das so knappe Baumaterial gelangen konnte. An jedem Wochenende wuchs der Bau. Bald war „Hebauf“, also Richtfest. Gefeiert wurde jedoch nur heimlich; denn man wollte nicht alles an die große Glocke hängen. Von den überflüssigen Balken und Brettern entstand noch ein Unterstand für die Fahrräder und einen Bollerwagen.

Elfriede starb kurz nach Kriegsende. Sie hatte sich von ihrem Leiden nie erholt. Franz ging noch kurz auf die Realschule, bis in der Nähe ein Friseursalon eröffnet wurde und ein Lehrling gesucht wurde. In die Fußstapfen seines Vaters wollte er nicht treten. Er wollte lieber was mit Menschen zu tun haben. Was er natürlich nie jemandem verriet: am liebsten mit Frauen, mit Mädchen; denn er beneidete sie um ihre langen Zöpfe, um die langen Haare. Seiner Freundin, der Tochter einer Zugehfrau, kämmte er mit zärtlicher Ausdauer das bis auf die Hüften herab fallende Blondhaar, ohne zu ziepen. Und die dabei ausgekämmten Haare warf er nicht einfach weg, sondern sammelte sie in einer alten Keksschachtel, die er sorgsam versteckt hielt. Bald lernte er, wie er ihr für Festtage einen schmucken bayerischen Ringzopf flechten und legen konnte.

Gisela erkor er dann auch zu seiner Frau; denn er hätte es nicht ertragen, dass jemand anderer jemals ihre Haare auch nur berühren würde. Leider blieb ihre Ehe kinderlos.

Der Forstweg verwandelte sich in den Aufbaujahren nach dem Krieg total. Zunächst wurden „die Sparten verlegt“, eine komische Bezeichnung für Wasser, Abwasser und Gas. Vorher war schon mal asphaltiert worden. Also musste man alles noch einmal wieder aufreißen. Diese Wunden zeigen sich bis heute. Auf ihnen bilden sich in jedem Winter Frostaufbrüche und Schlaglöcher, die im Frühjahr mit bröckeligem Teersplitt notdürftig repariert werden. Für die großen Bauzuliefer-LKW eine Leichtigkeit, sie zu zermahlen. Aus den Behelfsheimen wurden kleine Villen; einige von ihnen bald wieder abgerissen, wenn die gealterten Eigentümer ins Pflegeheim abgeschoben und die Nachkommen ihre repräsentativen Traumvillen erstehen ließen. Mit Pool, Sauna und Vierfach-Garagen.

Dazwischen nimmt sich jetzt, nach vielen Jahren, das Häuschen der Schäfers sehr, sehr armselig aus. Eben jener Schandfleck! Es ist unbewohnt. Auf der Frontseite hatte man großflächig Putz abgeschlagen. Die Mauern waren umgeben von Wildwuchs, einem halb verfaulten Zaun, einem inzwischen schiefen Radelunterstand, ohne Räder, mit allerlei Geraffel. Hinter dem Zaun sammeln sich leere Schnaps- und Bierflaschen, Scherben und Überbleibsel von Drogenpartys. Ein mutwillig zertrampelter Supermarkt-Einkaufswagen ragt aus dem fast meterhohen Gemisch von Unkraut und vergilbten Gras heraus. Aus den einst mit vom Mörtel abgeklopften Ziegelsteinen befestigten Weg, die Wilhelm und Franz aus Ruinengrundstücken auf dem Bollerwagen kilometerweit herangekarrt hatten, wächst Gras. Die Steine sind mit Moos überzogen. Der Holzbalkon dürfte äußerst baufällig sein. Das aber macht nichts; denn das Häuschen steht seit Monaten leer. Für alle Eigentümer der Prachtvillen ein Ärgernis; denn die darin wohnenden Marder zerbeißen ihnen in die Kabel in ihren prächtigen Limousinen und Geländewagen. Disteln und anderen Unkräuter verbreiten ihre Samen in die äußerst gepflegten Rasenteppiche vor den weißen Terrassen. Die Beschwerden stapeln sich im Rathaus.

 

Man wird vertröstet, der neue Eigentümer werde dort in Kürze einen Zweispänner errichten; nicht gerade zur Freude der Villenbesitzer.

Wie kam es, dass aus dem Traum-Häuschen der Schäfers ein Schandfleck wurde? Davon erzählt diese Geschichte!

Mama Schäfer

Der Bauboom war ein Grund, die wahre Ursache für den Verfall des alten Häuschens war viel schwerwiegender. In den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde just vor dem Schäfer-Grundstück auf der anderen Straßenseite eine moderne Grundschule erbaut. 1968 musste sie erweitert werden. Gisela Schäfer, seit 1960 mit ihrem Franz verheiratet, sah nun einen jeglichen Tag die kleinen Buben und Mädels in die Schule stapfen und mittags wieder hinausstürmen. Während der Bauarbeiten war der Schulhof eine Wildnis. Zwischen den Baumaschinen durften die Kinder nicht spielen. Daher wichen vor allem die etwas älteren Kinder gern auf die Straße aus und mümmelten dort ihre Pausenbrote.

Gisela bangte stets um sie, dass sie genügend auf den Verkehr aufpassen würden. Oft wurde gehupt, manchmal hörte man Bremsen quietschen. Da kam Gisela auf den Gedanken, den Kindern das Gartentörchen zu öffnen, damit sie sich auf ihrem Rasen tummeln konnten. Dicht gedrängt saßen sie gern auf der Bank unter dem Balkon. Wenn es regnete suchten sie Schutz im Fahrradschuppen. Im Bestreben, „ihren“ Kindern etwas Gutes zu tun, schenkte sie ihnen Sprudelwasser ein, auch mal Limonade. Mal hatte sie einen großen Topf Kakao gekocht. Mal hat sie eine kleine Wunde verbunden, mal kleine Händchen mit Seife und Bürste bearbeitet, mal die Zöpfe neu geflochten. Am liebsten hätte sie alle umarmt. Sie wollte ja mal Lehrerin werden und hatte schon ein paar Semester studiert. Aber ihre Noten waren zu dürftig, so dass sie es aufgegeben hatte.

Mit der Zeit kamen die Kinder, hauptsächlich die Mädchen, auch nach der Schule, wenn sie auf den Schulbus oder auf die Abholung durch ihre Eltern warten mussten. Auch gab es Leerstunden. Dann war Gisela in ihrem Element. Sie lud immer mal wieder einige dazu ein, ihre Schularbeiten im Haus zu machen - unter ihrer Hilfe. Es waren meist die sogenannten Schlüsselkinder, auf die zuhause ohnehin niemand wartete.

Es waren „ihre Kinder“ - der Ersatz für den sehnsüchtig, aber vergeblich erwarteten eigenen Kindersegen. Deshalb traf es sie hart, als nach Abschluss aller Bauarbeiten, nachdem ein Zaun um die ganze Anlage gezogen war, die Schulleitung ein Verbot erließ, das Schulgelände vor Unterrichtsende zu verlassen. Mit einem Mal blieben die Kinder aus. Nur wenige wagten es, schnell hinüber zu rennen, sobald die Pausenaufsicht mal in die andere Richtung schaute. Natürlich war die Anordnung wohl begründet: Es ging um die Haftung bei Unfällen. Wer konnte etwas dagegen haben?

Gisela aber litt. Es war wie der Entzug einer liebgewonnenen Droge, die die eigene Kinderlosigkeit für ein paar Stunden und Tage vergessen machte. Franz erhob nie Vorwürfe gegen sie. Er wusste nur, dass sie litt und von Tag zu Tag trauriger wurde. Daran konnten auch die drei, vier Mädels und Jungens nichts ändern, die es sich nach Schulende bei „Mama Schäfer“ gut gehen ließen. Das war es dann auch, was ihr den nächsten Schock versetzen sollte.

Eine Tages stand eine völlig echauffierte Frau vor ihrer Tür, ließ sie, die kaum Zeit hatte, ihre Schürze abzubinden, überhaupt nicht zu Wort kommen und brüllte:

„Wenn Sie es noch einmal wagen, sich an meiner Tochter zu vergreifen, sie kinderloses G’schwerl, Sie! Schaffen Sie sich doch eigene Kinder an, ehe Sie hier die Supermutter rauskehren! Wenn ich meine Tochter noch einmal von Ihnen reden höre, von der ach so guten ‚M a m m a Schäfer’, dann schicke ich Ihnen den Anwalt auf den Hals wegen Kindesmissbrauch! Lassen Sie gefälligst Ihre Finger von unseren Kindern! Sie ..., was man von Ihnen halten soll, sieht man ja an Ihrer Bruchbude und der Wildnis hier. Das ist ja ein Schandfleck für die ganze Gemeinde! Die Schulleitung wird Ihnen noch ein g’scheites Schreiben ins Haus schicken! Da werden Sie sich aber wundern! Zigeunerpack!“

Gisela brachte vor lauter Entsetzen kein einziges Wort heraus und knallte nur noch die Türe zu, ehe sie im Haus zusammenbrach und auf allen Vieren weinend in die Küche kroch. Dort fand sie der Franz am Abend zusammengekrümmt, frierend, zitternd am ganzen Körper und unfähig, ihm in einigermaßen zusammenhängenden Sätzen zu schildern, was ihr widerfahren war.

Sie konnte noch nicht einmal sagen, wie diese Mutter heißt und wessen Tochter so zuhause von „Mama Schäfer“ geschwärmt hatte, dass sich furiose Eifersucht daran entzünden musste.

„Was hat sie alles zu dir gesagt?“

„G’schwerl hat sie uns genannt. Zigeunerpack! Mit dem Anwalt hat sie gedroht! Aber ich weiß ja nicht mal, wer sie war. Und wir bekämen von der Schule noch ein gescheites Schreiben! Wegen Kindesmissbrauch! Dabei haben wir uns doch nur gekümmert ....“

Ein solches Schreiben blieb jedoch aus. Dafür lag an einem der nächsten Tage ein rausgerissenes Heftblatt mit einer zierlichen Mädchenhandschrift im Briefkasten:

Liebe Mama Schäfer, ich darf sie doch so nenen. Ich bin die Uschi Gschwandtner. Es tut mir leid, dass mit meiner Muter. Ich habe sogar Schläge bekommen u. darf nicht mehr fernsehn wenn ich noch mal von ihnen rede. Und du hättest mich misbracht. Ich weis nicht was das ist, fieleicht weil du mich mal kämt hast und die schöne Spange. Die hat die Mutti in den Mühl geschmissen, aber ich hab sie rausgefunden und nun an meinem Geheimen Plaz. Fiele Grüze!“

Das sollte nochmal ein wichtiges Dokument werden.

Einige wenige Kinder kamen gottlob immer noch zu Gisela. Eine dicke Albanerin mit einem unaussprechlichen Namen und ein sehr hübsche Türkin mit Namen Yasemin, mit langen, fast schwarzen Haaren. Die wäre sonst bis nachmittags allein zuhause gewesen. Ab und zu auch mal zwei Buben, die auf der Straße Fußball gespielt haben. Als deren Ball in Schäfers Garten flog, baten sie sehr schüchtern, sich den Ball holen zu dürfen. Gisela sagte ihnen, sie sollten lieber hier im Garten spielen. Auf der Straße sei es zu gefährlich.

Gisela aber ging es immer schlechter. Immer häufiger fand sie ihr Mann abends zusammengekrümmt unter dem Küchentisch. Sie traute sich nicht mehr, aus dem Fenster zu schauen. G’schwerl und Zigeunerpack - diese Beleidigungen hatten im wahrsten Sinne des Wortes ihr unheilbares Leid zugefügt. Zudem musste sie sich Zügel anlegen; denn all zu sehr war sie versucht, ihre frustrierte Kinderliebe nun noch stärker über die wenigen Kinder auszuschütten. So erschrak sie - und es ging wie ein elektrischer Schlag durch ihren immer ausgezehrteren Körper, dass sie Yasemin aus dem Affekt auf die Stirn geküsst hatte. Dummerweise hatte die albanische Dickmamsell das mitgekriegt - und ihre Eifersucht entzündet. Nicht nur, dass sie zu weinen anfing und aus dem Haus stürzte. Sie plapperte das überall rum. Gottlob blieb das ohne direkte Folgen. Zunächst. Kinder plappern halt. Eine Zeitlang kam das Mädchen nicht mehr wieder. Dann aber doch - und Gisela versuchte, ihr nun die doppelte Liebe zukommen zu lassen.

Eines Tages klingelte sie dann und berichtete, ihre Mama sei schon wieder schwanger, und sie hätte doch schon vier Geschwister. Auf die müsse sie jetzt häufiger aufpassen.

„Schwanger ... !“ Das Wort allein hatte auf Gisela eine Wirkung, als hätte man ihr eine lähmende Spritze verpasst. Franz wusste davon nichts. Er konnte seine Frau nicht erheitern, so sehr er alles versuchte - und ihr seit längerem etwas verschwieg: Er hatte seine Arbeitsstelle als Friseur verloren. Schon sein erster Versuch, nach seiner Meisterprüfung einen eigenen Salon zu führen, war schief gegangen. Ihm lag nichts an Werbung. Er glaubte, die Leute müssten von allein zu ihm kommen. Dann hatte er Pech mit zwei angestellten Frisösen. Die hatten so manche Frisur vermasselt, kannten sich mit Dauerwelle nur mittelmäßig aus. Zudem schwätzten sie zuviel und arbeiteten unkonzentriert. Kurzum: Bald musste er Insolvenz anmelden. Eine Schmach, die sie noch zusammen tragen konnten, Gisela und er. Sie hielten zusammen. Geld war ja noch da, so dass er alle Schulden zurückzahlen konnte. Er hatte ja das Ruinengrundstück seiner Eltern an die Stadt verkauft. Einen Friseurstuhl aus seinem Laden lud er schließlich auf einen Kleintransporter und stellte ihn zuhause in die Nebenkammer, die mal ein Kinderzimmer hätte werden sollen.

Dann klapperte er jeden Friseurladen ab, ob sie nicht jemanden bräuchten. Einen Mann? Er musste sich nur umblicken: An fast jedem Stuhl, vor jeder Haube stand eine junge Frau. Jung - für junge Frisuren, für aufgepeppte Schnitte und verwegene Färbungen. Irokesenschnitte, Stufenglatzen, Vokuhila, sowas hatte er nie gelernt, und war auch zu konservativ dafür. Mit Mühe und unter starken Einschränkungen fand er schließlich doch eine Halbtagsstelle. Er - der Meister! Er - der nichts Attraktiveres an Menschen fand als ihren Haarschmuck! Man überließ ihm die Nullachtfünfzehn-Kunden. Zuhause schuf er sich aus seinem Freundeskreis eine kleine Privatkundschaft.

Eines Tages fand er Gisela wie leblos im Flur liegen. Rasch rief er den Arzt, den Notarzt. Der die sofortige Einlieferung in eine Klinik veranlasste. Gisela hatte einen Selbstmordversuch unternommen. Mit Rattengift. Zwar konnte sie gerettet werden, jedoch wurde die Einweisung in eine psychiatrische Heilanstalt verfügt. Die Diagnose lautete auf eine schwere endogene Depression.

Der Kinderschänder

Als Franz mittags von der Arbeit kam, saßen die Kinder schon auf der Treppe. Mehr als sonst. Natürlich wollten sie wissen, wo Frau Schäfer ist. Und ob sie denn auch bleiben dürften, wenn Frau Schäfer nicht zuhause ist. Sie käme doch sicher bald wieder. Und gerade jetzt vor den Zeugnissen, da wäre es besonders wichtig für sie zu lernen.

Er ließ sie alle herein, und sie fanden sich wie von selbst zurecht. Jede und jeder nahm am großen Tisch Platz. Sie packten ihre Hefte und Bücher aus. Die Albanerin holte Gläser aus dem Schrank und schenkte allen aus einer Karaffe Wasser ein. Nur Lernen, vor allem das Rechnen, das fiel ihr unendlich schwer, weshalb sie schon zwei Klassen hatte wiederholen müssen. Im Sozialverhalten verdiente sie eine glatte Eins.

Also lernte er jetzt mit ihnen. Korrigierte ihre Fehler. Ergriff manchmal eine Hand, um sie auf das richtige Feld zu lenken. Und streichelte schon mal einen Kopf, wenn eine Rechenaufgabe korrekt gelöst war. Auch die langen schwarzen Haare von Yasemin.

Ach, sie brauchten so lange, und Franz war ungeduldig, wollte er doch zu seiner Frau in die Klinik fahren. Eine schier endlose Fahrerei, erst mit dem Rad zur S-Bahn, dann zweimal umsteigen. Also übergab er Yasemin den Schlüssel. Der Albanerin mit dem auch für ihn unaussprechlichen Namen sagte er, sie solle alles wieder in Ordnung bringen und auch für Ordnung sorgen. Alle versprachen, sich mustergültig zu verhalten und spätestens um halb drei das Haus zu verlassen, die Tür abzuschließen und den Schlüssel in den Briefkasten zu werfen.

Aber was machen Kinder, wenn sie mal allein in einem Haus sind? Sie stöbern. Sie öffnen mal Türen, die ihnen bisher verschlossen waren. Also fanden sie auch den Friseurstuhl und alles, was sie sonst bei einem Friseur gewohnt waren: Scheren, Rasierapparate, Kämme, Spangen und Klemmen, Umhänge, Haarsprays und Duftwässer. Ach wie schön, nach den Schularbeiten mal Friseur spielen zu können. Sich im Stuhl höher pumpen zu lassen und wieder runter gelassen zu werden. Mal sich mit der Schere ein bisschen abzuschnippeln. Sich ein bisschen mit Düften besprühen. Da geht schon mal der Blick auf die Uhr verloren. Bis es klingelte. Bis die erste Mutter vor der Türe stand. Als dann alle Kinder schnell hinaus drängten und die kleine Treppe hinunter sprangen, fragte sie natürlich nach Frau Schäfer.

„Ja, die Frau Schäfer, die ist krank. Die ist in einem Krankenhaus!“

 

„Und Herr Schäfer hat uns geholfen! Der ist vielleicht nett! Da kriegt man immer eine Belohnung, wenn man was richtig gemacht hat!“

„Ja, und jetzt ist er schon eine Stunde weg, zu seiner Frau gefahren. Das dauert lange; denn die haben ja kein Auto!“

„Dann wart ihr ganz allein im Haus?“

„Ja, wir haben auch alles wieder in Ordnung gebracht. Alle Gläser gespült.“

„Und dann haben wir noch Friseur gespielt, weil der Herr Schäfer, der hat nämlich einen richtigen Friseurstuhl. Der ist nämlich Friseur.“

Yasemins Mutter hörte dies alles nicht gern. Ein Mann, noch dazu ein Ungläubiger? Mit ihrer Tochter in einem Raum?

„Hat er dich angefasst?“ wollte sie wissen?

„Ja, ein bisschen, weil ich meine Rechenaufgaben so gut und sauber gelöst hatte!“

So bahnte sich die Katastrophe an. Erst ganz sacht. Erst so, dass Yasemin nicht mehr kam. Dann kam auch die kleine Albanerin nicht mehr. Nur noch die Buben zum Fußballspielen. Aber niemand mehr zu den Schularbeiten. Franz, der sich nach seiner Arbeit besonders schnell nach Hause verabschiedete, um die Kinder zu betreuen, hatte schließlich niemanden mehr zu betreuen. Dafür brodelte die Gerüchteküche im Ort.

„Haben Sie schon gehört, der Herr Schäfer, das sind die, die gegenüber der Schule wohnen, in so einer kleinen verwahrlosten Bude, der hat sich an Schülerinnen vergriffen!“

„Er lockt sie mit Limo und Schokolade in sein Haus!“

„... ja, und seine Frau, die Arme, die hat ihn ja schon lange verlassen. Was der jetzt so allein treibt?“

„Ja, und heimlich betreibt er noch einen Friseursalon. Zuhause. Natürlich schwarz!“

„Es sind ja komische Leute, die da ein und aus gehen!“

„Die gehören hier eigentlich gar nicht hin. Schauen sie sich das armselige Häuschen an! Und statt Blumen nur Rasen. Nicht mal ein Auto sollen die haben!“

„Ja, es ist wirklich ein Schandfleck hier! Wie die sich das haben leisten können, hier zu wohnen! Bei den Grundstückspreisen.“

Als einige Tage später Franz Schäfer vom Krankenhaus kam und von der S-Bahn nach Hause radelte, wartete vor seinem Haus die Polizei.

„Herr Schäfer?“

„Ja, was ist? Hat mein Licht am Fahrrad nicht funktioniert?“

„Nun tun Sie doch nicht so unschuldig. Es liegen mehrere Anzeigen gegen Sie vor wegen Kindesmissbrauchs. Wir müssen Sie bitten, mit uns mitzukommen. Bitte holen Sie sich ein paar Sachen!“

„Aber das muss .... das ist eine Verleumdung, das sind Lügen, lauter Lügen! Ich habe nie einem Kind etwas zuleide getan!“

„Das sagen alle! Herr Schäfer, das festzustellen, wird eine Sache des Gerichtes sein. Bitte folgen Sie unseren Anweisungen!“

Die Beamten folgten ihm ins Haus und ließen ihn nicht aus den Augen. Franz zitterte am ganzen Körper. Er war noch erschöpft vom Besuch bei seiner Frau. Es ging ihr gar nicht gut. Sie war so bar jeglicher Hoffnung. Und jetzt das?

„Darf ich denn wenigstens morgen wie versprochen zu meiner Frau in die Klinik fahren? Ich muss ihr ein paar Sachen bringen!“

„Das wird wohl nicht möglich sein! So schnell lässt sich eine so schwerwiegende Anzeige nicht erledigen. Wir sind zwar nicht der Staatsanwalt. Aber auf ein paar Tage oder Wochen müssen Sie sich einstellen. Wer weiß - vielleicht auf Jahre!“

Franz Schäfer war nicht in der Lage, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Er irrte in seiner Wohnung umher. Öffnete die Tür zur Nebenkammer.

„Ach, was haben wir denn hier? Einen nicht angemeldeten Friseursalon? Schwarzarbeit? Na, da kommt ja einiges zusammen!“

Mit Blaulicht fuhr der Isar-Wagen davon.

Eine Nachbarin hörte man sagen: „Na endlich ist das Pack weg! So eine Nachbarschaft, die kann man ja niemandem zumuten! Und der Lärm von den Kindern! Fußballspielen!“

Am nächsten Tag war die Nachricht im Ort rum: „Der Herr Schäfer ist wegen Kindesmissbrauchs in Haft! Endlich! Seine Frau hat sich das Leben genommen!“

„Da wird jetzt hoffentlich eines der letzten guten Grundstücke frei!“ jubelte ein Makler.

Beim ersten Haftprüfungstermin nach zwei Tagen wurde entschieden, dass Franz Schäfer bis auf weiteres in Untersuchungshaft zu belassen sei, weil der Beschuldigte seine Wohnstätte in unmittelbarer Nähe der durch ihn gefährdeten Kinder habe und somit eine Gefahr von ihm ausgehe.

Als es ihm endlich gelang, einen Anwalt zu finden, der ihn zu vertreten bereit war, wurde ihm eröffnet, die Haft könne vorübergehend ausgesetzt werden, wenn er seinen Wohnsitz in einen anderen Ort verlegen würde. Er müsse sich überdies verpflichten, sich nicht in der Nähe von Schulen oder Kindergärten aufzuhalten. Und er müsse sich alle zwei Tage bei einer Polizei-Dienststelle melden.

Franz suchte sich eine Pension in der Nähe des Sanatoriums, in dem seine Frau betreut wurde. So konnte er einen Grund vorweisen, weshalb er für eine gewisse Weile dort zu bleiben beabsichtige.

Seiner Frau erzählte er nichts von der Polizei, von seiner Verhaftung und den Vorwürfen. Er wollte sie nicht zusätzlich belasten. Der behandelnde Arzt eröffnete ihm überdies, dass die Kinderlosigkeit mit größter Wahrscheinlichkeit nicht an der Unfruchtbarkeit seiner Frau gelegen habe. Das habe man ihr gesagt, damit sie den seelischen Heilungsprozess nicht ständig durch neue Selbstvorwürfe vereitle.

Eines Abends aber, als es schon dunkel war, fuhr Franz zurück zu seinem Haus.

Als er aber des Häuschens ansichtig wurde, durchfuhr im Schrecken und Entsetzen: Jemand hatte quer über die ganze Vorderseite „Kinderschänder“ gesprüht. In derselben Sekunde wusste Franz Schäfer, dass er wohl nie wieder in das Haus seiner Eltern zurückkehren könne. Nie wieder! Nie! Nie! Es würde von nun an auf immer und ewig das Kinderschänderhaus sein. So lange es nicht von einem Bagger weggeräumt würde.

Franz war drauf und dran, umzukehren. Er war drauf und dran, durchzudrehen und schreiend in den Wald hineinzulaufen. Zu laufen, zu laufen, zu laufen - bis er nicht mehr laufen könne und zusammenbräche. Tot oder wie - das war ihm egal.

Dann besann er sich doch. Er wollte wenigstens noch ein paar liebgewordene Sachen bergen. die ihm wertvoll schienen, Fotoalben, Dokumente vom Haus, vom Grundstück, von den Banken. Noch das Wasser abstellen und die Heizung, alle Sicherungen rausdrehen. Den Inhalt des Kühlschrankes entleeren. Weniges mitnehmen, vieles in den Müll. Im Briefkasten fand er noch einen Haufen Papier, Briefe und Reklame zusammengequetscht und nass. Die Briefe nahm er an sich. Im Dunkeln konnte er nichts entziffern.

Dann lief er davon. Schaute sich noch einmal um und betete „Lieber Gott, wenn es dich gibt, dann lass einen Blitzstrahl hinunterfahren. Zünde unser Häuschen an, damit sich niemand mehr daran vergreife. Aber kein Blitz fuhr hinunter. Das Haus, seine Kindheit und sein Glück verschwanden in der Finsternis.

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