Johanna - das Mädchen Doppelbaum

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Johanna - das Mädchen Doppelbaum
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Werner Siegert

Johanna - das Mädchen Doppelbaum

Eine Schicksal-Erzählung

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Der Doppelbaum

Ein gefährliches Spiel?

Unter Verdacht

Metastasen der Seele

Wohin fliehen?

In der Falle

Ausweglos

Ausweglos

Der Boulevard sucht seine Opfer

Sudeleien

Diese Nächte - oh Himmel, so hilf doch!

Es brennt!

Jotkaka

Zurück in die Zukunft

Ängste, Ängste und Ängste

Sonntag – Sonnentag?

Abschied mit Gefühl

Tagebuchblätter

Am Feldkreuz

Impressum neobooks

Der Doppelbaum

Er begann, das Glück dieser Tage daran zu messen, ob das Mädchen wieder Gitarre spielen würde. Das Mädchen von nebenan, vom Nebenzimmer in diesem Bildungshaus einer Krankenkasse. Denn am ersten Abend, als er gerade dabei war, seine Koffer auszupacken, die Hosen über Bügel zu hängen, Hemden und Pullover in die Fächer zu stapeln, da stutzte er: Gitarrenklänge und eine leise, heisere Mädchenstimme in diesem Haus, in dem es nur um Gesetze, Abrechnungsmodalitäten, genehmigungsfähige und abzulehnende Leistungen ging, in dem er sogenannten Führungskräften Zeit-Management und Arbeitstechniken vermitteln sollte? Da schienen ihm diese Klänge aus anderen Sphären zu kommen.

Nicht stören - dachte er sich und lugte nur vorsichtig aus dem Fenster zum Nachbarbalkon, wo die eher wehmütige, meditative Melodie erklang. Da saß das Mädchen auf der Balkonbrüstung, schaute in die weite Landschaft oder auch nirgendwohin und zupfte ganz beiläufig an den Saiten seiner Gitarre. Beiläufig, so als ob die Weise eher zufällig, träumerisch dem Zusammenspiel ihrer Hände mit ihren Gedanken entsprang. Nicht stören ....

Sie sah eigentlich eher wie ein Bauernmädchen aus, oder wie eine Sennerin, mit ihrer wettergebräunten Gesichtshaut, ihren sonnengebleichten, lose herabhängenden Haaren, leuchtend blauen Augen unter buschigen Brauen, einer kecken Stupsnase über sehr ausgeprägten Lippen. Auf den zweiten Blick kam ihm der Typ „Schwedenmädel“ in den Sinn - einem Klischee, das durch viele Filme der 70er und 80er Jahre geprägt worden war. Nein, er verwarf dieses Bild gleich wieder; denn dem Mädchen mit der Gitarre fehlte jede erotische Ausstrahlung. Es erschien ihm vielmehr wie vom Schicksal gegerbt. Oder war es nur ihr Spiel, das diesen Eindruck erweckte?

Sie spielte nicht jeden Abend. Ein paar Tage darauf trafen sie im Flur zusammen. Sie schloss gerade die Tür auf, als er - seine Schritte etwas beschleunigend - ebenfalls vom Lift kam.

„Guten Abend, liebe Nachbarin, werden Sie heute Abend wieder Gitarre spielen?“

„Wieso? Stört es Sie?“

„Aber nein, überhaupt nicht, im Gegenteil. Es ist so wohltuend, Ihnen zuzuhören ...“

„... aber ich kann ja gar nicht richtig spielen. Ich fange ja erst an. Habe noch nie Unterricht gehabt, kenne keine Noten. Ist ja die Gitarre meiner Schwester. Ich glaube sogar, sie ist ziemlich verstimmt!“

„Oh doch, Sie können wohltuend spielen, haben offensichtlich ein Naturtalent für Harmonien. Was Sie da improvisieren, klingt eigentlich schöner, als wenn Sie irgendein bekanntes Lied anstimmen würden.“

Sie lächelte verlegen und schüttelte den Kopf. Kurz darauf standen sie auf dem Balkon. Er auf seinem, sie auf ihrem. Die Balkone waren allerdings nur durch eine eher angedeutete Holzwand von einander getrennt. Absichtlich; denn es waren verliebte Lehrgangsteilnehmer wohl beim Versuch, ihrer angebeteten Kollegin näherzukommen, bei Balkonklettereien abgestürzt. Daraufhin hatte man den Durchgang erleichtert. So schön können Lehrgänge sein.

„Wissen Sie, eigentlich kann doch jeder, der ein wenig Gefühl für Harmonie in sich spürt, musizieren. Es müssen ja nicht gleich virtuose Stücke entstehen. Das ist wie beim Malen. Viele Menschen sagen, sie könnten nicht malen. Wenn man ihnen aber einen mit Farbe getränkten Pinsel in die Hand gibt, ein Aquarellpapier in Wasser taucht und sie dann den ersten Strich wagen, sind sie fasziniert davon, wie die Farbe filigranhaft zerläuft, selber Muster bildet, sich zu einem Bild formt, das zu wunderbaren Phantasien Anlass gibt. Wenn ich eine Blume male, ist es eine Blume, eine Blume, eine Blume. Aber das freie, überraschende Spiel dieser Farbe öffnet einen ganzen Kosmos ...“

„Sie malen?“

„... so wie Sie Gitarre spielen. Und zu Ihrem Gitarrenspiel!“

„Darf ich das mal sehen?“

Das Mädchen stieg - es war barfuß - behände über die flache Holzblende.

„Übrigens - ich heiße Johanna. Und nicht „Sie“, sondern „Du“, bitte! Johanna. Das „Sie“ möchte ich unten lassen, im Lehrsaal, und in der Filiale, wo ich schaffe. Das „Sie“ ist so kalt und fremd!“

„... und ich Ansgar!“

„Nein, das geht nicht. Sie sind ja eine Lehrkraft oder Seminarleiter oder so was. Da fällt mir das „Du“ schwer. Sind Sie nicht sogar Psychologe? Vor denen muss man sich vorsehen,“ ergänzte sie mit einem verlegenen Lächeln.

Mit allerdings ziemlich unbefangener Neugier blätterte sie in seinem Skizzenblock, ehe ihr Blick auf einen kleinen Stapel von Kritzeleien fiel mit lauter Bäumen drauf.

„Was macht man denn damit?“

„Das verrate ich Ihnen, eh’ dir, erst, wenn du auch einen Baum, ein Haus, einen Weg und eine Schlange gemalt hast!“

„Das soll ich alles zeichnen? Ich soll einen Baum zeichnen? Was denn für einen? Irgendeinen bestimmten?“

„Nein, völlig frei. Am besten an gar nichts dabei denken. Gerade das, was aus der Hand fließt.“

Dabei schob er ihr ein Blatt rüber, zeichnete einen quadratischen Rahmen hinein und gab ihr einen Zeichenstift.

Johanna blickte eine kurze Weile nach oben, als ob sie intensiv nachdenken müsse. Dann wandte sie sich von ihm ab. „Nicht gucken!“ bat sie. Und zeichnete. Ziemlich hastig hörte man den Stift über das Papier schrappen. Dann zeigte sie ihm stolz ihr Bild.

Eine Baumwurzel, aber zwei kräftige Bäume, die aus einem schrägen Berghang herauswachsen. Ohne Blätter. Mit vielen Ästen und Zweigen. Darunter, am Fuß des Berges die Andeutung eines Hauses, krumm und schief. Eher ein Heuschober oder eine Bretterbude. Als Zugabe.

„Und eine Schlange auch? Igitt!“

„Wenn Menschen Bäume malen, oder besser gesagt, zeichnen, kritzeln, ganz spontan, verraten sie sehr viel über ihre Persönlichkeit!“

„Ach du lieber Gott! Wenn ich das gewusst hätte!“ Gleich wollte sie ihr Bild wieder an sich reißen.

„Nicht doch. Das ist doch sehr interessant. Sehr originell. Noch nie hat jemand so einen Doppelbaum gezeichnet.“

„Ist das schlimm?“

„Nein, schlimm ist es ganz und gar nicht. Es ist anders. Es verrät eine ganz ausgeprägte Persönlichkeit, eine vielseitige, eine sehr originelle. Eine, die bestätigt, was du eben gesagt hattest: Hier ist die Johanna, das DU - und dort ist die Krankenkassen-Sachbearbeiterin oder was du bist, das SIE.“

„Auszubildende ... Azubi ... mehr nicht! Nicht so hohe Tiere, wie Sie sie wahrscheinlich in Ihren Seminaren vor sich haben.“

Johanna reagierte auf einmal, als ob sie fremdelte. Als ob plötzlich Angst in ihr aufstieg.

„Ich möchte jetzt bitte gehen.“

„Habe ich dich verletzt, Johanna? Bist du traurig? Ist irgendetwas?“

„Nein, es ist nur .... Sie wissen soviel über mich. Das macht mir Angst.“ Hastig nahm sie ihr Baumbild an sich und verschwand grußlos über den Balkon.

An diesem Abend spielte sie nicht. Und auch an den nächsten Abenden nicht.

Morgens, im Frühstücksraum, setzte er sich zu ihr: „Was ist los? Wie geht es der Gitarre?“

„Eine Saite ist gesprungen!“

„Dann kaufen wir eine neue. Ich muss ohnehin heute Mittag in der Stadt was besorgen!“ Das war eine Lüge, aber was hätte er anders sagen sollen, ohne dass sie gleich hätte abwinken müssen.

Am Abend hörte er Johanna wieder spielen.

Für ihn war es der letzte glückliche Abend. Denn am nächsten Tag musste er abreisen.

„Bitte das Baumbild nicht vernichten! Vielleicht sehen wir uns ja noch mal. Irgendwann – wenn du magst – kannst du es ergänzen.“

 

„Wie meinen Sie das – ergänzen?“

„Nun, vielleicht führt durch diese Landschaft ein Weg? Und es gibt einen Hintergrund? Ich jedenfalls werde dein Bild nicht vergessen – und dich auch nicht!“

„Ach, das sagen Sie nur so. Das glaub’ ich Ihnen nicht!“

„Doch, ganz bestimmt. Und wann immer du mit mir Verbindung aufnehmen willst, hier ist meine Karte.“

„Gibt es eigentlich noch mehr solche Tests wie den mit dem Baum?“

„Es gibt viele. Tests, um etwas zu prüfen oder zu beweisen, sind es nicht, eher spiegelt sich darin die eigene Persönlichkeit. Manche sind sehr kompliziert. Da braucht man einen Tag zu und einen Computer zur Auswertung. Und es gibt einen, der mich selber immer wieder verwirrt. Ich pendle zwischen Ablehnung und Staunen, der geht mit Farben!“

„Kann ich den mal machen oder ist das auch kompliziert?“

Ansgar holte den Lüschertest aus der Tasche und legte die Farbkarten unter die Schreibtischlampe.

„Eigentlich sollte man die Karten unter Tageslicht anschauen. Farben verändern sich unter dem kalten Licht dieser Deckenbeleuchtung. Aber jetzt, unter der Tischlampe geht es ganz gut. Und es ist ja auch mehr ein lustiges Spiel.“

Johanna betrachtete die acht Karten lange. Es fiel ihr sichtlich schwer, die Lieblingsfarbe herauszufinden und die von ihr am wenigsten geschätzte.

„Wahrscheinlich mache ich wieder alles falsch!“

„Kann man nicht. Es gibt kein Falsch und kein Richtig. Überdies ist das von momentanen Stimmungen abhängig. Erst wenn man an mehreren Tagen und in Wochenabständen stets zu ähnlichen Reihen kommt, verfestigt sich ein Bild. Und häufig stimmt es. Das ist ja das Frappierende daran.“

Johanna wählte nach langem Zögern endlich Rot als Lieblingsfarbe. Schwarz kam ans Ende. Neben Rot kam Grau, dann Blau, Grün, Violett, Gelb, Braun und dann die schwarze Karte.

Will Hemmungen und Hindernisse abrupt durchbrechen und im impulsiven Begehren sich und die eigene Wirkung erleben. Will dabei die spannungsvollen Konflikte betäuben, gerät aber durch impulsive Handlungen in Risiken“, las Ansgar vor.

„Aufhören!“ Fast schrie sie. „Aufhören!“

„Warum? Ist es falsch?“

„Nein, nein, es ist so! Es ist einfach so. Und genau davor habe ich Angst!“

„Sicher ist in der nächsten Kombination eine mildernde Ergänzung:

Hat das Verlangen nach ruhiger und gefestigter Verbundenheit, um sich bestätigt, gewürdigt, geliebt und zufrieden zu fühlen.“

„So, jetzt wissen Sie ja alles von mir!“ Trotz klang aus ihrer Stimme, aber auch Verlegenheit. „Den Rest will ich gar nicht hören!“

Abrupt stand Johanna auf. Ihr Abschied glich einer Flucht. Noch ein letzten gequältes Lächeln und sie verschwand über den Balkon.

Ein gefährliches Spiel?

Wochen später. Das Telefon klingelt oder wie man dieses scheußliche Geräusch jetzt nennt. Zunächst versteht er die Stimme nicht. Es ist Johanna. Ihre Stimme klingt verzagt, heiser.

„Hier ist der doppelte Baum. Das Fräulein Doubletree, wie Sie mich scherzhaft genannt haben. Schade, dass Sie nicht wieder im Hause sind. Irgendwie hatte ich gehofft, dass Sie wieder hier sein würden. Zunächst mal möchte ich mich bei Ihnen entschuldigen, weil ich damals so grußlos davon gerannt bin. Ich war einfach fassungslos. Aber jetzt, glaube ich, brauche ich dringend Ihren Rat. Erst hatte ich tatsächlich Angst vor Ihnen; dass Sie mich mit Ihren Psychologenaugen durchschaut haben. Oder gar hypnotisieren. Dass ich irgendetwas male, womit ich was ganz, ganz Schlimmes verrate. Und dann die Sache mit den Farben. Aber dann habe ich mir gedacht: Johanna, du siehst Gespenster. Dieser Mann ist vielleicht der einzige Mensch, der dich versteht. Ich bin nämlich in Not. Ich hatte so gehofft, Sie wären da. Aber nun, wo Sie nicht hier sind, weiß ich nicht, wie es weitergehen soll. Wann haben Sie denn wieder Seminare hier im Haus?“

Man kann einer Stimme anhören, ob die Dramatik gespielt oder echt ist. Da war keine Dramatik - und gerade das signalisierte ihm Gefahr im Verzuge. Resignation. Verzweiflung. Hatte er mit dem Baumbildchen eine Wunde aufgerissen? Der doppelte Baum, er hatte es ihr verschwiegen, war nicht zu bagatellisieren. Das war kein Zufall. Johanna gegen Johanna. Heute diese Johanna, morgen jene? Oder von Stunde zu Stunde die andere? Verunsicherung: Die Farben. Erst hatte Johanna allen Ernstes die schwarze Karte nach links legen wollen. Schwarz als Lieblingsfarbe!!! Das gab es noch nie. Er hatte nachgeschaut. Im Lüschertest steht für Schwarz und Grau als Lieblingsfarben:

Hält die Situation für hoffnungslos. Widersetzt sich den als widerwärtig empfundenen Umständen durch Widerwillen. Versucht, sich gegen die quälenden und deprimierenden Gefühle abzuschirmen.“

Dann, mit letzter Spontaneität, tauschte sie die schwarze gegen die rote Karte aus. Von ganz links nach ganz rechts und umgekehrt! Welche Zerrissenheit! Und jetzt der Notruf! Nein, der ist ganz sicher nicht gespielt.

Wer bin ich eigentlich? Wer bin ich wirklich? Ein schwieriger Prozess, sich selbst zu finden. Schon für einen normalen Menschen. Er erschrak. Hatte er gerade Johanna als anormal eingeordnet? Von einem „normalen Menschen“ unterschieden? Warum? Nur wegen der beiden Bäume? Wegen eines einfachen, flüchtigen prospektiven Tests? Wegen Schwarz gegen Rot? Was hatte er mit diesem Mädchen zu tun? Warum sollte, wollte er sich kümmern? Um das Mädchen mit der Gitarre? Helfersyndrom? Ein Flirt mit einer Auszubildenden? Verleugnete er am Ende vor sich selbst, dass er auf ein Abenteuer aus war? Nur Neugier? Ein psychologisches Experiment?

„Hören Sie noch? Sind Sie noch am Apparat?“

Wie von Ferne vernahm er seine Stimme, als ob ein anderer spräche: „Johanna, ich komme. Ich werde heute am Abend noch irgendwann eintreffen. Wann, kann ich noch nicht genau sagen. Vielleicht um sechs. Wir treffen uns am besten im Foyer!“

Den ganzen Tag über war er nicht bei der Sache. Immer wieder stockte er bei seiner Arbeit, glaubte, Gitarrenklänge zu hören. Viel früher, als er es eigentlich ermöglichen konnte, saß er am Steuer. Viel schneller, als er gewöhnlich fuhr, raste er auf der Autobahn nordwärts. 260 Kilometer weit für ein unbekanntes Mädchen. Für das Mädchen mit dem bäuerlichen Gesicht. Für das Mädchen mit der Gitarre. Für das Mädchen mit dem Doppelbaum. Für Johanna.

Noch während er sich - vergeblich - Gedanken machte, wie er vermeiden könne, im Bildungshaus aufzutauchen und eine Auszubildende abzuholen, oder gar mit in ihr Zimmer zu gehen, löste sich das Problem: Johanna kam ihm schon auf dem Weg zum Haus entgegen. Auch sie hatte es nicht abwarten können. Auch sie wollte nicht mit ihm gesehen werden. Hastig stieg sie in sein Auto. In einem Nachbarort kannte er ein sehr gemütliches Lokal in einem urigen Hotel, wo er schon häufig zu Gast war. Dort wollte er Johanna zum Essen einladen. Aber er musste sie fast nötigen, irgendeine Kleinigkeit zu sich zu nehmen.

„Hier können wir nicht sprechen! Können wir nicht woanders hinfahren?“ bat sie ihn. So parkte er schließlich an einem Waldrand.

War sie es, die ihn umarmte? Oder er, der sie umarmte? Wer die beiden beobachtet hätte, dem wäre sonnenklar geworden, dass hier eine Lolita ihrem Lover um den Hals gefallen war. Oder schlimmer noch - ein alter Mann sich mit einem jungen Girl vergnügen wollte.

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her.

„Schön, dass Sie gekommen sind. Ich kann es gar nicht glauben. Extra für mich? Für eine Verrückte? Sie kennen mich doch kaum. Oder nur zu gut – noch schlimmer! Was müssen Sie von mir denken? Wer bin ich denn für Sie? Jeden anderen müsste ich warnen, er möge sich keinerlei Hoffnungen machen. Kein Flirt. Kein Ranmachen oder wie ich es ausdrücken soll. Ich kenne Sie ja auch nicht. Aber Waldweg und so, Abgeschiedenheit, und dennoch habe ich nicht einen Funken Angst!“

„Vorsicht, Johanna! Mich ehrt dein Vertrauen. Aber du wagst sehr viel! So leicht sieht man es den Menschen nicht an, was sie wirklich im Schilde führen.“

„Was soll mir schon noch passieren? Mir? Es ist doch schon alles passiert, was passieren könnte!“

„Was ist passiert? Gesetzt, du willst es mir erzählen. Ich will keine Wunden aufreißen.“

„Der doppelte Baum – Sie erinnern sich, ich habe einfach Angst. Seit jenem Abend peinigt mich wachsende Angst. Sie müssen wissen, meine Mutter ist in der Psychiatrie. Schizophrene Schübe in immer kürzeren Abständen. Wenn ich sie besuche … manchmal erkennt sie mich und manchmal ich in ihr meine Mutter. Aber immer häufiger weist sie mich ab, brüllt sie mich an, sieht aus, wie eine andere Frau! Und dann zeichne ich bei Ihnen da oben - auch ich spontan - ohne mir viel dabei zu denken, einen doppelten Baum! Erst denke ich, es ist eine harmlose Spielerei, eine belanglose Kritzelei. Dann machen Sie solche Andeutungen, von wegen doppelter Persönlichkeit, zwei starke Charaktere. Und seither kriecht ein Verdacht durch mein Gehirn wie eine giftige Schlange. Ich auch? Ich auch schizophren? Wie meine Mutter?“

Sie begann zu weinen. Ohne Tränen. Schluchzend verkrampfte sich ihr Körper:

„Bitte, sagen Sie mir doch: Bin ich schizophren? Bin ich verrückt? Gehe ich den Weg meiner Schwester?“

Dem Mann wurde heiß und kalt. Das Bäumekritzeln, ein gefährliches Spiel? Das Bäumekritzeln lebensgefährlich? Eingriff in die menschliche Seele mit ein paar Strichen? War er zu weit gegangen? Hatte irgendjemand auf solche Gefahren verwiesen? In Bruchteilen von Sekunden durchwühlten Selbstvorwürfe sein Gehirn. Was hatte er damit angerichtet? Viele hundertmal hatten Seminarteilnehmer Bäume gekritzelt und selbst gedeutet. Um sich selbst besser zu erkennen; denn Umgang mit Zeit und Methodik ist tief veranlagt in ihrer Persönlichkeit. Für fast alle war es ein Spiel, am Abend, in der Weinstube, nach einem anstrengenden Tag mit weitaus seriöseren, differenzierteren Persönlichkeits-Analysen. Und jetzt das? Und dann noch die Sache mit Schwarz und Rot!

„Was ist mit deiner Schwester?“

„Sie ist tot. Selbstmord. Ich habe die Gitarre zerschmettert. Es war ja ihre. Sie erinnern sich, ine Saite war gesprungen. Das war, als redete sie mit mir. Die neue Saite sprang wieder. Es war, als schrie sie mich an, ich solle meine Finger von ihrer Gitarre lassen - wie früher. Ich wollte immer eine haben. Aber dafür war natürlich kein Geld da. Vater sitzt ja im Gefängnis ...“

Es war, als ob sich die Sonne, die glutrot in den Hügeln zu versinken begann, plötzlich verfinsterte. Der Mann krallte sich am Brett der Bank fest, auf der sie sich niedergelassen hatten. Er suchte selber Halt. Legte seinen Arm um das Mädchen. Wollte, dass sie nicht weiter spräche; denn er wusste bereits alles, was noch kommen würde. Dennoch hämmerten ihre Sätze auf ihn ein, jetzt nicht mehr zu stoppen. Jetzt musste alles raus:

„Er hat sich ja über uns hergemacht, als Mutter nicht mehr da war. Erst über meine Schwester und dann über mich. Und jetzt ein doppelter Baum!“

Nun kamen die Tränen, und es war gut, dass es keine Zeugen gab für dieses ungleiche Paar auf einer Bank neben einem Feldkreuz, das jemand mit einem Margeritenstrauß geschmückt hatte. Nach Sonnenuntergang. Für den Mann und das soviel jüngere Mädchen, dessen Körper von Krämpfen geschüttelt wurde. Eine Szene, die so gar nichts hatte von einer Lolita und ihrem Lover. Ihr Weinen, ihr Schluchzen hätte zu allerhand Missverständnissen Anlass geben können, wäre jemand des Weges gekommen und hätte gesehen, wie das Mädchen den Mann und der Mann das Mädchen umklammert hielt.

„Jetzt bist du ganz allein?“

Johanna nickte nur. Sprachlos, hoffnungslos. Angsterfüllt.

„Nein ... du bist nicht mehr allein, Johanna. Ich weiß nicht, wo du wohnst. Ich kenne deinen Nachnamen nicht. Aber ich lasse dich nicht allein ...“

Was er so dahin sagte, mehr um sich zu beruhigen, um seine Hilflosigkeit zu betäuben, um wenigstens irgendetwas zu sagen auf diesem Weg, über den sich eine schnelle Dunkelheit gebreitet hatte. Er hatte sein Jackett um sie gelegt. Um die fremde Tochter mit der gespaltenen Persönlichkeit. Was würde er denn tatsächlich für sie tun können? Außer schöne Worte zu sagen?

Im Auto kramte er nach einem Stift, um ihre Adresse zu notieren. Kirchbauer, Johanna Kirchbauer. Noch gemeldet in Bad Aibling. Jetzt für die Zeit ihrer Lehre in Manching. Ein Zimmer, möbliert. Vater für viele Jahre - wahrscheinlich noch vier, fünf Jahre - im Gefängnis. Die Mutter in der Anstalt, vermutlich für immer. Die Schwester auf dem Friedhofsteil für Selbstmörderinnen – in ungeweihter Erde.

 

Dabei musste er sie gleich wieder allein lassen. Dabei konnte er doch fast nichts ausrichten. Dabei konnte er nichts ungeschehen machen. Dabei konnte er sie nicht retten. Dabei hatte er durch sein Bäumchen-Spiel alles noch viel schlimmer gemacht. Selbst, wenn er gewollt hätte, er hätte sie nicht mitnehmen können, nicht mitnehmen dürfen. Johanna musste allein zurückbleiben. Was sonst? Mit der kranken Mutterseele allein.

Johanna. Als er sie auf dem Parkplatz vor dem Bildungshaus wieder absetzte, hätte er beinahe vergessen, dass er ihr Schokolade, einen kleinen Malblock und einen Aquarellfarbkasten mitgebracht hatte. Dann fiel sein Blick auf einen kleinen silbernen Ring, den er mal auf der Straße gefunden hatte, keinen Wertgegenstand. Der baumelte an einem Band unterm Rückspiegel. Wortlos nahm er ihn ab und schob ihn auf Johannas Ringfinger.

„Vielleicht“, sagte er zum Abschied zu Johanna, „vielleicht hast du ja die Gnade, in zwei verschiedenen Welten zu leben, die beide lebenswert sind. Du darfst dich nur nicht dagegen auflehnen! Und denke daran: Du bist nicht mehr allein. Wirklich nicht. Ehrenwort. Ich komme dich bald wieder besuchen. Sobald ich kann. Vielleicht fahre ich auch gar nicht mehr nachhause, sondern suche mir hier ein Hotel. Dann bin ich wenigstens nicht gar so weit weg von dir.“

Als er Johanna im Rückspiegel auf dem Parkplatz verschwinden sah, verließen ihn alle Kräfte. Auf einem Parkplatz versuchte er sich zu sammeln. Versuchte er, etwas abzuschütteln, was nicht mehr abzuschütteln war. Es gab nur zwei kleine Hotels im Ort. Aber kein Zimmer für ihn.