Die Tote an der Rosenbank

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Die Tote an der Rosenbank
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Werner Siegert

Die Tote an der Rosenbank

Kriminalroman

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Die Tote an der Rosenbank

Terborg und seine Verehrerinnen

Kommissar Velmond hört es wispern

Luisa de Valmont

Thalida Pernice

Damaris Schweizer

Iris Springer

Terborg im Präsidium

Der Schnüffler

Unerwartet schön

Elsterhorst greift ein

Raunen? Alraunen?

Das Picknick an der Rosenbank

Die Heimkehr

Finale furioso

Amoklauf am Etschberg-Sattel

Epilog

Notabene:

Hinweis

Impressum neobooks

Die Tote an der Rosenbank

Um diese Jahreszeit stieg ausgesprochen selten jemand zum Etschbergsattel auf. Unten im Tal ließen es sich die letzten Herbst-Touristen beim Törggelen gut gehen. Die Weinlese war vorbei, die Äpfel waren eingelagert, die gerösteten Maronen in den kleinen Tütchen wärmten Hände und Mägen. Die Invasion der Deutschen, insbesondere der Bayern, die Südtirol eigentlich als ihren widerrechtlich abgesprengten Regierungsbezirk empfinden, in dem man sich an der Sonnenseite der Alpen so richtig wohl fühlen kann, war beendet, die Mehrzahl der Touristen war wieder heim „ins Reich“ zurückgekehrt. Zahlreiche Hotels hatten schon zu und bereiteten sich auf die Wintersaison vor.

Die Lifte fuhren nur noch spärlich. Letzte warme Tage lockten vor allem Pilzsucher nach oben und allzu Sonnenhungrige, weil hier oben in günstigen Lagen noch Sonnenstrahlen das Herbstlaub zum Glühen bringen, wenn drunten im Tal in den Häusern schon die ersten erleuchteten Fenster sichtbar werden.

In der Übergangszeit vom Spätherbst zum Winter, in der nach Föhntagen immer mal wieder Berge und Almen mit einer zunächst noch flüchtigen Schneedecke überzogen wurden, in diesen Tagen muss es gewesen sein.

Der Haller Jakob war nochmal aufgestiegen, um an seinen Geheimplätzen späte Pfifferlinge, vielleicht auch den einen oder anderen Steinpilz zu finden. Außerdem schätzte er gerade jetzt die einsame, die ruhige Zeit, ohne Touristen und vor allem ohne Mountain-Biker, die krachend, quietschend und scheppernd durch Wälder und Almen brechen, die Wanderer auseinander scheuchen und die Wege ruinieren. Jetzt konnte man auch Rehe beobachten. Gämsen hatte er schon lange nicht mehr gesichtet.

Jakob musste sich sputen, denn der Abstieg vom Sattel war steil und steinig und lag auf der Schattseite, war also viel früher in gefährliches Dunkel gehüllt. Noch bei Dämmerlicht musste er den Almweg erreicht haben. Ab da konnte er es langsam angehen lassen.

Der Sattel, das war der westliche Übergang von Ausläufern der Seiser Alm zum Etschtal. Dort stand neben der Felswand zur Linken eine einfache Bank, roh zusammengezimmert, ein ausgewittertes, fast silbergraues Brett auf zwei Pfosten, unweit vom Wegweiser, der sternenförmig auf die vielen Bergpfade deutet, die hier zusammen laufen. Auf Wanderwege, früher auch Schmugglerpfade. Im dramatischen ersten Weltkrieg waren es Versorgungswege, Saumpfade für die Esel und Maultiere, die hier Fourage, Waffen und Munition hinüber transportieren mussten.

Als Jakob aus den niederen, windgeduckten Fichten und Kusseln hinaustrat auf das Wiesenstück, das die Bank umgibt, erschrak er nicht schlecht. Da hatte sich doch tatsächlich eine Frau, eine Städterin offenbar, noch längelang auf dem dürren Gras in der Sonne ausgestreckt. Ihr Rucksack war von der Bank runtergefallen und hatte seinen Inhalt zum Teil auf dem Weg verstreut.

„Holla!“ rief er. „Jetzt wird’s aber Zeit, Madl! Wenn du nicht hier übernachten willst, dann mach dich auf die Socken. In zwanzig Minuten findst du den Weg nimmermehr!“

Aber die Frau reagierte nicht. Überhaupt nicht. So laut Jakob sich auch bemerkbar machen wollte.

„Holla!“ rief er nochmal, so laut er konnte, und es gab weithin ein ziemliches Echo.

Erst als er näher trat, die Frau mit seinem Bergstock anstupste, da stutzte er, dann schrie er laut auf. Da wo mal die Augen dieser Frau mit dem krausen rotblonden Haar gewesen waren, hatten Vögel sie bereits rausgepickt. Ameisen liefen über das Gesicht. Eine Tote! Eine Tote! Hier! Jakob fasste sich an den Kopf, er bekreuzigte sich und versuchte, ein Vaterunser zusammen zu stammeln. Kraftlos und verzweifelt sackte er auf der Bank zusammen. Er versuchte wegzuschauen, als ob er das Gesehene damit auslöschen könnte. Er zitterte. Sicher, jetzt, nach den letzten Sonnenstrahlen floss die Kälte vom Berg; aber deshalb kein Zittern und Beben. Angst überfiel ihn. Er allein mit einer Leiche auf dieser Passhöhe! Ja, wenn er jetzt ein Handy dabei hätte, so wie die Stadtleut’ und seine Kinder. Aber er, wozu sollte er ein Handy haben? Mit diesen kleinen Tasten? Da würde er mit seinen Bauernpratzen immer gleich auf drei drücken.

Was jetzt? Die Almhütte zur Etsch hinunter war längst verlassen. Er könnte noch so laut rufen, niemand würde ihn hören.

Im letzten Licht versuchte er, die Siebensachen, die aus dem Rucksack auf den Weg gefallen waren, wieder hineinzuschieben. Alles würde er gar nicht finden. Nur damit niemand drauf tritt. Da lag auch noch ein abgebrochener Flaschenhals und Scherben .... von einer Weinflasche? Nein, von einer Champagnerflasche! Hier oben? Heidsiek stand auf dem schwarzgoldenen Etikett. Nie gehört. Er trank so ein Zeug sowieso nicht. Nie!

Inzwischen hatte er sich soweit gefasst, dass er die tote Frau mit einiger Andacht und Gebetegemurmel anschauen konnte. Wie lange mochte sie schon da liegen? Wieder und wieder schüttelte er sein Haupt und bekreuzigte sich. Kein Blut, soweit er das noch zu erkennen vermochte. Er müsse ihr das Gesicht zudecken. Aber womit? Mit seiner Jacke? Die würde er jetzt selbst dringend benötigen. Mit dem Rucksack? - nein, nein!

Jakob hastete zurück zu den Fichten und schnitt mit seinem Taschenmesser ein paar starke Zweige ab. Mit denen deckte er die Frau fast liebevoll zu, als solle sie sich darunter wärmen. Weiter konnte er nun wirklich nichts tun, als sich so schnell wie möglich - und so trittsicher wie möglich - über den kaum noch erkennbaren Bergpfad bergab zu tasten.

Am Tag wäre er vielleicht sogar juchzend die schmalen Serpentinen entlang gesprungen. Hätte er auch manche Abkürzung genommen. Nur ganz allmählich gewöhnten sich die Augen an die Finsternis. Nur einmal spürte er plötzlich, dass Wasser in seine Schuhe hineinfloss. Er hatte den Pfad mit einem kleinen Bach verwechselt. Zurück also bis auf festes Gestein. Was würde seine Frau, was würden die Kinder denken, dass der Papa noch nicht zurück ist?

Jakob brauchte fast eine Stunde, bis er das erste Gatter erreichte und damit endlich den breiten Almweg. Bei Tag .... zwanzig Minuten! Jetzt aber rannte er. Was seine Kräfte noch hergaben. Die Kräfte, die bei jedem Gedanken an die tote Frau zu erlahmen drohten.

„Heilige Maria, Mutter Gottes ....!“ keuchte er immer wieder vor sich hin, bis er endlich die ersten Lichter sah, endlich die ersten Häuser. Ja, jetzt kannte er sich wieder aus. Beim Gruber Fritz klopfte er heftig an die Tür. Ach wie lange dauerte es, wie lange? Schmerzhaft lange, bis die Steffi die Tür einen Spalt weit öffnete und erschrak:

„Du, Jakob, ja wie schaust denn du aus! Wieso kommst du denn um diese Zeit hier vorbei?“

„Da oben, da oben, da oben ....“, stammelte er keuchend. Und versuchte, ungefähr die Richtung anzuzeigen. „Da oben liegt eine tote Frau! Da oben, bei der Bank! Da liegt eine Tote! Heilige Maria, Mutter Gottes ....“

„.... bitte für uns!“ ergänzte die Steffi. Jetzt war auch der Korbi zur Tür geschlurft.

„Korbinian, der Jakob sagt, da oben bei der Bank, da läge eine tote Frau!“

„So?“ war die karge Antwort. „So? Nun da wird sie wohl abgestürzt sein. Was müssen die Weiberleut auch jetzt noch im Gebirge herumklettern! Da kann man jetzt auch nichts mehr machen. Da musst du zur Polizei gehen! Oder anrufen!“

Jakob rief zunächst seine Frau an und versuchte, ihr zu schildern, was er Grauenvolles erlebt hatte. Dann die Gendarmerie.

 

Auch da war zu dieser Zeit nur noch die Nachtschicht anwesend.

„Eine Tote? Da oben auf dem Sattel? Kennen Sie diese Frau? Wann waren Sie da oben? So spät noch? Gibt es irgendwelche Anzeichen? Todesursache? Abgestürzt? Eine kaputte Flasche Champagner, sagen Sie? Na, die wird wohl ein später Kurgast dort geleert haben oder ein Liebespaar. Mit Champagner kann man sich nun wirklich nicht umbringen. Haben Sie was verändert? Nur Fichtenzweige drauf? Wird die Füchse oder Marder nicht abschrecken. Also vor morgen früh, wenn’s hell genug ist, können wir da gar nichts machen. Halten Sie sich bitte bereit. Sie sind ein wichtiger Zeuge. Sie müssen noch einmal mit nach oben kommen. Dann werden wir einen Hubschrauber anfordern, der die Leiche zu Tal bringt.“

Der Haller Jakob konnte trotz aller Erschöpfung keine Ruhe finden. Zudem klingelte ständig das Telefon. Die Nachricht von einer Toten auf dem Sattel machte in Windeseile die Runde. „Eine Leiche dort oben? Heiliger Gottseibeiuns, heilige Maria!“ - „Ist sie hübsch?“ - „Eine Deutsche meinst du? Die müsste ja hier in irgendeinem Hotel vermisst werden!“

Für eine Rundfrage bei den Hotels und Pensionen war es allerdings noch viel zu früh; denn viele Gäste saßen ja noch beim jungen Wein, beim Speckbrot, beim Törggelen halt. Und würden erst gegen Mitternacht zurück in ihre Hotels torkeln. Vielleicht noch später, wenn sie aus Bozen oder Meran den Weg über die Serpentinen zurück gefunden hatten.

Um 8 Uhr früh schon stand der Haller Jakob vor der Gendarmerie. Mit dem Geländewagen ging’s schnell bis ins hinterste Eck, von wo auch für jedes geländegängige Fahrzeug kein Fortkommen ist. Mit schwerem Gepäck, mit Lampen, Fotoausrüstung, mit Messgeräten ging es im Gänsemarsch den steinigen Pfad bergauf. Die Gräser, die kleinen Büsche, alles war nass vom Tau. Kalt war’s. Die Sonne hatte so früh einfach keine Kraft.

Dann war der Trupp oben bei der Toten, bei der Bank. Alle bekreuzigten sich, als sie die Fichtenzweige vom Körper der Frau weggezogen hatten.

„Hat sich was verändert gegenüber gestern Abend, Jakob?“

Jakob zuckte mit den Schultern. Dann, als er sich umsah, hauchte er plötzlich:

„Ja, da liegt eine rote Rose unter der Bank! Die habe ich gestern noch nicht gesehen, aber vielleicht habe ich sie auch übersehen. Ist schon eigenartig, nicht wahr?“

Alles wurde fotografiert, Messbänder wurden ausgelegt. Ein paar Trittspuren, die sich im angetrockneten Matsch abgebildet hatten, wurden mit Gips ausgefüllt. Auch Fahrspuren von Mountain-Bikes. Alles, was man finden konnte, natürlich auch die Scherben der Champagnerflasche, wurde sorgfältig mit Vinyl-Handschuhen geborgen. Schließlich hörte man das Brummen des Hubschraubers, der aber wegen der Felswand nicht sehr nah landen konnte. Zwei Rettungskräfte seilten sich samt einer Tragbahre ab. Die erstarrte Leiche wurde vorsichtig auf die Bahre gehoben, mit einer glänzenden Folie zugedeckt. Dann wurde sie zusammen mit den beiden Männern wieder hochgehievt.

„Also abgestürzt ist die hier nicht! Das steht schon mal fest! Dann hätte sie hier nicht längelang neben der Bank gelegen. Ihre Kleider wären irgendwie zerfetzt. Es gäbe Blutspuren, Abschürfungen!“ stellten die Beamten fest.

„Aber jemand hat alle ihre Papiere mitgenommen! Jakob, hast du irgendwas mitgenommen?“

„Nie und nimmer! Ich habe nur das verstreute Zeug wieder in den Rucksack geworfen. Der lag ja offen auf dem Weg. Der war von der Bank runtergefallen.“

„Kein Pass, kein Ausweis, kein Portemonnaie, kein Führerschein! Nichts, was uns die Identifizierung erleichtern könnte. Ist aber schon eigenartig, dass hier eine Frau unterwegs war ohne Geld und ohne jegliche Papiere!“

„Und ohne Proviant, ohne Wasserflasche. Sie wird ja wohl diesen Schampus nicht für den Durst getrunken haben! Ich nehme an, da war ein Rosenkavalier mit seiner Susi hier oben und hat seine Eroberung gefeiert. Lange bevor die Frau hier zu Tode kam. So eine Rose, die hält sich bei der Kälte lange frisch.“

„Wahrscheinlich ein Herzkaschperl! Zu schnell raufgerannt, oder schon was mit dem Kreislauf und zack, aus ist’s! Na ja, das werden die Pathologen in Bozen schon rausfinden. Gehn’mer, Buben!“

Im Hotel „Enzian“ wurde Frau Corinna Uhlen vermisst. Das erfuhren die Beamten per Handy beim Abstieg. Gepäck ist noch im Zimmer. Ihr Auto in der Tiefgarage. Kein Abschiedsbrief. Sie sei eigentlich immer sehr fröhlich gewesen und viel unterwegs. Vor cirka vier Wochen sei sie schon mal im Haus zu Gast gewesen, zusammen mit einem Herrn Gunter Terborg. Aber getrennte Zimmer.

Terborg und seine Verehrerinnen

Das Polizeipräsidium Bozen erbat umgehend Amtshilfe von den Münchner Kollegen. Da Kommissar Lothar Velmond bereits einige Erfahrungen mit „vergammelten Leichen“ habe, so pflegte man in der Ettstraße über ihn zu lästern, traf die Wahl auf ihn. Zu seinem großen Entsetzen.

Gunter Terborg, der zuletzt vor fast genau vier Wochen mit der verstorbenen Corinna Uhlen im Hotel „Enzian“ in Kastelruth nächtigte, wenn auch in getrennten Zimmern, wohnte in München und war demnach auch schnell zu erreichen. Zwar nicht über der Woche, weil er dann auf Reisen sei - so ergab ein erster Telefonkontakt - aber gern auch am Wochenende, gern auch bei ihm zu Hause oder bei schönem Wetter bei einem Spaziergang im Englischen Garten oder am Starnberger See.

Eine Vernehmung? In welcher Angelegenheit? Nein, eher ein Erkundungsgespräch. Alles weitere müsse man aus ermittlungstaktischen Gründen noch diskret behandeln. Jedenfalls bestehe keinerlei Tatverdacht. Tatverdacht?

Velmond entschied sich für die Wanderung am Starnberger See, Treffpunkt am See-Bahnhof beim Kiosk. Das Wetter war günstig. Ein früher Wintereinbruch hatte die Menschen zum Narren gehalten. Es war wieder frühlingsmild geworden. Einige total irritierte Forsythiensträucher schmückten sich schon mal mit ein paar gelben Blüten. Typisch Klimawandel.

Gunter Terborg, geschätzter Mittfünziger, mit leicht graumelierten, etwas welligen Haaren, auch jetzt im Spätherbst noch braungebrannt, ein groß gewachsener sportlicher Typ, offenbar gut gelaunt und sehr entspannt, war Kommissar Velmond gleich sehr sympathisch. Er hatte eine offene, nicht anbiedernde, aber doch sofort brückenbauende Art und einen festen Händedruck.

„Pack mer’s?“ ermunterte er den bedeutend kleineren Kommissar und gab die Richtung vor, am Café und dem Bootshafen vorbei, Richtung Strandbad und weiter über die Hochbrücke über die Würm.

„Um was geht`s denn?“

Velmond ließ sich ungern selbst vernehmen, wenn er die Fragen stellen wollte. Trotz des entspannenden Spaziertempos lag ihm doch dran, möglichst bald zur Sache zu kommen.

„Herr Terborg, Sie waren vor vier Wochen Gast im Hotel „Enzian“ in Kastelruth?“

„Fehlen da Handtücher oder hat jemand einen Fernseher mitgehen lassen?“ Terborg schmunzelte, noch immer total unbekümmert und von keinerlei Zweifel angefressen.

„Nein, wenn es nur darum ginge, käm’s mir auf zehn Saunahandtücher gar nicht an!“

„Sondern?“

„Sie waren in Begleitung von Frau Corinna Uhlen?“

„Ja, was ist dabei? Wir haben wunderbare Bergwanderungen unternommen. Hatten tolles Wetter. Sie ist ja ein Nordlicht, ein Kind der Ebene, noch dazu der Tristesse der Worpsweder Moorlandschaften und des Niederrheins, wo sie ja wohnt. Da wollte ich ihr mal die Schönheiten der Berge, insbesondere der Dolomiten zeigen - und sie war b e geistert! Ich kannte sie von einer Sommer-Akademie her, am Bodensee. Ganz locker und unverbindlich, keine Affaire, wie ihr Kriminaler das wohl zu nennen pflegt. Aber was ist mit ihr?“

„Sie ist tot!“

Terborg blieb wie vom Donner gerührt stehen, die geballte linke Faust vor dem Mund, zu Velmond hin gewandt, dem ein leichtes Zittern und überaus schnelle Augenlider-Bewegungen nicht entgingen.

„Ja, sie wurde Anfang dieser Woche tot neben einer Bank .... „

„.... etwa meiner Lieblingsbank? Auf dem Sattel zum Etschtal? Auf der Rosenbank?“

Velmond nickte.

Terborg erreichte gerade noch eine Bank, um dann zusammenzusacken, sein Gesicht in beiden Händen zu verhüllen, um seine tiefe Erschütterung zu verbergen. Er zuckte, als wolle er weinen. Er, der eben noch so lebenslustige, vitale Mann - nun das, was man in diesem Fall mit Recht ein Häufchen, nein, einen Haufen Elend nennen müsste.

Velmond geriet sehr in Verlegenheit. Zu nahe ging ihm das selbst, als dass es ihm gleichgültig sein könnte. Dennoch musste er Distanz wahren. Hätte er neben einer Frau gesessen, hätte er ihr wohl einen Arm umgelegt und ihr ein Taschentuch gereicht.

Es dauerte Minuten, eine unermessliche Zeit, bis sich Terborg wieder einigermaßen gefangen hatte.

„Sie kennen offenbar den Tatort?“ Velmond erschrak, dass er dieses Wort benutzt hatte. War es doch bisher kein Tatort, sondern nur der Fundort der Leiche. So korrigierte er sich auch sofort:

„Tatort ist der falsche Ausdruck. Wir wissen ja nichts über eine Tat. Erste Vermutungen gehen eher von Selbsttötung aus. Die Kollegen von der Pathologie in Bozen untersuchen gegenwärtig den Leichnam Ihrer Bekannten. Er musste dort schon zwei, drei Tage gelegen haben. Aber warum sagen Sie ‚Rosenbank’? In der Tat lag unter der Bank eine dunkelrote Rose!“

„Nein, nein, nein! Das kann, das darf nicht sein, Herr Kommissar, sagen sie, dass das nicht wahr ist. Nein, nein, nein!“ Terborg blickte sich um, ob andere Wanderlustige Zeuge seines Entsetzens würden.

„Herr Kommissar, lassen Sie uns hier hinauf gehen und ein Taxi rufen. Auf meine Kosten! Können wir das Gespräch bei mir zu Hause fortführen? Ich kann einfach nicht hier den Wandersmann geben und es zerreißt mich innerlich!“

Bis zur Berger Argirov-Klinik gingen sie schweigend neben einander her. Nur kurz unterbrochen durch Terborgs keuchend hervorgebrachte Frage:

„Eine Rose, eine dunkelrote Rose, sagten Sie?“

Schweigend fuhren sie die lange Strecke zu Terborgs Wohnung in einem ziemlich freistehenden Hochhaus, in der 10. Etage, lichtdurchflutet von großen Fenstern nach Westen und Osten. Velmond lenkte sich ab und suchte über die Silhouette von München schweifend einige markante Bauwerke, Kirchtürme und Hochhäuser, während Terborg geschäftig seine Reise-Utensilien und einige Papiere von einem großen Glastisch zur Seite räumte. Auf die Frage „Tee oder Kaffee?“ entschied sich Velmond für Tee und überließ dem Hausherren die Wahl zwischen Darjeeling First Flush und Assam. Es war allzu offensichtlich, dass Terborg seine tiefgreifende Erschütterung durch Betriebsamkeit abzuleiten versuchte.

„Eine dunkelrote Rose, sagten Sie, fand man bei ihr?“ Der Tot der Frau schien ihm nicht so nahe zu gehen wie dieses Detail.

„Verstehen Sie etwas von Alpha? Von Alpha-Zuständen? Von Alpha-Wanderungen?“

Velmond verneinte. Esoterik, Spökeskiekereien, Zauberwelten - das war sein Ding nicht. Alpha? Nie gehört. Außer Alfa Romeo.

„Lassen Sie mich von vorn anfangen, bei der Sommer-Akademie. Ich habe dort mehrere Workshops zu angewandter Kreativität durchgeführt. Jeweils drei Stunden an fünf aufeinander folgenden Tagen, im Schloss Meersburg, hoch über dem See mit weitem Blick auf den Säntis. Zu den sehr ergiebigen, aber innerlich keinesfalls harmlosen Kreativitäts-Methoden gehören Alpha-Sitzungen, die eine Tiefenentspannung im Alpha-Zustand herbeiführen. Das Gehirn arbeitet dann nur mit den sehr entspannenden Alpha-Wellen, oberhalb von Trance, Traum oder Hypnose. Ich nenne es das ‚aktive Unterbewusstsein’. Aktiv, weil man sich noch ziemlich unter Kontrolle hat, also keinesfalls fremd gesteuert ist. Unterbewusstsein, weil man Zugriff bekommt zu den unermesslichen Reichtümern unserer Intuition. Dort bieten sich Problemlösungen an, die auf logischen Pfaden nie zu erschließen wären.

Corinna war unter den Teilnehmerinnen. Ich gebe Ihnen nachher gern eine Liste aller Teilnehmerinnen. Es gab nur drei Männer; die und drei Frauen waren von Firmen delegiert. Fünf weitere Frauen waren auf eigene Initiative dabei. Sehr gemischte Berufe, Juristen, Künstlerinnen. Frau Uhlen war Bezirksdirektorin eines Reiseunternehmens.

Im Alpha können Sie sich überall hin versetzen, können überall hinwandern, hinreisen, ohne Fahrkarte, ohne Reisegeld, ohne Verkehrsmittel. Jeder hat einen Lieblingsort, vielleicht sogar zwei oder drei Plätze, an die es ihn oder sie immer wieder zurückzieht. An Orte des Glücks. An Orte der Seligkeit. Im Alpha-Zustand kann jeder diesen seinen Glücksort beliebig oft aufsuchen, sofern er irgendwie ungestört, entspannt, losgelöst von jeglichem Stress diesen Zustand erreicht.

 

Die Bank mit dem weiten Blick über das Etschtal, über die Almen, hinüber zur Alpenkulisse von den schneebedeckten Sarntaler und Ötztaler Gipfeln, die war mein bevorzugter Glücksort. Seit ich sie einmal bei einer Bergtour erreicht hatte und dort die Zeit vergaß, die Gerüche, die Geräusche, den Wind, die sich wiegenden Gräser, die Farben, da habe ich einfach alles in mich hineinfließen lassen. Seither lässt sie mich nicht mehr los.“

Velmond ließ ihn reden und reden. Er war schon bei der dritten Tasse eines köstlichen Tees, so gut, wie er ihn selbst noch nie hatte zubereiten können.

„An einem Abend dieser Sommer-Akademie haben wir beim Wein zusammengesessen, eine Clique, die Corinna, die Damaris, da war noch eine Thalida, unser Spatz, obwohl auch schon 32, aber sie hieß passenderweise Pernice mit Nachnamen, also italienisch Spatz, eine Iris, unser Küken, ach, und das wird Sie besonders interessieren, eine rätselhafte, rassige Luisa de Valmont, vielleicht sind sie ja mit ihr verwandt, eine aparte Deutsch-Spanierin mit ausgezeichneten Sprachkenntnissen, eine etwas skurrile Erscheinung, Typ Künstlerin. Wir unterhielten uns, wo die schönsten Plätze der Welt sind, wo man totale Entspannung finden könnte. Da war es Corinna, die steif und fest und sogar ziemlich aggressiv die These vertrat: Die Berge seien scheußlich und abschreckend. Das seien doch Schutthalden, permanenter Zerfall, eine einzige Einladung zu Depressionen. Da fühlte ich mich herausgefordert und habe sie spontan eingeladen, auf meine Kosten, in Ehren natürlich, ohne jegliche Verpflichtung, mich ein einziges Mal ins Gebirge zu begleiten. Ich käme dann auch mal an den Niederrhein, nach Xanten oder ans Meer.

Und so geschah es. Corinna tat, als ginge sie mit dem Teufel eine Wette ein: Gebirge gegen Meer. Vor allen anderen! Nun, das wissen Sie ja: Vor vier Wochen oder fünf trafen wir uns in Kastelruth, eine Sternfahrt, getrennte Fahrzeuge, getrennte Zimmer, aber vereint wandern. Ich führte sie natürlich zur Bank, zu meiner Bank. An einem wunderschönen Tag. Und Corinna war wie umgewandelt. Sie war begeistert, geradezu hingerissen. Sie nahm sozusagen von meiner Bank Besitz. Ich habe ihr noch gezeigt, was man da oben alles finden könne. Brauneisen-Rückstände zum Beispiel, weil die frühen Bewohner, Kelten wahrscheinlich, dort oben die ständige Zugluft ausgenutzt haben, um ihre kleinen Brennöfen zur Schmelzhitze für Eisenerz anzufachen. Kleine Tropfen Schlacke findet man dort oben unter kleinen Erdbuckeln heute noch.

Das war’s. Corinna verwandelte sich in einen Bergfan. Sie wollte nur noch in die Berge - und am liebsten mit mir. Was natürlich nicht geht. Ich mache sowas nicht. Ich bin ein Einzelgänger, ein einsamer Wolf.“

„Aber das erklärt die Bezeichnung ‚Rosenbank’ noch nicht!“

„Ja, das ist für Sie schwerer zu verstehen. Hat auch mit Alpha zu tun. Auch in den nachfolgenden Tagen - Corinna und ich waren ja bald wieder abgereist, wir mussten ja arbeiten - bin ich im Alpha-Zustand zu meiner Bank gewandert. Und da passierte es: Die Bank hatte sich verwandelt. Auf dieser Bank lag - nicht zu meiner ungetrübten Freude, eher zum Erschrecken - eine dunkelrote Rose. Davon habe ich Corinna ganz aufgeregt am Telefon berichtet! Aber sie war nicht aufgeregt, gar nicht. Sie sagte nur: ‚Wundert es dich nicht? Die ist natürlich von mir!’ Nun, Herr Velmond, Sie wissen, was sie damit sagen wollte. Und von da an war aus der alten, verwitterten Bank die Rosenbank geworden.“

Die Dämmerung hatte eingesetzt. Ringsum gingen in den Häusern die Lichter an. Velmond löffelte aus seiner Tasse den teegetränkten Kandiszucker und rüstete sich zum Gehen. Er ließ noch einmal seine Blicke schweifen. Auf einem kleinen Tischchen erspähte er eine Blumenvase mit einer getrockneten Bacchara-Rose.

„Herr Terborg, vermutlich muss ich Sie doch nochmal ins Präsidium bestellen. Vielen Dank für Ihre Offenheit, für den guten Tee und für die Teilnehmerliste. Ich werde Sie auf dem Laufenden halten!“