Die Frau ohne Handtasche

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Die Frau ohne Handtasche
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Werner Siegert

Die Frau ohne Handtasche

Novelle Erotique

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Ohne Handtasche?

Was wisst Ihr Männer eigentlich von uns Frauen?

Mit dem Staubwischen wurde es nichts

Alle drei in völliger Happiness

Auch unter Wasser können Blitze zucken

Das ganz kleine Glück?

Sünde, in grazile Gespinste gewebt

Nichts Besonderes!

Notabene:

Impressum neobooks

Ohne Handtasche?

Sein Blick war an der Frau haften geblieben. Er musste sie immer wieder über den Rand seiner Zeitung anschauen, wie sie da saß, in der S-Bahn, an ihrem Fensterplatz, mit ihrer grausilbernen, etwas schütteren Bubikopf-Frisur mit den Fransen über der Stirn. Ein Gesicht ohne Make-up. Blass. Leicht gealtert. Sie mochte 50 sein. Oder älter? Alles war grau an ihr, der wollene Mantel, der grob gestrickte Pullover, der Rock, die Strümpfe, bequeme Schuhe. Eine Gürtelschnalle war ihm aufgefallen - in der Erinnerung war sie mit leichtem Grün und Magenta getönt. Eine ausgeprägte Nase. Klare Augen. Sie schaute einfach geradeaus, nur manchmal nach draußen auf die vorüberhuschenden schneegepuderten Bäume und Dächer. Diese Frau war so gar nichts Besonderes. Und dennoch konnte Gregor seine Augen nicht von ihr lassen. Heimlich natürlich, über den Rand seiner Zeitung. Und immer mal dann, wenn man „wie zufällig“ guckt. Nur mal so.

Aber Gregor spürte längst, dass er die Frau nicht mehr „nur mal so“ anschauen konnte. Irgendetwas faszinierte ihn an ihr. War etwas Erotisches im Spiel? Warum, fragte er sich. Warum? Was konnte es sein? Da lockten weder Brüste, noch flirtende Augen, auch keine lustvollen Lippen. Die Frisur könnte die einer evangelischen Pastorin sein. Oder einer Therapeutin. Auch einer Künstlerin. Diese Stille, die von ihr ausging. War es eine meditative Stille? Oder innere Konzentration?

Später fiel ihm ein, dass er überhaupt keine Erinnerung an ihre Hände hatte. Keine Erinnerung an einen Ring, an Schmuck. Eine Armbanduhr lugte aus dem Pulloverärmel hervor, etwas kleiner als eine Männeruhr, matt-silbrig. Von Tschibo? Dass er sich nicht für die Hände interessiert hatte?

Das lag einfach daran, dass diese Begegnung überaus beiläufig, normal, interesselos geschah. Nichts Besonderes. Erst nach mehreren Stationen fiel der Schleier des Beiläufigen herab. Steigerten sich Neugier und Spannung. Formten sich in ihm Sätze wie „Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen?“ Obwohl er genau wusste, dass er es nie wagen würde, eine solche Einladung auszusprechen.

Irgendwann spürte auch sie etwas. Oder hatte es zumindest den Anschein. Gregor hatte die Zeitung zusammengefaltet. Er hoffte inständig, die Frau würde dort aussteigen, wo auch er aussteigen müsste. Aber dazu kam es nicht. Ganz plötzlich stand sie auf, verließ abrupt ihren Platz, wartete an der Tür und schaute sich nicht noch einmal um. Jetzt wirkte sie kleiner. Etwa einssechzig. Er verfolgte sie noch durch die beschlagene Scheibe – und stellte fest, dass sie nicht einmal eine Handtasche dabei hatte. Völlig ungewöhnlich für eine Frau. Keine Handtasche! Keinen kleinen Rucksack? Nicht mal ein kleines Täschchen. Wie das?

Gregor versuchte, seinen Geschäften nachzugehen wie immer. Das aber funktionierte nicht. Er musste immer wieder an die graue Frau denken. Ihr Gesicht tauchte vor ihm auf. Die silbergrauen Fransen über der Stirn, die klaren Augen, die leicht geschwungenen Lippen, als ob sie jederzeit zu einem dezenten Lächeln ansetzen wollten. Hatte auch sie ihn heimlich ins Auge gefasst? Seine Gedanken zu erraten versucht?

Viele sagen: Zufälle gibt es nicht. Aber in einer Großstadt sich zweimal begegnen – ist das nicht ein zu großer Zufall? Die Chance wie eins zu zehn Millionen? Gregor wollte sich, um ein zeitraubendes Mittagessen zu sparen, ein Schoko-Croissant kaufen. Er musste sich in einer Schlange anstellen. Da glaubte er zu spüren, dass sein Rücken heiß wurde. Wie ein Hitzeschauer. Er drehte sich um – und schaute in das Gesicht der Silberhaarigen. Es überlief ihn wie ein Zittern. Er vergaß nachzurücken, weil er viel, viel länger, als es ziemlich gewesen wäre, die Frau ansah. Die nun auch lächelte.

Gregor trat aus der Reihe der Kuchenkäufer heraus, fasste sich den Mut, den er in der S-Bahn als total jenseits jeglicher Konvenienz verbannt hatte, und fragte sie einfach so „Darf ich Sie zu einer Tasse Kaffee einladen?“

Ein verschmitztes Lächeln huschte über das blasse Gesicht.

„Wenn es Ihre Zeit erlaubt?“

Manchmal erlaubt es einem die Zeit, obwohl sie es noch vor Sekunden keinesfalls erlaubt hätte. Er war in Eile. Oder? Nein, plötzlich ließ sich alles arrangieren.

„Es wäre mir ein Vergnügen. Ist doch viel angenehmer, so ein Kuchenstückchen oben im Café zu genießen, mit einem Cappuccino oder Kännchen Kaffee.“

Fast willenlos, überraschend bereitwillig ließ sie sich die Treppe hinauf geleiten, als seien sie ein Paar, das sich seit langem kennt. In einer stillen Ecke half er ihr aus dem grauen Jäckchen. Aus einer angenähten Tasche angelte sie ein winziges Portemonnaie. Und lächelte. Sie lächelte scheu, wie ein schüchterner Backfisch, der zum ersten Mal ausgeführt wird. Ließ die Augen nicht von Gregor. Und er nicht von ihr.

„Übrigens, ich heiße Gregor!“

„Ich bin die Susanna!“

Sie reichten sich die Hände. Die blieben etwas länger als normal in einander liegen. Ein Austausch von Wärme, von unausgesprochenen Empfindungen?

„Eine schöne Stadt, in der Sie leben!“ Susanna schaute hinaus auf den Platz vor dem Rathaus, mit der Mariensäule und den vielen geschäftigen Leuten.

„Sie sind fremd hier?“

„Nicht ganz, aber seit einiger Zeit nur sehr selten in München. Viel zu selten, ohne Hast, ohne Pflichten, nur so! Und noch nie von jemandem zu einem Kaffee eingeladen worden. Von einem fremden Mann schon mal gar nicht. In meinem Alter! Natürlich frage ich mich – warum tun Sie das?“

„Weil Sie mich vorhin in der Bahn in irgendeiner Weise fasziniert haben!“

Susanna lachte hell auf. „Fasziniert? Von mir? Von mir alten Schachtel? Sie belieben zu scherzen!“

„Ihr Gesicht, ihre Augen, alles an Ihnen gaben mir Rätsel auf! Jetzt weiß ich es. Jetzt kann ich es besser beschreiben, aber ich scheue mich, Sie könnten das als Anmache empfinden. Ihre Lippen, Ihr Mund – da war ein Lächeln, ein rätselhaftes Lächeln, wie Sie so in die Landschaft geschaut haben. Als ob Sie über etwas gelächelt haben, tief in Ihnen drin!“

„Herr Gregor, Sie müssen mich aber sehr genau beobachtet haben. Ich dachte, Sie hätten Zeitung gelesen. Dabei haben Sie in meinen Gesichtszügen gelesen. Sind Sie doch ein Schlimmer?“

„Ja, ich bin wirklich sehr schlimm. Vielleicht sollten Sie doch besser fliehen. Sie müssen wissen, Susanna, ich sammle Menschen. Ich studiere die Menschen um mich herum. Viele, die meisten, sind unergiebig für mich. Aber von manchen macht mein Gehirn sogar ein Foto. Sie prägen sich mir ein. Von manchen geht ein Magnetismus aus. Oder auch ein Strom von Wärme. Eben, als Sie sich hinter mir angestellt hatten, wusste ich ja nicht, dass Sie es waren. Aber da spürte ich diese Wärme und habe mich umgedreht!“

„Ach das sagen Sie doch nur so! Was sind Sie von Beruf?“

„Ich möchte Sie zu einem Spiel einladen: Sie machen sich eine Vorstellung von mir, so eine Art heiteres oder besinnliches Berufe-Raten, mehr noch, ein Raten, was ihr und mein Umfeld ist, ihre und meine Interessen, ihr So-Sein und meines. Wer ist Susanna? Und wer ist dieser Gregor?“

„Ja, ich weiß ja schon ein bisschen über den Herrn Gregor. Er sammelt Menschen. Er spricht eine fremde Frau an und lädt sie zum Kaffee ein. Oder zum Tee. Er ist höflich. Galant. Verfügt über seine Zeit. Seine Kleidung – solide, nichts, womit man imponieren will oder muss. Die Farben harmonieren. Sehr sicheres Auftreten. Fährt S-Bahn. Beobachtet mich schon ziemlich intensiv. Da wird mir auch ganz heiß. Ich bin ganz schön verlegen, wenn ich ehrlich sein darf. Und wer bin ich, außer einer total uninteressanten grauen Maus?“

„Die graue Maus sind Sie nur äußerlich. Ich weiß nicht, ob es nur ein Schutz ist, mit dem Sie sich umgeben. Ob es ein Rückzug ist. Eine Art Flucht vor sich selbst. Lebhafte Augen verraten, dass da im Inneren ein Feuer ist. Sie sind auf der Suche. Zwingen sich etwas auf. Eine Frau ohne Handtasche, die sich nicht belasten möchte. Eine Frau, die frei sein möchte. Ja, das ist es. Sie möchten frei sein. Sie möchten die Ketten, die Sie sich selber umgelegt haben, sprengen. Und haben gleichzeitig Angst davor!“

„Sind Sie ein Psychologe?“

„Jeder wache Mensch ist ein Psychologe – und Sie sind ein sehr wacher Mensch, Susanna! Sie sind jedenfalls eine interessante Frau!“

 

Dem Kaffee und Tee war ein Prosecco gefolgt. Und ein zweiter. Dazu eine Königin-Pastete.

„Interessante Frauen haben meist irgendein fürchterliches Geheimnis! Wissen Sie das nicht?“

„Gerade das will ich entschlüsseln!“

„Seien Sie gewarnt! Besser ist es, Sie behalten mich als graue Maus im Gedächtnis. Wenn überhaupt!“

„Graue Maus? Soll ich Ihnen gestehen ... aber nein, das traue ich mich doch nicht.“

„Das ist nicht fair! Sie deuten etwas an, und dann ziehen Sie sich in Geheimnistuerei zurück! Bitte, lassen Sie es mich wissen!“

„Susanna! Ich will nichts zerstören. Ich bin jetzt schon traurig, dass wir bald von einander Abschied nehmen und uns wahrscheinlich nie wiedersehen. Sie wohnen offenbar weit weg. Zu weit!“

„Zu weit? Wozu? Jetzt hüllen Sie sich nicht ständig in Geheimnisse!“

„Also, auf Ihre Gefahr! Als Sie graue Maus zu sich sagten, zweimal jetzt schon, und Sie kleiden sich ja auch grau in grau, aber als ich Sie in der S-Bahn sah und intensiver in Ihrem Gesicht las, wie es ziemlich gewesen wäre, da habe ich mir gesagt: Mit dieser Frau würde ich jetzt am liebsten sofort durchbrennen, mich in ein Abenteuer stürzen!“

„Und warum tun Sie es nicht?“

Gregor blieb der Mund offen stehen. Hatte er richtig gehört? Fast hätte er sein Glas umgeworfen.

„Sie als Psychologe müssten es doch wissen, dass da jede Frau von träumt, es käme ein fremder Mann und würde sie mir nichts, dir nichts in ein luxuriöses Hotel abschleppen!“

Gregor hatte seine Fassung noch nicht wieder gewonnen.

„Es scheint, Sie haben da auch ziemliche Ketten um sich gelegt, wie Sie es formuliert haben. Also – worauf warten wir noch?“

„Auf die Kellnerin!“

Keine Frau, und auch keine graue Maus, würde ein Café verlassen, ohne „sich nicht noch mal frisch machen zu müssen", sprich: sich auf die Toilette zu verabschieden.

Gregor zahlte inzwischen und durchsuchte sein Handy nach der Telefonnummer des Bahnhofshotels. Dort hatte er schon häufiger Freunde untergebracht, die in aller Herrgottsfrühe mit einem ICE abreisen mussten. Ob dieses Hotel Stundenzimmer vermieten würde?

Ja, das bereite keinerlei Probleme. Allerdings müsse das Zimmer bis 18 Uhr geräumt sein, damit es wieder für Übernachtungsgäste hergerichtet werden könne.

In Gregor tobten innerliche Kämpfe. Sollte er? Sollte er nicht? Ginge nicht so etwas wie eine Romanze kaputt? Andererseits - wäre dies nicht gerade eine Romanze, die er und sicher auch die graue Susanna im ganzen Leben nie mehr vergessen würde?

"Und warum tun Sie es nicht?" hatte sie gesagt. Spontan. In ein Hotel abgeschleppt zu werden. Das war ihre Formulierung. In ein Hotel abschleppen? Nun war es greifbar. In wenigen Minuten würde Susanna wieder aufkreuzen und - so wie es geklungen hatte - würde sie ihn abschleppen. Ins Bahnhofshotel.

Aber die Minuten zogen sich dahin. Braucht eine Frau so lange, um „sich frisch zu machen", noch dazu eine Frau ohne Handtasche? Also ohne Labello, ohne Lippenstift, ohne Kamm? Allmählich kam er sich verlassen vor. Könnte ihr etwas passiert sein? Sein Katastrophenhirn produzierte Bilder einer Susanna, die sich die Pulsadern aufgeschnitten hat und auf der Toilette verblutet. Quatsch. Eiligst verwarf er die schlimmen Bilder. Vielleicht habe sie Angst vor der eigenen Courage bekommen? Begann sich zu schämen?

Endlich kam sie. Entschuldigte sich dafür, dass sie noch ein Telefonat zu erledigen hatte. Womit? Wo hätte sie ein Handy verstecken können? Eine Verlegenheitslüge? Sie würde gern einen anderen Vorschlag machen.

„Anstatt dass Sie mich in ein Hotel abschleppen, was ja eine Stange Geld kostet, würde ich Sie gern abschleppen – und zwar an den Starnberger See, vielleicht zu mir in mein bescheidenes Reich, in Ehren versteht sich. Dann könnten Sie ja an Ort und Stelle Ihre psychosozialen Studien fortsetzen.“

Gregor war ein Widder. Die lieben es nicht sonderlich, wenn einmal getroffene Entscheidungen wieder umgeworfen werden. Sie lieben es auch nicht, wenn man ihnen das Gesetz des Handelns entreißt. Zu der grauen Maus nach Haus?

„Ich dachte, jede Frau würde sich innerlich wünschen, mal von einem Kerl in ein Hotel abgeschleppt zu werden? Aber natürlich respektiere ich Ihren Rückzug. Vielleicht sollten wir das kaum begonnene Abenteuer überhaupt an dieser Stelle abbrechen?“

„Darüber wäre ich sehr traurig. Ich will ihm ja nicht zur Last fallen, aber schon unser kurzes Gespräch war so hilfreich für mich. Wie viel mehr, wenn wir noch ein, vielleicht sogar zwei Stunden in ungestörter Umgebung dazu mit einander reden könnten. Es soll ihn auch nicht reuen!“

Gregor hätte am allerliebsten Nein gesagt. Doch da war ein sublimes Signal in ihren Gesichtszügen und in der Betonung ihrer Worte. Das „gefürchtete Geheimnis“? Was verbarg sich dahinter? Seine Neugier rang mit dem Widder. Und siegte. So sagte er das Hotelzimmer wieder ab und saß alsbald mit der grauen Maus in der S-Bahn, um den Nachmittag für die rätselhafte Unbekannte zu opfern. Gar zu gern wäre er an seiner Station ausgestiegen, aber da mahnte in seine andere Widdertugend: Ein Mann – ein Wort.

Susanna machte ihn schon in der Bahn damit vertraut, dass er keinen Luxus erwarten dürfe, keine weiträumige Wohnung, sondern nur Gemütlichkeit unter schrägen Wänden. Alles andere sei in dieser Lage für sie nicht erschwinglich. Ob er ein Tee- oder Kaffeetrinker sei? Und sie habe wenig im Kühlschrank, weil sie halt allein wohne und gar nicht mit Besuch gerechnet habe. Nun aber freue sie sich. Und es sei ihr eine große Ehre.

Eine Dachkammer. Noch kleiner, als er sich das vorgestellt hatte. Leichte Unordnung. Sichtbare Not. Er würde sie später zum Essen einladen. Sie lagerten sich auf einer mit Decken verhüllten Matratze, offenbar ihrem Bett. Zwischen einer Fülle von bunten Kissen und ein paar Kuscheltieren.

„Nimmt er es mir auch wirklich nicht übel, dass ich ihn als eine Art Therapeuten missbrauche? Als einen Menschen, der mir mal ein halbe Stunde zugehört hat, ohne mich gleich mit Ratschlägen zu erschlagen?“ Gregor nickte und versuchte, es sich halb liegend, halb sitzend bequem zu machen.

„Er hat sich gewundert, dass ich ohne Handtasche unterwegs war. In der kleinen Geldbörse waren nur fünf Euro und meine Fahrkarte. Es ist nämlich so, dass ich seit dem Tod meines Mannes vor jetzt zehn Jahren erst in eine tiefe Depression, und dann in eine Sucht verfallen bin. Ich wurde kauf- und klausüchtig. Kleptomanie. Mit dem Kaufen wollte ich gegen die Depression angehen, mit dem Klauen eine Form von Rache ausüben. Ich habe schon als Kind eine flinke Hand gehabt, um es mal nett zu umschreiben. Natürlich ging vieles schief. Ich wurde mehrfach geschnappt. Mein Mann hat mir Schulden bis zum Gehtnichtmehr hinterlassen. Für die ich haften musste. Pfändungen haben mir bis auf das Wenige hier alles weggenommen. Ich musste in diese kleine Wohnung umziehen, und auch die kann ich mir kaum leisten, so lange ich ohne Arbeit bin. Mir wurden Auflagen gemacht: Wenn ich in die Stadt fahre, wo ich in einigen Kaufhäusern Hausverbot habe, soll ich keine Handtasche mitnehmen, und nie mehr als maximal zehn Euro. Natürlich könnte ich mir eine Plastiktüte geben lassen. Ich weiß auch, wo es sie umsonst gibt. In einer solchen Tüte könnte ich vieles verschwinden lassen. Aber ich stehe unter Bewährung ...

... und seit Monaten habe ich das Empfinden, dass keiner mehr mit mir sprechen will. Ich habe keine Kontakte mehr. Bin ja auch in einen anderen Ort gezogen, wo mich niemand kennt. Die Therapie habe ich abgebrochen. Ich brauche sie nicht mehr: Die Realität ist Therapie genug. Aber das ist kein Leben. Ich hätte heute auch zum Arabella-Haus fahren können, um mich da hinunter zu stürzen. Wissen Sie, Gregor ....

Susanna beugte sich zu ihm rüber, begann zu schluchzen. Tränen rannen ihr beide Wangen herab. Er reichte ihr ein Taschentuch.

„Wissen Sie, Gregor, was das bedeutet, wenn einen dann ein wildfremder Mann zu Kaffee und Kuchen und dann noch zu einem Prosecco einlädt? Und eine alte Frau wie mich auch noch zu einem Techtelmechtel in einem Hotel abschleppen will? Das ist wie ein Sonnenstrahl, der nach langen Monaten durch tiefgraue Regenwolken bricht!“

„Aber das mit dem Techtelmechtel wollten Sie ja wohl doch nicht wirklich? Obwohl Sie mich mit Ihrer Spontaneität völlig überrascht hatten. Mit allem, einschließlich eines Backenstreiches, hätte ich gerechnet, aber nicht mit einem ‚Worauf-warten-wir-noch?’“

„Ach, ihr Männer, was wisst ihr schon von Frauen?“

Gregor versuchte, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. Er betrachtete die zahlreichen Fotos, die die wenigen senkrechten Wände fast zur Gänze ausfüllten. Sehr ästhetische, aber auch solche, in denen Ästhetik mit Erotik eine wunderbare Symbiose eingegangen war. Indes – Susanna kam ihm mit ihrer Erklärung zuvor.

„Sie müssen wissen, mein Mann war ein hervorragender Fotograf und später auch Maler. Wir hatten ein phantastisches Atelier. Er hat für viele Zeitschriften gearbeitet, auch für den ‚Playboy’ und solche Magazine. Wir hatten ein offenes Haus. Herrliche Menschen, schöne Frauen gingen bei uns ein und aus. Das war eine traumhafte Zeit. Aber dann ....“

„Wollen Sie drüber sprechen?“

„Da gibt es nicht viel zu sagen. Von einem zum anderen Tag war er tot. Es gab nicht einmal eine Minute für den Abschied. Die Obduktion ergab, dass er innerlich von Krebs zerfressen war. Er muss lange schon gelitten haben. Aber er hat es uns allen verheimlicht. Hat immer gestrahlt wie eine Sonne. Er wollte sein Leben bis zur letzten Sekunde ohne Einschränkungen leben, ohne Ärzte, ohne Maschinen, ohne Schläuche. Den Schmerz muss er durch die Lust am Schönen, vor allem auch an schönen Frauen verdrängt haben. Wir hatten uns ja auch dadurch kennengelernt, dass ich sein Modell war.“

Susanna griff hinter sich auf ein mickriges Bücherregal mit ein paar schmalen Bänden. Zog einen heraus und reichte ihn ihrem Gast, nicht ohne ihm mit einem Lächeln in die Augen zu schauen.

„Das bin ich. Oder sagen wir mal: Das war ich! Adrian hasste Posen. Er konnte richtig wütend werden, wenn er Akte in sterilen oder gar geilen Posen dargestellt sah. Ihm kam es auf den lebendigen Augenblick an. Auf die Anmut des Zufalls, auf die Anmut des Alltäglichen. Da war er der Jäger. Hier zum Beispiel, das war eines seiner Lieblingsfotos von mir ....“

Sie blätterte. Gregor fühlte eine gewisse Scheu, obwohl er gar zu gern den Band gierig von Seite zu Seite durchblättert hätte. Denn Gregor war, das wusste er, durch und durch Voyeur. Schlüsselloch- oder Türspalt-Erotik, die machte ihn an. Und das, was er hier zu sehen bekam, dargeboten vom Modell, das eigentlich gar kein Modell war, sondern überraschte Nymphe, entsprach so ganz seinen Phantasien: Susanna, wie sie ihre Brüste in ihren BH bettet. Susanna, wie sie in ihren Slip steigt. Susanna beim Abtrocknen nach dem Duschen.

„Gefällt es Ihnen?“ Der Frau blieben seine leuchtenden Augen nicht verborgen. „Sie dürfen es gern behalten! Ich habe noch einige Exemplare, die mir noch verblieben sind. Sie können auch eine Videokassette mitnehmen. Ich habe ja kein Gerät mehr zum Abspielen. Und schauen Sie hier, diese Alben! Oder die große Mappe!“

Gregor zappelte längst im Netz dieser schönen Spinne. Denn diese Fotos, auch Aktfotos von anderen Mädchen und Frauen, die konnten ihn nicht kalt lassen. Und er wusste, unter diesem grauen Pullover und dem groben Rock verbarg sich auch heute noch eine verführerische Schönheit.

„Wir führten eine sehr lebens- und liebeslustige Ehe, manchmal auch zu dritt oder so. Das blieb doch nicht aus. Die Szenen im Atelier gingen manchmal ohne Übergang im Schlafzimmer weiter, das heißt, wie hatten eigentlich nie ein richtiges Schlafzimmer. Schlafzimmer war überall und nirgends. Aber dann – war alles ganz plötzlich vorbei. Ich stand da mit der riesigen Wohnung, mit dem Atelier, mit der ganzen Technik – und mit dem Erb- und Finanzkram. Um unsere Finanzen hatte ich mich nie gekümmert – und Adrian auch zu wenig. Wir hatten Schulden, bergeweise. Er konnte offenbar nicht mit Geld umgehen. Alles Materielle war ihm ein Greuel. Liebe, Leben, Kreativität, alles Schöne auf Erden – das war Adrian. Dann brach alles über mir zusammen. Natürlich haben die Banken und Ämter meine Unwissenheit, meine Unsicherheit schmählich ausgenutzt. Ich bin mit Sicherheit von allen über den Tisch gezogen worden. Auf einmal war alles weg. Der Boden war mir unter den Füßen weggezogen worden. Zuerst begann ich zu trinken. Es war ja immer noch was da. Das ist mir – gottlob – gar nicht gut bekommen. Rauchen auch nicht. Aber irgendeine diffuse Sucht. Sucht kommt ja von Sehnsucht. Von unerfüllter Sehnsucht! Den Rest kennst du .... oh, verzeih’, jetzt habe ich Du zu Ihnen gesagt!“

 

„Ist schon gut so, Susanna, wie du das willst oder Sie das wollen .... einfach so. Wie es dir hilft.“

„Es klingt paradox: Als dann alles schief ging, das Shoppen und Schuldenmachen, das Klauen, die Pfändungen, der totale Zusammenbruch, da war ich froh, hier mein ganz kleines Reich, diese Bude hier, eine ehemalige Dienstbotenwohnung noch für mich zu haben. Mein Rettungsboot, dachte ich mir. Nur - diese furchtbare Einsamkeit! Wohin soll ich denn mein Rettungsboot lenken? Wo wäre denn ein schützender Hafen oder eine einladende Bucht?“

Susanna ging in einen Raum, der Küche und Badezimmer in einem sein musste, um einen Tee aufzugießen.

„Es hat alles keinen Sinn mehr. Ich lebe vom Arbeitslosengeld Zwo, 345 Euro plus Wohnkosten. Alles, was ich zusätzlich verdienen würde, würde mir abgezogen. Eine neue Stelle in meinen alten Berufen als Diätassistentin und Krankengymnastin bekomme ich nicht, sobald die Leute sehen, dass mein Gehalt zum großen Teil gepfändet wird. Nirgendwo ein Ausweg. Aber heute ist mein Glückstag. Heute habe ich dich kennengelernt. Du hast mich eingeladen. Du hörst mir zu. Du kommst als allererster Gast zu mir unters Dach. Du legst deinen Arm um mich. Du begehrst mich sogar – holla!“

In dieser Küche gab es nur einen einzigen, von Wasserflecken gezeichneten Holzstuhl. Und einen schmalen erbärmlichen Tisch, auf dem jetzt Susanna den Tee kredenzte. Sie drängte ihn, auf dem Stuhl Platz zu nehmen – und er nahm sie auf den Schoß. Mit Kräutertee tranken sie auf das „Du“.

Wie hält man eine Frau auf dem Schoß fest? Er umklammerte sie. Dabei rutschte ihr Pulli ein wenig nach oben. Sie verwehrte ihm das nicht. Nicht seine wärmenden Hände. Seine unruhigen Hände. Haut an Haut. Im Schummerlicht unter dem schrägen Dachfenster.

„Gregor, ich muss dir was gestehen. Aber ich schwöre dir, wenn ich dich auch nicht festhalten kann, vielleicht darf ich dich ja mal wiedersehen. Ich schwöre dir, es war wirklich das allerletzte Mal!“ Damit zog sie den Pulli über ihren Kopf. Darunter trug sie nur einen schwarzen Büstenhalter mit dunkelweinroter Spitze.

„Ich habe ihn heute morgen geklaut. Einfach so. Bin in die Kabine gegangen. Heute morgen, so wie du mich in der Bahn angesehen hattest, hast du es vermutlich bemerkt, hatte ich gar nichts drunter. Habe ein paar anprobiert, aber nicht alle zurückgebracht. Ohne Handtasche kommt kein Verdacht auf. Das Preisschild habe ich abgemacht und ins Portemonnaie gesteckt. Da siehst du mal, dass du dich mit einer Kriminellen eingelassen hast. Käme es raus, säße ich im Knast.“

Dabei öffnete sie die kleinen Knöpfchen vom Frontverschluss und ließ den BH herabrutschen.

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